Geschichten aus dem alten Berlin

Das Programm der deutschen Sozialdemokratie stammt aus einer versunkenen Ära. Mit ein paar Veränderungen am Text wird sich dieses Defizit nicht mehr kurieren lassen, wie die folgende kommentierte Anthologie demonstriert

Dass das Berliner Programm der SPD eine vergangene Welt beschreibt, ist schon verschiedentlich festgestellt worden. Es ist das Schlussdokument der westdeutschen Sozialdemokratie. Auf allzu viele Herausforderungen und Entwicklungen der Gegenwart, die uns heute bewegen, gibt das noch gültige Grundsatzprogramm keine Antwort. Die Globalisierung mit ihren Auswirkungen auf Arbeitsmarkt und Sozialsysteme hierzulande, die europäische Entwicklung einschließlich der Perspektiven, die sich im sicherheitspolitischen Bereich abzeichnen, der demografische Wandel - das sind soziale und politische Entwicklungen, die im Berliner Programm von 1989 nicht oder nur in Ansätzen vorkommen.

Der Anschluss sozialdemokratischer Grundsatzprogrammatik an die Wirklichkeit wird also nicht darin bestehen können, am vorhandenen Text ein paar Änderungen vorzunehmen. Denn auch als "Diskussionsgrundlage" taugt das Berliner Programm kaum. Einige Auszüge mögen dies, kritisch kommentiert, verdeutlichen:

"Die Gefahr, dass die Menschheit sich durch atomare, chemische oder biologische Massenvernichtungsmittel auslöscht, ist nicht gebannt. Aber der Widerstand gegen den Rüstungswahn wird stärker. Abrüstung ist in greifbare Nähe gerückt. Das Freund-Feind-Denken schwindet."

Rüstungswahn und Freund-Feind-Denken aus den Zeiten der bipolaren Weltordnung sind Geschichte. Militärisch bedrohen wir uns zwischen Atlantik und Ural schon seit über einem Jahrzehnt nicht mehr gegenseitig. Lag der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bundeshaushalt 1988 noch bei 20 Prozent, sind es heute weniger als zehn Prozent. Die Differenz darf man getrost als "Friedensdividende" verbuchen.

"Die Menschheit kann nur noch gemeinsam überleben oder untergehen. Diese historisch beispiellosen Alternativen verlangen ein neues Herangehen an die internationalen Angelegenheiten, besonders an die Sicherung des Friedens. Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein; dies gilt erst recht im Zeitalter atomarer, chemischer oder biologischer Massenvernichtungsmittel."

Nach dem Ende des Kalten Krieges hat sich das Verhältnis der Sozialdemokratie zum Einsatz militärischer Mittel, auch jenseits des Nato-Gebiets, out of area, gewandelt. Militärische Interventionen werden von der SPD unter bestimmten Bedingungen als legitim und geboten erachtet, vorgeschlagen und beschlossen. Militär ist damit ein Mittel der Außenpolitik - und zwar nicht nur als ultima-ratio-Instrument für den äußersten Fall des Verteidigungskrieges, sondern auch in vielen humanitären, logistischen, robust-polizeilichen und Vertrauen schaffenden Missionen im Ausland. Deshalb beteiligt sich Deutschland unter sozialdemokratischer Kanzlerschaft mit der Bundeswehr zum Beispiel an der Stabilisierung des Balkans und Afghanistans. Über 100.000 Soldaten waren seit 1998 schon im Einsatz.

"Friedenspolitik muss ... Rüstungsproduktion in die Produktion ziviler Güter überführen."

Sozialdemokratische Friedenspolitik der Gegenwart hat nicht zum Ziel, die wehrtechnische Industrie abzuschaffen. Nachdem die deutsche Rüstungsindustrie seit dem Ende des Kalten Krieges stark geschrumpft ist (Personalabbau um mehr als zwei Drittel), ist der Erhalt industrieller Fähigkeiten auch auf dem Gebiet der Rüstung heute sozialdemokratische Politik. Diesen Zweck verfolgt zum Beispiel auch die jüngst im Bundestag verabschiedete Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes, die den Erwerb deutscher wehrtechnischer Unternehmen durch ausländische Investoren unter einen staatlichen Vorbehalt stellt.

