Was der Nationalstaat kann und (wieder) soll
Sieben Jahre rot-grüner Regierungsverantwortung sind am 18. September zu Ende gegangen. In dieser Konstellation können wir nicht weiterregieren. Rot-Grün hat das Land verändert, hat – unter Schmerzen, die letztlich zu vorgezogenen Neuwahlen führten – die Reform der sozialen Sicherungssysteme in Angriff genommen. Und diese Koalition hat, auch wenn die Union im Wahlkampf einen anderen Eindruck zu vermitteln suchte, als ein Kernelement ihrer Wirtschaftspolitik die Steuerlast von Unternehmern und Arbeitnehmern deutlich gesenkt. Diese Politik war mit konkreten Erwartungen verbunden: Wenn die Wirtschaft bessere Rahmenbedingungen vorfindet, wenn Steuern gesenkt und die Regelwerke des Staates wirtschaftsfreundlicher werden, dann setzt das Wachstumskräfte frei – und es kommt zu Neueinstellungen. So die Hoffnung. Mehr Beschäftigung und niedrigere Steuersätze für Arbeitnehmer würden sodann die erlahmte Kauflust wecken, der Binnenkonjunktur endlich Auftrieb verleihen.
Dieser Weg bedeutete einen Abschied vom sozialdemokratischen Anspruch, die Wirtschaft durch staatliche Regulierung in Richtung Gemeinwohl zu steuern. Irgendwann in den vergangenen fünfzehn Jahren begannen auch Sozialdemokraten, den Staat zunehmend für antiquiert, bewegungsfeindlich, konservativ und unmodern zu halten, für ein bürokratisches Monster, das nicht mehr in die neue Zeit passt. Staat und Politik sollten sich besser aus der Ökonomie heraushalten – und der Boom der New Economy schien für einen kurzen Augenblick zu bestätigen, was Marktliberale schon immer predigten: Möglichst wenig Regeln, möglichst wenig Staat, möglichst viel Markt – nur so sei im 21. Jahrhundert noch Wohlstand möglich.
Deshalb wurden Steuersätze und Sozialversicherungsbeiträge seit 1998 gesenkt wie niemals zuvor, immer in der Erwartung, mit der nächsten Entlastungsrunde werde endlich die Konjunktur zu neuen Höhenflügen ansetzen. Deregulierung, Privatisierung, Flexibilisierung wurden zu Leitbegriffen. Die Wirtschaft bestärkte die Regierenden: Sinke nur die drückende Steuerlast, falle nur der Kündigungsschutz, würden nur die Macht der Gewerkschaften gebrochen und die lästige Mitbestimmung gestutzt, dann – und nur dann – hätten die Unternehmer wieder die nötige „Luft zum Atmen“, dann werde es in dieser „verkrusteten“ und „überregulierten“ Republik wieder aufwärts gehen. Und so wurde das rot-grüne Bemühen, die „Rahmenbedingungen“ für das Wirtschaften weiter zu verbessern, stets freundlich gelobt – aber am Ende hieß es immer: Ja, die Richtung stimmt, aber die Maßnahmen gehen doch nicht weit genug.
Weder Arbeitsplätze noch Konjunktur
Sieben Jahre später, am Ende von Rot-Grün und am Beginn von etwas Neuem, ist Zeit für etwas kritischen Empirismus: Hat diese Politik der indirekten Steuerung der Wirtschaft funktioniert? Die Bilanz ist ernüchternd: Unsere Wirtschaft ist wettbewerbsfähig wie nie zuvor („Exportweltmeister“), ein Großteil der Unternehmen macht gute Gewinne, die Aktienkurse sind in den vergangenen Monaten wieder spürbar gestiegen (die Managergehälter noch deutlicher) – doch für den Arbeitsmarkt blieb das alles ohne große Wirkung. Die Steuersenkungen haben weder zu Neueinstellungen geführt noch zu einer Konjunkturbelebung durch zusätzlichen privaten Konsum. Dabei war diese Politik nicht billig. Ein Teil unserer Haushaltsprobleme hat hier ihre Ursache. Mit der fünften und letzten Stufe der Steuersatzsenkung 2005 verzichten Bund, Länder und Kommunen auf jährlich fast 60 Milliarden Euro. 60 Milliarden weniger, als Bürger und Unternehmen nach den Steuersätzen von 1998, dem letzten Jahr unter Kanzler Kohl, zu zahlen gehabt hätten.
