Achtzig Jahre auf dem Weg nach Westen
Bereits der Bericht des EU-Kommissars Günter Verheugen zum EU-Beitritt der Türkei vom Herbst des vergangenen Jahres war kritisch ausgefallen, hatte sich aber, wie die EU-Kommission, unter bestimmten Bedingungen deutlich für den Beginn von Beitrittsverhandlungen im Jahr 2005 ausgesprochen. Diesem Votum ist am 17. Dezember 2004 der Europäische Rat gefolgt, mit einigen – überwindbaren – Vorbehalten zur Anerkennung des griechischen Zypern durch die Türkei. Bis zu einer Aufnahme der Türkei werden, so Jacques Chirac, zehn bis fünfzehn Jahre vergehen. Über die Aufnahme selbst soll dann in Frankreich ein Referendum entscheiden – in einer Prozedur, der künftig vielleicht andere Länder folgen.
Das Projekt der Türkei-Aufnahme ist in verschiedenen europäischen Ländern seit einiger Zeit ein öffentliches Streitthema. So auch in Deutschland. Helmut Schmidt hält die EU mit dem Integrationsplan für überfordert. CDU und CSU stimmen mit dieser Position im Ergebnis – wenn auch aus im Einzelnen unterschiedlichen Gründen – überein, ebenso inzwischen große Teile der konservativen Parteien in Frankreich. Gerhard Schröder, Jacques Chirac und Tony Blair hingegen befürworten, wie die Mehrheit in der SPD und die Grünen insgesamt, den türkischen EU-Beitritt. In Deutschland verschärft sich der Streit durch Spekulationen über die mögliche Absicht der Unionsparteien, den Türkeistreit in den Bundestagswahlkampf 2006 hineinzutragen.
Konsens besteht in Deutschland überwiegend darüber, daß der traditionelle religiös-kulturelle Gegensatz zwischen Islam und Christentum, jedenfalls isoliert betrachtet, für die Beurteilung der Beitrittsfrage nicht ausschlaggebend sein kann. Die EU mit ihren zahlreichen religiösen Minderheiten, darunter viele Millionen Muslime, ist kein Christenclub. Die zu erwartende künftige Entwicklung ist, so diese Argumentationstendenz, wichtiger als die Vergangenheit. Nur wenige vertreten offen die allzu schlichte These, ein islamisches Land gehöre nicht in die EU.
Die Türkei als Brücke zum übrigen Islam?
Die Trennung der Sphären des Religiösen und des Politischen, die Verwirklichung von Menschenrechten, Rechtsstaat und Demokratie bilden andererseits zumindest nach der Mehrheitsauffassung in der öffentlichen Debatte und im EU-Entscheidungsprozess Grundforderungen, auf die nicht verzichtet werden kann. Wann diese Bedingungen im Einzelnen in der Türkei als erfüllt angesehen werden können, ist allerdings eine durchaus offene, unterschiedlich beantwortete Frage.
Dissens besteht ebenso bei geopolitischen Aspekten. Die nach einem Türkei-Beitritt neuen EU-Grenzen mit Syrien, dem Irak, dem Iran, mit Aserbaidschan, Armenien und Georgien oder die Auswirkungen einer Türkei-Mitgliedschaft auf die transatlantischen Beziehungen sind dafür Stichpunkte. Nicht selten stößt auch die offizielle deutsche Regierungsposition auf Skepsis, der Türkeibeitritt könne eine Brücke zum (übrigen) Islam schlagen und einen Beitrag dazu leisten, islamische Werte und europäische Aufklärung zu verbinden. Helmut Schmidt führt dagegen die schlechten Erfahrungen an, die viele der sich heute „arabisch“ definierenden Staaten mit der osmanischen Oberherrschaft gemacht hätten. Vermutlich trifft diese negative Einschätzung der historischen Beziehung mit der Türkei jedenfalls für die Länder zwischen dem Sinai und Marokko nicht in dem Ausmaß zu, das Schmidt unterstellt. Im Ersten Weltkrieg kämpften etwa in der Sahara Aufständische gegen die Westmächte und für eine Wiederherstellung der Verbindung mit dem Osmanischen Reich.