"Wir wollen das System der militärischen Abschreckung überwinden und blockübergreifend Sicherheit organisieren."

Was wir damals forderten, hat sich in den neunziger Jahren glücklicherweise (und sehr umfassend) erfüllt. Sich feindlich gegenüberstehende Militärblöcke gibt es nicht mehr. Die heutigen Bedrohungen unserer Sicherheit sind andere (Proliferation, islamistischer Terrorismus).

"Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen. Bis dahin findet die Bundesrepublik Deutschland das ihr erreichbare Maß an Sicherheit im Atlantischen Bündnis, vorausgesetzt, sie kann ihre eigenen Sicherheitsinteressen dort einbringen und durchsetzen, auch ihr Interesse an gemeinsamer Sicherheit. Der Umbruch in Osteuropa verringert die militärische und erhöht die politische Bedeutung der Bündnisse und weist ihnen eine neue Funktion zu: Sie müssen, bei Wahrung der Stabilität, ihre Auflösung und den Übergang zu einer europäischen Friedensordnung organisieren. Dies eröffnet auch die Perspektive für das Ende der Stationierung amerikanischer und sow- jetischer Streitkräfte außerhalb ihrer Territorien in Europa."

Der Warschauer Pakt wurde im Juli 1991 offiziell aufgelöst. Das Ende der Nato steht nicht zur Debatte, auch nicht bei Sozialdemokraten. 1998 hieß es im SPD-Bundestagswahlprogramm: "Die Nato ist unverzichtbar für die Sicherheit und Stabilität Europas." Vier Jahre später hoben wir hervor, dass "die Nato die entscheidende politische und institutionelle Klammer für die euro-atlantische Gemeinschaft" bleibt.

Die anderen im Berliner Programm formulierten Ziele sind erfüllt: Die Sowjetunion hat in den Jahren 1990/91 ihre Truppen im Wesentlichen aus den Staaten Ost- und Mitteleuropas abgezogen. 1994 verließ der letzte russische Soldat Deutschland. Seit dem Ende des Kalten Krieges ist die Zahl der in Deutschland stationierten US-Soldaten stark rückläufig. Von fast 250.000 (1988) ging deren Zahl auf rund 70.000 zurück. Eine weitere deutliche Reduzierung wird derzeit vom Pentagon erwogen - das bereitet den sozialdemokratischen Regierungen in Berlin wie in Mainz einige Sorgen. Die Lage hat sich geändert. Eine Forderung an die Vereinigten Staaten, ihre Präsenz in Deutschland vollständig aufzugeben, erhebt in der SPD ernsthaft niemand mehr.

"Gemeinsame Sicherheit zielt auf die Abschaffung aller Massenvernichtungsmittel und eine drastische Verringerung und Umstrukturierung der konventionellen Streitkräfte bis hin zur beiderseitigen strukturellen Angriffsunfähigkeit. Der Prozess dahin soll durch begrenzte einseitige Schritte und Signale beschleunigt werden. Dazu gehört (sic!) die erhebliche Senkung der Rüstungsausgaben, der Abbau der Truppenstärken und ein allgemeiner Atomteststop."

Der Abbau der Militärpotentiale in der Mitte Europas hat schon Anfang der neunziger Jahre begonnen und zu einer dramatischen Reduzierung von Waffen und Soldaten in Europa geführt. Im Bereich der Massenvernichtungswaffen haben die Vereinigten Staaten und Russland ihre Bestände deutlich reduziert. Die "drastische Verringerung" der konventionellen Streitkräfte hat ebenfalls stattgefunden: Ende der achtziger Jahre waren in Ost- und Westdeutschland rund 1,5 Millionen Soldaten unter Waffen - Deutsche und Verbündete; heute sind es kaum noch 350.000.

