Ach, Amerika!
Welch ein Krimi, die Wahl des 43. Präsidenten der Vereinigten Staaten! Doch am Ende, nach aufregenden Wochen und einer kaum überschaubaren Zahl von Gerichtsterminen, steht ein Sieger fest. George W. Bush wird das mächtigste politische Amt der Welt übernehmen. Das Weiße Haus wird nach dem Auszug der Clintons nicht verwaisen.
Wir Europäer schauten sportlich zu, wie die Kontrahenten ihr Ringen um die Macht nach dem Urnengang in diverse Gerichtssäle des Sonnenscheinstaates Florida verlegten. Schließlich sprach der Supreme Court ein Schlußwort.
Dank einer intensiven Berichterstattung aus der neuen Welt waren wir auch diesseits des Atlantiks immer nah am Geschehen. Eines fiel auf: In vielen Berichten war eine gewisse Häme und Schadenfreude über die mißliche Lage, in die sich die Amerikaner gebracht hatten, zu spüren. Unausgesprochen, aber vernehmbar, schien die Botschaft durch: Sie können′s nicht, die Amis! Selbsternannte Lehrmeister der Welt in Sachen Demokratie, aber nicht in der Lage einen Präsidenten vernünftig zu wählen!
Alle Schwächen des US-Wahlsystems - von amerikanischen Wahlbeobachtern in Wissenschaft und Politik keineswegs bestritten - wurden genüßlich aufgezählt: vom suspekten "Wahlmänner"-System bis zur Tatsache, daß die ersten Hochrechnungen der Ostküstenergebnisse bereits in Kalifornien über die Bildschirme flimmern, wenn die Wähler dort noch ihre Stimme abgeben können. Und jeder Tag brachte neue Mutmaßungen, daß die Vereinigten Staaten in eine Verfassungskrise schlittern würden, gar im neuen Jahr ohne Präsident sein könnten. Die Weltmacht am Rande des Abgrunds?
Sicher hat die Wahl Eigenheiten des US-Systems in den Blickpunkt gerückt, die aus deutscher Sicht merkwürdig und wenig zweckmäßig erscheinen. Aber die Wahl mit ihren Nachwehen hat jenseits tagesaktueller Aufgeregtheiten eine weithin unbeachtete Erkenntnis über die USA und ihr politisches System vermittelt: Die Supermacht stand nicht am Abgrund, nicht vor dem GAU ihrer Demokratie. Im Gegenteil: Das Land, sein politisches System hat - bei allen Schwächen - funktioniert!
Fünf Wochen war das Land in einem Schwebezustand. Der alte Präsident auf Abschiedstournee, doch keine Klarheit, wer im Januar neuer Hausherr an der Pennsylvania Avenue sein würde. Und was passierte in dieser unangenehmen Situation? Erfreulich wenig. Die Anwälte der Kontrahenten stritten um den Wahlsieg, ein paar Rentner demonstrierten vor verschiedenen Gerichten für ihren Kandidaten - laut, aber nirgends wirklich aggressiv oder gewalttätig. Bei jedem Spiel der deutschen Fußballregionalliga werden vermutlich mehr Emotionen freigesetzt. Und sonst? Von Krise keine Spur. Aufregung an der Börse? Fehlanzeige. Hunderttausende Demonstranten auf den Straßen? Fehlanzeige. Der noch amtierende Präsident strahlte zuversichtlich in die Kamera und ging seinem Tagesgeschäft nach: Haushaltsverhandlungen mit dem Kongreß, ein Ausflug nach Nebraska, dem einzigen der fünfzig Bundesstaaten, den er während seiner Amtszeit noch nicht besucht hatte. Als der neue Präsident endlich feststand, sprach Jesse Jackson einige drohende Worte in Kameras und Mikrophone, aber ein Marsch enttäuschter Gore-Anhänger auf die Hauptstadt blieb aus.
Es braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, was in anderen Ländern dieser Erde in solch einer Situation passiert wäre. Anderenorts werden aus weit weniger bedeutsamen Anlässen als einer umstrittenen Präsidentenwahl Bürgerkriege geführt, Generalstreiks ausgerufen, Panik geschürt. Nichts davon in den USA. Kein schlechter Indikator für das Vertrauen der Menschen in ihr politisches System.