Zwischen Kemalismus und Islam
Gegen die Hoffnung auf eine positive Ausstrahlung der EU-Türkei in der islamischen Welt kann aber in jedem Fall zu Recht eingewandt werden, dass die kemalistische Gründungskonzeption für die türkische Republik von 1923 kaum geeignet war, „islamische Werte“ zu vermitteln. Zu einer anderen Beurteilung kann man allenfalls kommen, sofern man unterstellt, die Zwei-Drittel-Mehrheit von Recep Tayyip Erdogans AKP im türkischen Parlament werde den laizistischen Charakter der türkischen Republik allmählich überwinden und sie damit vielleicht für islamische Länder attraktiver machen. Dieses Szenario würde aber wiederum den türkischen Aufnahmehoffnungen entgegenstehen.
Ähnlich unterschiedliche Interpretationen gibt es für weitere Argumentationslinien. Große Teile der in Deutschland lebenden Türken seien, so eine gelegentlich zu hörende Position, noch zu wenig integriert und, was die Akzeptanz des gesellschaftlich-politischen Systems anbelange, noch nicht in Deutschland angekommen. Das lasse auch einen Rückschluss auf die Schwierigkeiten bei der Integration des künftigen EU-Mitglieds Türkei zu. Dagegen wird eingewandt, die türkischen Einwanderer nach Deutschland seien nur repräsentativ für Ostanatolien, nicht für die gesamte Türkei; die Vorbereitung auf den EU-Beitritt werde die Verwestlichung beschleunigen (und tue dies schon heute), was wiederum positive Rückwirkungen auf die Integration der türkischen Minderheiten in Europa haben könne.
Egon Bahr hegt Bedenken gegen einen EU-Beitritt der Türkei, weil dadurch der Ausbau der Union zu einer international handlungsfähigen Einheit behindert werde. Dass ausgerechnet Tony Blair, ein deklarierter Atlantiker und Gegner der bundesstaatlichen Option für die EU, aber auch die polnische Regierung für den Türkeibeitritt einträten und in ihrem Engagement dabei nur noch von der US-Regierung übertroffen werden, weise auf ein gemeinsames Motiv hin: Sie alle sähen in der EU eher eine hoch organisierte Wirtschaftsgemeinschaft als eine politische Union, die global wirken und ein Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten bilden könne. Unbeantwortet bleibt bei dieser These allerdings, weshalb der ausgewiesene amerikakritische Gaullist Jacques Chirac in gleicher Weise wie Tony Blair oder Gerhard Schröder den Türkeibeitritt unterstützt.
Handlungsfähigkeit und Säkularisierung
Ein taktisches Element wird in der jüngsten Debattenphase zunehmend wichtiger. Der enge zeitliche Zusammenhang zwischen der positiven EU-Entscheidung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen und der Abstimmung über den EU-Verfassungsentwurf berge, so etwa Kommissar Verheugen, die Gefahr, dass die Türkeidiskussion bei einigen europäischen Referenden über die EU-Verfassung zu einem Nein-Votum führe. Andere sehen aber auch hier, langfristig, die umgekehrte Wirkung: Selbst wenn der EU-Verfassungsvertrag scheitere, werde durch den zu erwartenden Türkeibeitritt der Druck zur „Vertiefung“ und zu der damit verbundenen Anpassung der Union an neue Aufgaben und Mitgliedschaftsstrukturen verstärkt.
Wie die Argumentationsbeispiele deutlich machen, sind in der Debatte zwei Bewertungsaspekte eng miteinander verbunden: die Perspektiven für die Handlungsfähigkeit der EU sowie die Säkularisierungs- und Demokratisierungsentwicklung in der Türkei. Es lohnt sich, beide Ansätze zunächst gesondert zu beurteilen.