"Die Bundeswehr hat ihren Platz im Konzept gemeinsamer Sicherheit. Sie hat ausschließlich der Landesverteidigung zu dienen. Ihr Auftrag ist Kriegsverhütung durch Verteidigungsfähigkeit bei struktureller Angriffsunfähigkeit. Die Struktur der Bundeswehr muss den Abrüstungsprozess unterstützen und fördern ... Das Ziel von Friedenspolitik ist es, Streitkräfte überflüssig zu machen."

Die Notwendigkeit von Militär - gerade vor dem Hintergrund der veränderten Sicherheitslage - wird von der SPD heute nicht ernsthaft in Frage gestellt. Die Bundeswehr ist kein stehendes Heer zur Abwehr eines massiven Landangriffs aus dem Osten mehr. Die Koalitionsvereinbarung vom Oktober 2002 beschreibt unsere Wirklichkeit genauer als das Berliner Programm: ?Das künftige Aufgabenspektrum der Bundeswehr wird ganz wesentlich durch die sicherheitspolitischen Entwicklungen und den Wandel der Bundeswehr zu einer Armee im Einsatz bestimmt. Aufgaben der Bundeswehr sind Landes- und Bündnisverteidigung und internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen einschließlich humanitärer Einsätze und Evakuierungen. Dafür sind moderne, gut ausgerüstete und schnell verfügbare Einsatzkräfte erforderlich. Ihre Modernisierung muss die europäischen integrierten Fähigkeiten in der Nato und in der EU stärken."

"Wir wollen die Verantwortungsgemeinschaft der Deutschen mit Leben erfüllen, die gemeinsamen Interessen beider deutscher Staaten an Abrüstung, Entspannung und Zusammenarbeit geltend machen. Die Deutschen haben wie alle Völker ein Recht auf Selbstbestimmung. Die Frage der Nation bleibt den Erfordernissen des Friedens untergeordnet. Wir streben einen Zustand des Friedens in Europa an, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit findet. Die Menschen in beiden deutschen Staaten werden über die Form institutioneller Gemeinschaft in einem sich einigenden Europa entscheiden."

Das deutsche Volk hat in freier Selbstbestimmung seine Einheit gefunden - vor nunmehr 14 Jahren. Friedlich und im Einklang mit seinen Nachbarn. Jetzt steht Europas Einigung auf der Tagesordnung.

"Die für Deutschland als Ganzes und für Berlin bestehenden Vorbehaltsrechte der Vier Mächte müssen durch die gesamteuropäische Friedensordnung abgelöst werden."

Der Wunsch des Berliner Programms hat sich schon ein Jahr nach seiner Verabschiedung erfüllt: Mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag über die äußeren Aspekte der deutschen Einheit gehört die Einbettung Deutschlands in ein Nachkriegssystem mit alliierten Vorbehalten und einem Sonderstatus Berlins der Vergangenheit an.

"Wo reaktionäre Kräfte eigenständige Entwicklung hemmen, unterstützen wir die Kräfte der Befreiung. Das System der Apartheid in Südafrika muss fallen."

Das System der Apartheid ist gefallen. 1994 wurde Nelson Mandela, zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Berliner Programms noch der bekannteste politischer Gefangene der Welt, Staatspräsident des neuen Südafrika. In diesem Jahr blickt das Land auf zehn Jahre Demokratie zurück.

Wir müssen die Arbeit neu bewerten und anders verteilen. Wer nicht nur Erwerbsarbeit, sondern auch Haus-, Familien- und Eigenarbeit gerecht verteilen will, muss vorrangig die tägliche Arbeitszeit verkürzen. Wir erstreben als Regel zunächst den sechsstündigen Arbeitstag in der Fünf-Tage-Woche, damit Frauen und Männer Erwerbsarbeit, Haus- und Familienarbeit, ehrenamtliche Tätigkeit und kulturelle Teilhabe besser miteinander verbinden können."