Vielleicht ist es trotzdem schlecht und voller Unzulänglichkeiten? In manchem Korrespondentenbericht und Leitartikel klang durch, in Europa sei alles besser. Sicher, die Wahlmänner erscheinen merkwürdig und aus deutscher Sicht zur Bestimmung des Wahlsiegers entbehrlich. Doch ist das Wahlsystem in Baden-Württemberg so viel einfacher und logischer?
Auch in Deutschland hat schon einmal ein Gericht einen kompletten Urnengang für ungültig erklärt, die Hamburger Bürgerschaftswahl von 1991, die zwei Jahre später wiederholt werden mußte. Und der Fall, daß eine Regierung über die Mehrheit der Mandate, nicht aber der Stimmen verfügt, ist in Deutschland nicht ohne Beispiel. Bei der Wahl zum 9. schleswig-holsteinischen Landtag 1979 erhielt die CDU 48,3 Prozent der Stimmen, die im Parlament vertretenen Oppositionsparteien SPD, FDP und SSW kamen zusammen auf 48,8 Prozent. Doch bei den Mandaten hatte die Union die Nase vorn, stellte 37 Abgeordnete gegenüber 36 Volksvertretern der drei Oppositionsfraktionen. Und wie gelassen würden es die Deutschen hinnehmen, wenn nach der nächsten Bundestagswahl die Regierungsmehrheit von wenigen hundert Stimmen irgendwo in der Republik abhinge?
Es bleibt der Verdacht, so mancher Kommentator war den Wahlmaschinen von Palm Beach ganz dankbar, bestätigten sie doch nach langer Durststrecke endlich wieder das Unbehagen an der befreundeten Supermacht: Amerika war immer irgendwie suspekt. Kulturell oberflächlich, unsozial, Weltpolizist - und nun, trotz Raketenabwehrplänen für das All, nicht mal in der Lage Stimmzettel auszuzählen. Die Woche nutzte das Drama um Lochkarten und Überseestimmen, um schwere Geschütze aufzufahren: "Wie demokratisch ist Amerika?", fragte die Wochenzeitung. Die Antwort, wenige Zeilen später: "Die arrogante Supermacht, seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums unangefochten die Nummer eins in der Welt, ist von ihren eigenen Bürgern auf den Boden der Wirklichkeit zurückgeholt worden. Nach den peinlichen Mängeln dieser Wahlen sollte sie nun sich selbst ein paar Nachhilfestunden in Demokratie verschreiben." So!
Nein, die Vereinigten Staaten brauchen keine Nachhilfe. Aus gutem Grund genießt das Verfahren zur Besetzung des höchsten Staatsamtes immer noch Vertrauen, denn mag das System mit seinen Wahlmännern auch antiquiert erscheinen, so ist gerade dies Ausdruck der bemerkenswerten verfassungsrechtlichen Kontinuität der USA seit mehr als zwei Jahrhunderten. Aus dieser Kontinuität speist sich die Legitimität eines Wahlsystems, das Amerika über einen beispiellos langen Zeitraum eine demokratische Ordnung gesichert und das Land zuverlässig vor Demagogen, Unfreiheit und autoritären Herrschern bewahrt hat. Immerhin hat das politische System weit größere Krisen überstanden als das Drama um die aktuelle Präsidentenwahl: Die Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre, der Vietnam-Krieg und Watergate sind Beispiele.
Jenseits des Atlantiks ist einiges anders. Aber in Deutschland ist auch einiges anders als in Frankreich; oder als in Italien; oder als in Skandinavien. Eine ideale demokratische Ordnung mag es in politikwissenschaftlichen Lehrbüchern geben, in der Realität unterscheiden sich die Demokratien des Westen aufgrund spezifischer Historie und gewachsenen politischen Traditionen und Kulturen voneinander in der Umsetzung der in ihrem Kern gleichen Grundwerte. Mancher politische Mechanismus mag in Amerika anders funktionieren, er produziert aber mit seinem Verfahren nicht weniger demokratisch Legitimation als unsere zweite deutsche Republik.