EU-Handlungsfähigkeit: Abschied vom europäischen Bundesstaat. Der deutsche Außenminister Joseph Fischer hat vor einiger Zeit in einem Vortrag an der Berliner Humboldt-Universität seine Vision von einem europäischen Bundesstaat dargestellt: einer „Föderation Europa“. Danach soll eine parlamentarisch gewählte und abwählbare europäische Regierung zusammen mit der Legislative, dem Europäischen Parlament also, über wesentliche Kompetenzen auch für die Außen- und Sicherheitspolitik verfügen. Nicht erst seit der EU-Erweiterung vom Mai 2004 zeichnet sich ab, dass solch eine Strukturreform in absehbarer Zeit nicht zu realisieren ist. Alle EU-Staaten, also beispielsweise auch Großbritannien und Frankreich, müssten der Veränderung zustimmen. Auch für einen Bundesstaat in einem „Kerneuropa“, das nur einen Teil der EU-Staaten umfasst, bestehen keine guten Verwirklichungschancen. Neben Frankreich und Deutschland müsste wohl Polen in jedem Fall Mitglied von „Kerneuropa“ sein. Das Land ist aber zu einem derartigen Schritt derzeit kaum bereit, da dieser Polen von Großbritannien und den Vereinigten Staaten entfernen würde. Auch Frankreich hat einer Bundesstaatslösung bislang nicht zugestimmt.
Ein Türkeibeitritt behindert also die weitere EU-Integration allenfalls in geringem Umfang. Eine europäische Bundesstaatsoption gibt es für lange Zeit ohnehin nicht mehr. Auch der EU-Verfassungsvertrag eröffnet diese Perspektive nicht. Selbst wenn er alle Abstimmungshürden nehmen sollte (was zunehmend unwahrscheinlicher wird), bleibt der Mangel an demokratischer Legitimation in der EU-Willensbildung ein Problem. Dort gibt es ein starkes Einflussübergewicht der Regierungen (im Europäischen Rat) und der von ihnen eingesetzten EU-Kommission. Die damit begründeten Demokratiedefizite waren bislang auch aufgrund der Bundesstaatshoffnung für die EU als Übergangsphänomen hinnehmbar. Künftig wird diese Argumentation nicht mehr tragfähig sein.
Kommt die „privilegierte Partnerschaft“ doch?
Vielleicht zehn Jahre haben die EU-Mitgliedstaaten Zeit, im Rahmen einer besonderen Staatenbundkonstruktion, wie sie die EU darstellt, die Handlungsfähigkeit nach außen zu stärken, die Union auf ihre Kernaufgaben zu beschränken, die Kompetenz- und Ausgabenexpansion zu begrenzen und einige Aufgabenbereiche wieder in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zurückzuführen.
Der von Günter Verheugen erarbeitete Kommissionsbericht hebt den bei dieser Ausgangslage nach wie vor kritischen Punkt eines Türkeibeitritts hervor: Die Freizügigkeit für Arbeitnehmer soll, so jedenfalls Verheugen, auch nach einem formellen Beitritt der Türkei, also in zehn bis fünfzehn Jahren, nur unter Bedingungen – und unter bestimmten Voraussetzungen gar nicht – gewährt werden. Die Türkei hat diesen Vorschlag nicht akzeptiert, von dem aber anzunehmen ist, dass er in die künftige Beitrittskonzeption einbezogen wird. Eine vergleichbare Regelung gab es bislang für kein anderes Beitrittsland. Das gilt übrigens auch für den Vorschlag, die EU-Fördergelder für das neue Mitglied Türkei mit einer Obergrenze zu versehen.
Ist dann nicht doch der Unterschied zu einer – ursprünglich von Heinrich August Winkler ins Gespräch gebrachten – „privilegierten Partnerschaft“ mit der Türkei weniger groß, als dies in der öffentlichen Auseinandersetzung behauptet wird? Müsste die Türkei nicht auch bei einer „privilegierten Partnerschaft“ in etwa zwanzig Jahren umfassend in die politische Willensbildung der EU einbezogen werden? Und setzt dies nicht in jedem Fall weitere Fortschritte der Säkularisierung und Demokratisierung der Türkei voraus?
Kemal Atatürks permanente Revolution
Die Türkei und die Modernisierung des Islam. Ein europäisches Missverständnis zum Verhältnis zwischen dem Islam und der von Kemal Atatürk gegründeten türkischen Republik spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle. Der traditionelle islamische Staat – über lange Phasen auch das Osmanische Reich als wichtigster Staat der neueren islamischen Geschichte – war im Kern identisch mit der muslimischen Gemeinde. Nichtmuslime waren ihm gegenüber bestenfalls Schutzunterworfene, nicht gleichberechtigte Staatsbürger. Diese Konzeption prägt beispielsweise heute noch (oder genauer: nach 1979 erneut) in gewissem Umfang die Verfassung der Islamischen Republik Iran.