Tatsächlich ist dies seit der 35-Stunden-Wochen-Kampagne der IG Metall nicht mehr die Politik der Gewerkschaften, auch nicht die der sozialdemokratischen Tarifvertragsparteien im öffentlichen Dienst. Unter dem Druck der Globalisierung kommt es eher darauf an, Verlängerungen der tariflichen Arbeitszeit abzuwenden oder sozialverträglich zu gestalten. Für die 300.000 Beamten des Bundes bereitet die rot-grüne Bundesregierung derzeit die Verlängerung der Wochenarbeitszeit von 38,5 auf 40 Stunden ab 1. Oktober 2004 vor.

"Zur Gleichstellung in der Politik kann es notwendig werden, Wahlsysteme in Bund, Ländern und Gemeinden zu ändern."

Dazu hat es seit 1989 in keinem sozialdemokratisch regierten Bundesland oder im Bund eine sozialdemokratische Initiative gegeben. Vielleicht weil es nicht notwendig war, vielleicht auch, weil diese Programmforderung nicht zweckmäßig war.

"Das Asylrecht für politisch Verfolgte muss uneingeschränktes Grundrecht bleiben."

Mit dem 1992/93 zwischen CDU/CSU, FDP und SPD ausgehandelten und beschlossenen Asylkompromiss wurden - einschränkende - Änderungen des Asylrechts vorgenommen. Das Grundrecht blieb erhalten; der Ort der migrationspolitischen Auseinandersetzung ist heute das Zuwanderungsgesetz.

"Der gesellschaftliche Reichtum, den wir durch die Entfaltung der Produktivkräfte erreicht haben, ermöglicht drastische Verkürzungen der Erwerbsarbeitszeit und erweitert die Möglichkeit der Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse."

Letzteres wäre schön und bleibt dringend zu erstreben, ersteres stößt an die Grenzen von Globalisierung und Demografie. Die (absolute und relative) Verkürzung der Lebensarbeitszeit durch Arbeitslosigkeit, längere Ausbildung, früheren Ruhestand und höhere Lebenserwartung sprengt heute schon das System der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung.

"Ungeschützte Arbeitsverhältnisse darf es nicht geben. Leiharbeit ist zu verbieten."

"Personal-Service-Agenturen", eingeführt mit dem "Ersten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" (Hartz I) stellen "Arbeitnehmer ein und verleihen sie zeitlich befristet an Unternehmen." So formuliert es die aktuelle Broschüre der Bundesregierung zur Agenda 2010 - Deutschland bewegt sich. Nutzung und Ausgestaltung der Leiharbeit sind ein wesentlicher Teil sozialdemokratischer Arbeitsmarktreformen. Die Konzepte der Hartz-Kommission stellten im Sommer 2002 neben Hochwasser und Irak-Kriegsgefahr ein wesentliches Mobilisierungsthema des erfolgreichen SPD-Bundestagswahlkampfes dar.

"Wir wollen Ganztagsschulen anbieten, weil sie Chancengleichheit fördern, soziales Lernen und den Wechsel der Wissensvermittlung, Gemeinschaftsarbeit und Spiel ermöglichen."

Unsere Regierung hat begonnen, diese Forderung des Berliner Programms umzusetzen. Von 2003 bis 2007 fließen vier Milliarden Euro in den Auf- und Ausbau von Ganztagsschulangeboten.

"Wir sehen mit Sorge, dass immer mehr Forschungseinrichtungen entstehen, in denen die Forschung militärischen oder ausschließlich wirtschaftlichen Zwecken unterworfen wird. Sie binden verfügbare Forschungspotentiale und verhindern alternative Forschungsansätze. Sie behindern den Erkenntnisprozess, indem sie die Ergebnisse ihrer Forschung der Öffentlichkeit vorenthalten."

Mit ihrer Innovationsinitiative will die sozialdemokratische Forschungs- und Bildungsministerin besonders den Anteil der industriellen Forschung anheben helfen. Drei Prozent vom Bruttosozialprodukt für Forschung und Entwicklung heißt das Ziel.

"Die Arbeiterbewegung hat über Generationen hinweg den Sozialstaat erkämpft. Wir werden ihn erhalten und ausbauen."