Ein Hoch auf den totalen Sündenfall!
Diese Strategie, über eine indirekte Steuerung politische Ziele zu erreichen, war mühsam und teuer – und, gemessen an den Erwartungen, erfolglos. Andere Faktoren sind offenbar stärker: Konjunkturverläufe und Zinsniveaus in Übersee, Schwankungen des Aktienmarktes und des Ölpreises, Terror, Kriegsgefahr, Naturkatastrophen. Nationale Steuersätze (gleich welcher Höhe), nationale Regelwerke, sind für die globale Ökonomie nur noch eine Größe unter vielen – und kaum noch die entscheidende. Multinationale Konzerne denken nicht mehr in nationalstaatlichen Kategorien. Mittel, die in Deutschland dank niedriger Steuersätze frei werden, werden nicht zwangsläufig hierzulande wieder investiert. Was sich Karl Schiller, sozialdemokratischer Wirtschaftsminister von 1966 bis 1972, als „Globalsteuerung“ der Wirtschaft vorstellte (etwa durch aktive Zins- und Steuerpolitik), funktioniert unter den Bedingungen der Globalisierung immer weniger. Wer jetzt noch, wie Union und FDP im Wahlkampf, weitere Steuersenkungen und einen weiteren Rückzug des Staates fordert, verabschiedet sich vom Gemeinwohl.
Ist damit das Kapitel „Wirtschaftspolitik“ abgeschlossen? Keineswegs. Denn was funktionieren kann, ist das, was die freie Wirtschaft am meisten fürchtet und am aggressivsten bekämpft: der direkte Eingriff, die Staatsintervention. Für liberale Ordnungspolitiker aller politischen Lager ist das der totale Sündenfall. In der Realität aber wurde die einzelbetriebliche Intervention mit mehr oder weniger schlechtem Gewissen immer wieder geübt, von Bundes- wie von Landesregierungen. Die Politik kann sich nicht damit begnügen, die Dinge einfach treiben zu lassen, Entwicklungen nur taten- und mutlos zuzusehen. Die Verhältnisse aktiv zu gestalten, das ist die Aufgabe von Politik, das dürfen Menschen erwarten. Deshalb: Parteien, Parlament und Regierung besitzen im Gegensatz zur Wirtschaft eine demokratische Legitimation, sie dürfen sich einmischen.
Die Trennlinie zwischen jenen, die, dem liberalen Zeitgeist folgend, auf die unregulierten Kräfte des Marktes vertrauen und jenen, die die Notwendigkeit einer aktiven Rolle des Staates in der Wirtschaft sehen, verläuft mitten durch die Parteien – mit Ausnahme vielleicht der FDP. Und mitten durch die bürgerliche Presse. Christoph B. Schiltz schreibt in der Welt vom 14. April 2005: „Nicht der Staat muss in einer sozialen Marktwirtschaft gestalten, sondern der Unternehmer muss das tun ... Der Markt ist stärker als der Staat.“ Dem hält am selben Tag in der Frankfurter Allgemeinen Heike Göbel entgegen: „Die Wirtschaft braucht den Staat so wie der Staat die Wirtschaft. Ohne staatliche Eigentumsgarantien und eine verlässliche Rechtsprechung kann der Markt nicht funktionieren. Kein ehrlicher Unternehmer stellt den Primat des Staates in Frage.“
Auch Ole von Beust tut es
Und während die Repräsentanten der „Neuen CDU“ mehr Markt und weniger Staat predigen, sind die revolutionären Reden aus Berlin bald vergessen, wenn christdemokratische Ministerpräsidenten landespolitische Interessen in Gefahr sehen. Dann machen auch schwarze Länderfürsten staatliche Industriepolitik. So beteiligte sich der Hamburger Senat unter Bürgermeister Ole von Beust vor zwei Jahren mit zehn Prozent am Traditionsunternehmen Beiersdorf, um den Verkauf ins Ausland zu verhindern und die Firmenzentrale sowie 3.200 Arbeitsplätze in der Stadt zu halten. „Ein guter Tag für Hamburg“, jubelte CDU-Wirtschaftssenator Gunnar Uldall über die direkte Industriebeteiligung seines Landes an einem börsennotierten Unternehmen. Und in der Welt war zu lesen: „Alle betonten, die Beteiligung der Stadt ... mit rund 1,1 Milliarden Euro sei ordnungspolitisch richtig. Selbst wenn Hamburg seinen Aktienanteil nicht verkaufen könnte, wären die Gewerbesteuer-Ausfälle bei einem Weggang des Unternehmens weitaus höher.“ Wäre dem Allgemeinwohl besser gedient, wenn der Staat – aus marktradikaler Sicht ideologisch korrekt – tatenlos zugesehen hätte, wie ein alteingesessenes Unternehmen von ausländischen Investoren übernommen und in seine Einzelteile zerlegt wird?