Mit der Autorität des siegreichen Militärführers und gestützt auf die von ihm neu organisierten Streitkräfte brach Kemal Atatürk radikal mit den islamischen Traditionen. Das arabische Alphabet wurde durch das lateinische ersetzt, die türkische Sprache von arabischen und iranischen Einflüssen gesäubert. Der kemalistische Staat verbot die traditionellen Kopfbedeckungen, mit denen sich Musliminnen und Muslime von Nicht-Gläubigen unterschieden und die, was das Kopftuch betrifft, Frauen eine untergeordnete Rolle zuwiesen. Eine Zeitlang plante Atatürk sogar, den Gottesbegriff „Allah“ durch ein Wort türkischen Ursprungs zu ersetzen. Heinrich August Winkler hat den Umgestaltungsprozess der kemalistischen Erziehungsdiktatur als eine „Verstaatlichung des Islams“ bezeichnet. Diese Verstaatlichung, verbunden mit ebenso deutlichem Misstrauen gegenüber allen nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften, prägt bis heute die Beziehungen zwischen dem türkischen Staat und dem Islam.
Die Säkularisierung muss weitergehen
Bei der Verwendung der europäischen Termini muss berücksichtigt werden, dass der Islam eine Religion besonderer Prägung ist, die sich von den europäischen Glaubensgemeinschaften unterscheidet und, in ihrer Gesamtheit, eine der europäisch-amerikanischen Aufklärung vergleichbare Entwicklung noch nicht kennt. Auch die nicht nur im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt zu sehende Ausbreitung von antisemitischen Tendenzen – in der europäischen Politik nur ungern thematisiert – gehört zum aktuellen Bild des Islam.
Spricht das, in der Bilanz, gegen die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union? Nein – sofern die von Atatürk eingeleitete Säkularisierung erfolgreich weitergeführt wird. Dazu gehört – jedenfalls am Ende der Transformation – die Reduzierung des Einflusses von staatlichen Sondergerichten und der Militärapparatur, die sich in der Vergangenheit immer wieder als Wächter der Säkularisierung verstanden haben. Eine westliche, europäische Demokratie muss – im Falle der Türkei: nach einer Übergangszeit – Glaubensfreiheit und staatliche Religionsneutralität ohne derartige Sonderinstanzen gewährleisten können. Für sich genommen reichen allerdings freie Wahlen nicht aus, diese Garantien zu sichern, was übrigens manchmal auch in der Debatte über die neuere Nahostentwicklung vergessen wird. Das nach dem Grundgesetz zugelassene Parteienverbot und die jüngere deutsche Geschichte zeigen, dass mit Wahlen verbundene Gefahren keine islamische oder türkische Besonderheit darstellen. Die EU und die politische Debatte in Europa müssen mehr als bisher verstehen, dass es sich beim türkischen Transformationsprozess im Kern um eine Änderung tief verwurzelter Mentalitäten handelt. Der Veränderungsprozess ist nach über achtzig Jahren weit fortgeschritten, aber noch nicht abgeschlossen. Er kann auch zu einem Rückschlag führen.
Mit ihrem erreichten Stand von Verwestlichung und Demokratie, mit ihrer geografischen Lage und demografischen Größe ist die Türkei im Hinblick auf die EU-Erweiterung ein Grenzfall. Die der Türkei schon seit längerer Zeit in Aussicht gestellten Beitrittsoptionen, der Bericht der EU-Kommission und der Beschluss des Europäischen Rats vom vergangenen Jahr werden zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen führen. Sie können, wie geschildert, unter Einbeziehung von Begrenzungsvarianten für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts unter insgesamt akzeptablen Bedingungen die EU-Aufnahme der Türkei zur Folge haben.
Bessere Integration, größere Kooperation
Die Verhandlungsjahre sollten die EU-Staaten nicht nur für die institutionelle EU-Reform nutzen. In Deutschland ist vor allem wichtig, die bei uns lebende türkischstämmige Minderheit stärker als bisher zu integrieren. Dazu gehören ihre bessere sprachliche Integration, mehr Bildungsangebote sowie mit unserer Verfassung vereinbarer Unterricht über den Islam. Islamunterricht darf nicht privaten islamischen, häufig schwer kontrollierbaren Vereinigungen überlassen werden. Eine Türkei, die sich auf dem Weg in die Europäische Union befindet, hat Vertrauen in der zwischenstaatlichen Kooperation auch auf diesem Gebiet verdient.