Der Erhalt des Sozialstaates bleibt Ziel der SPD, auch Ziel des Umbaus; dies auch dann, wenn Umbau an einigen Stellen Rückbau heißt. An dieser sozialdemokratischen Existenzfrage zerbricht gerade beinahe die Regierungsfähigkeit der SPD. Millionen Wähler wenden sich irritiert ab. Wir müssen verstehen und erklären, warum nötig ist, was wir tun - und was die Folge von Nichtstun wäre.

"Unternehmen, die Arbeit durch Kapital und Energie ersetzen, zahlen immer weniger, arbeitsintensive Betriebe immer mehr Sozialabgaben. Wir wollen Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung am Leistungsvermögen der Unternehmen, an der Wertschöpfung orientieren."

Energieverbrauch teurer machen - für Betriebe wie für private Verbraucher - und damit Lohnnebenkosten senken und so Arbeit günstiger machen: Das ist der Sinn der Ökosteuer, die seit 1999 in fünf Erhöhungsstufen die Rentenversicherungsbeiträge stabilisiert, zeitweise sogar gesenkt hat (von 20,3 auf 19,1 Prozent).

"In der gesetzlichen Krankenkasse lehnen wir eine Kostenbeteiligung der Versicherten über die Beiträge hinaus ab."

Eine Beteiligung der Patientinnen und Patienten an den Gesundheitskosten, wenn auch mit Belastungsgrenzen versehen, hat unsere sozialdemokratische Regierungspolitik nicht vermeiden können - zu gering war das Kostenbewusstsein, zu groß sind die Kostenprobleme. Die am 1. Januar 2004 in Kraft getretene Schmidt/Seehofer-Reform (GKV-Modernisierungsgesetz) sieht vor, dass Patientinnen und Patienten über die Versicherungsbeiträge hinaus Zuzahlungen zu leisten haben (Praxisgebühr, Medikamentenzuzahlungen, Eigenanteil bei Krankenhausaufenthalten u.a.).

"Ein historisches Grundproblem des Wettbewerbssystems ist seine Verbindung mit der privaten Verfügung über die Produktionsmittel. Diese Verbindung hat die kapitalistische Wirtschaftsordnung hervorgebracht und zu unkontrollierter wirtschaftlicher Macht und ungerechter Verteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen geführt."

Dieses Grundproblem ist nicht nur "historisch", es ist aktuell. Und die zugehörige wirtschaftspolitische Ideologie bestimmt gegenwärtig den geistigen Mainstream unserer Gesellschaft.

"Die Antarktis muss vor ökonomischer Ausbeutung geschützt werden."

Solch ein wichtiger Satz gehört in jedes gute Parteiprogramm - gestern, heute und morgen.

"Die Europäische Gemeinschaft eröffnet Handlungsspielräume. Sie bietet die Chance der Selbstbehauptung und Beeinflussung des Weltmarktes. Sie muss zu einem einheitlichen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialraum zusammenwachsen."

Die Wirtschafts- und Währungsunion ist seit dem 1. Januar 2002 - mit der Einführung des Euro - weitgehend Realität. Ungenannt bleiben die außen- und sicherheitspolitischen Perspektiven, die sich nun darüber hinaus für Europa ergeben.

"Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist als Staatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen."

Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist seit November 1994 im Grundgesetz als Staatsziel verankert (Artikel 20a GG).

"Sinnvoller Strukturwandel kommt nicht von allein. Strukturpolitik muss Richtung und Geschwindigkeit struktureller Veränderungen so beeinflussen und steuern, dass vor allem folgende Ziele erreicht werden:
- ökologischer Umbau der Industriegesellschaft,
- Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit,
- Verbesserung der Arbeitsverhältnisse,
- Erhaltung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit,
- Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in den Regionen,
- Abrüstung und Umstellung auf die Produktion ziviler Güter."


Was ist falsch gelaufen, wenn man mehr als 14 Jahre nach Beschluss dieser Programmbestimmung, 14 Jahre nach der deutschen Vereinigung und sechs Jahre nach Amtsantritt einer sozialdemokratischen Regierung die Spiegelpunkte 2, 3 und 5 nur noch einmal dick unterstreichen kann? Brauchen wir neue Instrumente?