Die Verfassung hatte der CDU-Senat der alten Kaufmannsstadt ohnehin auf seiner Seite. Dort heißt es in der Präambel: „Durch Förderung und Lenkung befähigt sie [die Freie und Hansestadt Hamburg] ihre Wirtschaft ... zur Deckung des wirtschaftlichen Bedarfs aller. Auch Freiheit des Wettbewerbs und genossenschaftliche Selbsthilfe sollen diesem Ziele dienen.“
Von Gerhard Schröder zu Christian Wulff
Die Beispiele ließen sich fortsetzen: Während der jüngsten VW-Krise bekannte sich der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff in der Berliner Zeitung nachdrücklich zur Rolle des Staates: „Ich stehe zur Landesbeteiligung an Volkswagen. ... Gerade in den schwierigen Zeiten, in denen sich die Automobilindustrie befindet, ist das Land Niedersachsen mit seiner Beteiligung von 18,6 Prozent ein ruhender Pol. Das braucht VW, um sich neu orientieren zu können.“ Niedersächsische Industriepolitik mit Tradition, parteiübergreifend: Schon Gerhard Schröder, damals noch Ministerpräsident, kaufte vor der Landtagswahl 1998 mal eben ein heimisches Stahlwerk, das der Mutterkonzern stilllegen wollte, rettete damit die Arbeitsplätze, und verkaufte es wenig später mit Gewinn für die Landeskasse an einen anderen Konzern, der es dann weiterführte.
Die legitimen Interessen der Allgemeinheit
Aber auch die Bundesregierung hat Erfahrungen mit einer Politik der direkten Intervention gesammelt. So hat sie aktiv daran mitgewirkt, für die Kieler Werft HDW (Schwerpunkt: Marineschiffbau) einen neuen und verlässlichen Mutterkonzern zu finden, nachdem dort ein Finanzinvestor aus der neuen Welt fast über Nacht eingestiegen war – und wenig später wieder aussteigen wollte. Das Bemühen der Politik war erfolgreich: Aus HDW und den ThyssenKrupp-Werften entstand ein starker deutscher Werftenverbund, Know-how und hoch qualifizierte Arbeitsplätze bleiben im Land. Dies war nicht nur im Interesse des Staates, sondern auch im Sinne der Belegschaften – und ein wesentlicher Beitrag zur Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Werft.
Um ähnliche Fälle künftig zu verhindern, beschlossen Bundestag und Bundesrat 2004 eine Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes. Seither besteht eine Meldepflicht, wenn sich ausländisches Kapital an einem inländischen wehrtechnischen Unternehmen beteiligen möchte. Die Bundesregierung kann, wenn sie wesentliche Sicherheitsinteressen berührt sieht, den Einstieg des Investors verbieten. Es gibt Interessen der Allgemeinheit, die ein gänzlich freier Markt nicht zu berücksichtigen in der Lage ist. Deshalb ist es legitim, dass der Staat Einfluss nimmt.