Gibt es Europa jenseits von Europa?
Wie die Türkeidebatte oder neuerdings die Entwicklung in der Ukraine deutlich machen, ist es zudem notwendig, dass die EU-Staaten die Grenzen der Erweiterung definieren – auch um in der öffentlichen Diskussion Vertrauen und Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Überschreitungen der geografischen Europaregion sind in bestimmtem Umfang denkbar, wie heute schon Zypern, das geografisch zu Asien gehört, und künftig die Türkei zeigen, die nur mit ihrer thrakischen Provinz einen Anteil am europäischen Kontinent hat. Eine Aufnahme Russlands aber würde den Charakter der EU definitiv ändern. Sie wäre dann eine atlantisch-pazifische Union. Gegen einen Beitritt der Vereinigten Staaten oder Kanadas könnte danach kaum noch Durchschlagendes eingewandt werden.
Unterhalb dieser durch Raumdimension und Geografie bestimmten Schwelle, die jedenfalls für die nächsten Zeitphasen gilt, können abgesehen von wirtschaftlichen Kriterien nur die im Grundsatz universellen Menschenrechts- und Demokratieforderungen den Beitritt begrenzen. Nach den damit beschriebenen geopolitischen Kriterien wären auch langfristig weder die nordafrikanischen Länder, die ihrerseits eine gewisse kulturell-politische Einheit bilden, noch Russland zu den möglichen EU-Gebieten zu rechnen. Unter Bedingungen, die denjenigen eines Türkeibeitritts entsprechen, gehören aber alle Balkanstaaten, die Ukraine oder Weißrußland, unter Umständen aber auch die Kaukasusstaaten, zu einer denkbaren Erweiterungszone.
Eine derartige Grenzziehung für künftige Erweiterungsschritte erfüllt wahrscheinlich nicht alle Wünsche, beispielsweise nicht diejenigen nach einem „Wir-Gefühl“, das nicht nur Heinrich August Winkler zufolge alle EU-Mitgliedsländer vereinen und, wo es fehlt, Neuaufnahmen verhindern soll. Sie widerspricht – in umgekehrter, einschränkender Richtung – zudem der von manchen vertretenen Expansionsidee, Schritt für Schritt die Gebiete des früheren römischen Imperiums in die EU aufzunehmen. Eine über Europa hinausgreifende Kooperation wird dadurch allerdings kaum behindert. Auch außerhalb des engeren EU-Raums können und sollten, wie dies bereits heute der Fall ist, abgestufte Beziehungsmodelle entwickelt werden – so wie im EU-Gebiet selbst Unterschiede im Umfang der Kooperation bestehen und zulässig sind.
Warum verlässliche Ansagen nötig sind
Im EU-Raum ist, wie die Türkeidiskussion zeigt, nicht in jedem Fall an eine EU-Vollmitgliedschaft ohne Einschränkungen zu denken. Begrenzende Regelungen, wie sie für die Türkei diskutiert werden, sind beispielsweise auch bei einer EU-Mitgliedschaft der Ukraine möglich. Für beide Länder ist aber ebenso eine zehn oder fünfzehn Jahre dauernde Beitrittsdebatte politisch kaum vorstellbar, in der wichtige Aufnahmebestimmungen etwa zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer und das Gesamtergebnis offen und unklar bleiben. Das gilt letztlich auch für die politische Auseinandersetzung in den EU-Ländern, wenn sie dem Ziel dienen soll, die Akzeptanz der Aufnahme zu fördern. Der Beitritt selbst kann durchaus erst in zehn oder fünfzehn Jahren erfolgen; bereits in absehbarer Zeit jedoch muss den Beitrittsländern und der Bevölkerung in den Staaten der EU signalisiert werden, mit welchen Regelungsbedingungen sie bei einer Aufnahme zu rechnen haben. Dafür muss die Debatte in Deutschland und in anderen europäischen Ländern in den kommenden Jahren die politischen Voraussetzungen schaffen.