"Für die demokratische Steuerung wie für die Planungskoordination sind verbesserte Informations- und Koordinationsinstrumente nötig:
- Die Strukturberichterstattung und Vorausschau müssen ausgebaut werden;
- strukturbestimmende Großunternehmen haben den Staat und die Kommunen rechtzeitig und regelmäßig über wirtschaftspolitisch relevante Planungen und über Standortplanungen zu unterrichten.


Waren es diese Instrumente, die uns heute fehlen?

"Wirtschaftsdemokratie kann sich nur entfalten auf Grundlage eines funktionierenden Wettbewerbsrechts, einer Entflechtung von Banken und Großunternehmen und einer Reform der Unternehmensverfassung zur Stärkung der Kontroll- und Entscheidungsrechte der Mitbestimmungsorgane."

Die deutschen Banken ziehen sich tatsächlich aus der deutschen Industrie zurück - aber nicht zugunsten der Wirtschaftsdemokratie. Über den Börsenboom sind jetzt Aktienfonds, gern international und anonym, strukturbestimmend geworden. Sie fordern hohe Renditen und sind total unpatriotisch. Das ist keine Verbesserung.

"Wachsende und neue Staatsaufgaben im Interesse aller erlauben auch künftig kaum geringere Gesamtbelastung durch Steuern, selbst bei strenger Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit."

In ihrer ganzen Schönheit wird die Einkommenssteuerreform, die seit 1999 in fünf Stufen bis 2005 die Steuersätze senkt, zu Einnahmeverzichten des Staates (gegenüber den Steuersätzen des Jahres 1998/Kohl) in Höhe von 58 Milliarden Euro pro Jahr führen.

"In Zeiten der Konjunkturschwäche dürfen die Ausgaben nicht reduziert werden. Die Verstetigung der Ausgaben muss die wirtschaftliche Entwicklung stabilisieren, selbst wenn dies Kreditaufnahme erfordert."

Hans Eichel hat versucht, genau dieser Maxime nicht zu folgen und die Neuverschuldung bis 2006 auf Null zu senken. Jetzt steuert er um, es hilft ja alles nichts.

"Aus einer Wirtschaftsgemeinschaft muss ein Europa der Bürger werden, in dem die Staatsangehörigkeit nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Unser Ziel ist eine Verfassung für die Gemeinschaft, die Demokratie mit den Grundsätzen des Rechts- und Sozialstaates verbindet."

Die EU-Staats- und Regierungschefs haben in diesen Wochen, nach langer und europaweiter Diskussion, eine europäische Verfassung beschlossen. Durch die Verfassung wird die EU demokratischer, transparenter und effizienter. Das Europäische Parlament wird künftig bei mehr Entscheidungen als bisher mitbestimmen. Die Unionsbürger können durch ein Bürgerbegehren größeren Einfluss auf die europäische Politik nehmen. Die Größe der Länder wird gerechter gewichtet, die Europäische Grundrechtscharta rechtsverbindlich und für die Unionsbürger einklagbar in die Verfassung integriert. Dieses Ziel sozialdemokratischer Europapolitik, das Ende 1989, als das Berliner Programm verabschiedet wurde, so fern schien, ist verwirklicht. Es steht nun noch aus die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa, wie sie das Heidelberger Programm von 1925 fordert.

Zu den aktuellen Schwierigkeiten der SPD stellt das Berliner Programm von 1989 schließlich prägnant fest:

"Wir sind die Partei der Reform. Reformarbeit vollzieht sich oft in kleinen Schritten. Mehr noch als auf die Größe der Schritte achten wir auf die Erkennbarkeit der Richtung. Reformarbeit muss den Widerstand mächtiger Sonderinteressen überwinden. Sie ist nicht nur Sache von Regierungen, Parlamenten und Parteien. Wichtige Reformen können nur gelingen, wenn im Bürgerdialog die aktive Unterstützung der Mehrheit gewonnen wird."

So ist es, und so wird es für jedes sozialdemokratische Regieren und Reformieren jederzeit gelten.

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