Beispiele für eine erfolgreiche, aktive Industriepolitik, in deren Mittelpunkt die gezielte Förderung und auch ein gewisser Schutz inländischer Unternehmen stehen, finden sich auch bei unseren Nachbarn, vor allem in Frankreich. Das Land ist trotzdem kein zweites Kuba und sogar für ausländische Direktinvestitionen interessant – mit Protektionismus sollte man diesen Kurs nicht verwechseln. Selbst das Handelsblatt verheimlicht im Frühjahr 2004 kaum seine Bewunderung für diese Politik. Nach dem pflichtschuldigen Hinweis des stellvertretenden Chefredakteurs, dass er natürlich nicht einer national motivierten Industriepolitik das Wort reden wolle, stellt er doch fest: „Die ernüchternde Erkenntnis ... ist, dass Paris seine nationale Industriepolitik hart und erfolgreich durchsetzt, während die Bundesregierung in der Hoffnung auf eine marktwirtschaftliche Industriepolitik im europäischen Maßstab in Handlungsunfähigkeit erstarrt.“
Und überhaupt: Die Geschichte seit Beginn der Industrialisierung zeigt, dass keine wesentliche Innovation, von der Eisenbahn über Elektrifizierung, Telefonie, Stahlindustrie, Schiffbau, Luft- und Raumfahrt bis zu Silizium- und Biotechnologie sowie der Solartechnik ohne staatliche Forschungsförderung, Rahmensetzung, Infrastrukturinvestition oder einfach staatliche Nachfrage durchgesetzt worden ist. All diese neuen Techniken hätten sich kaum ohne die Schützenhilfe des Staates, nur nach den Regeln des Marktes, so schnell etablieren können.
Die schädliche Utopie des totalen Marktes
Dies alles sind Interventionen eines selbstbewussten Staates, der sich seine Handlungsfreiheit nicht von Kapitalinteressen beschränken lässt – und in den meisten Fällen in Kooperation mit der Wirtschaft agiert hat, nicht gegen sie. Gegenseitige Abhängigkeit, Verflechtung, Zusammenarbeit und Interdependenz sind nicht das Problem, sondern die Lösung. Eine künstliche Trennung von Markt und Staat entspräche auch nicht der Lebenswirklichkeit, zumal nicht in Deutschland mit seiner Tradition des „rheinischen Kapitalismus“, der vor einigen Jahren schon vorschnell beerdigt werden sollte.
Die Anhänger der Marktfreiheitsideologie begehen den gleichen Fehler, den sie den Sozialisten immer vorgeworfen haben: Sie geben sich einer Utopie hin. Der freie Markt ist ihr weit über die Grenzen der Rationalität hinaus erhöhtes Ideal. Die Ansicht, dass ein starker Staat notwendig sei, um überhaupt erst die Bedingungen für die Entfaltung und die Sicherung der individuellen Freiheit zu schaffen, ist übrigens ziemlich liberal. Nur heutzutage eben nicht FDP-liberal.
Für die europäische Globalsteuerung
Und was bleibt von der Globalsteuerung? Wenn es richtig ist, dass sie auf der Ebene des Nationalstaates nur noch unzureichend funktioniert, dann kann die Lösung nur sein, es auf der nächst höheren Ebene zu versuchen: in Europa. Das ist nicht einfach, die 25 Mitgliedsstaaten haben vielfach divergierende Interessen, manche der neu Hinzugekommenen wollen zunächst eigenen Wohlstand schaffen, gelegentlich auch auf Kosten der alten Mitgliedsstaaten. Aber auch für Europa gilt: Politisches Handeln ist aktives Gestalten. Die vor zwei Jahren beschlossene und in diesem Sommer in Kraft getretene europaweit einheitliche Regelung von Zinskontrollen zur besseren Bekämpfung der Steuerflucht zeigt, dass es möglich ist, auf EU-Ebene zu gemeinsamen Standards zu kommen. Bei aller Kritik an der EU-Zinsrichtlinie (es gibt eine Reihe von Ausnahmeregeln, nicht alle EU-Staaten sind dabei): Das ist der Weg, den wir in Europa gehen sollten, auch wenn er mühsamer und lang ist.
Direktintervention, Kooperation und Interdependenz im Inland, das zähe Ringen um gemeinsame Standards jenseits der Grenzen – das könnten Eckpunkte einer sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik jenseits marktradikaler Heilslehren sein. Ein solcher Weg, und nicht die seit 1998 in drei Anläufen gescheiterte Ideologie von Schwarz-Gelb, wäre ein Beitrag zur Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft.