Reden wir über Demokratie
Die Bildung der Großen Koalition hat manche Streitfälle, die noch im Wahlkampf eine Rolle spielten, zum Abschluss gebracht oder doch weitgehend aus der öffentlichen Diskussion genommen. Dazu gehört etwa die Auseinandersetzung um die Mehrwertsteuererhöhung, wenigstens an der Oberfläche diejenige um die transatlantische Orientierung der deutschen Außenpolitik, die Debatte über den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sowie über die Grundsätze der Zuwanderungspolitik.
Vielleicht ist diese Reihe künftig um ein weiteres Beispiel zu ergänzen: um die immer wieder geführte Diskussion über mögliche Differenzen zwischen den verschiedenen westlichen Demokratiemodellen. Eine These, die auch im erweiterten Umfeld der deutschen Sozialdemokratie erörtert wurde, läuft darauf hinaus, das System der Vereinigten Staaten als Fall einer „defekten Demokratie“ zu betrachten, wobei die Defekte besonders an den Mängeln der sozialstaatlichen Sicherung zu erkennen seien. Einige beziehen zusätzlich das britische Demokratiemodell in die Kritik ein, das ähnliche Defizite aufweise und allzu sehr in die neoliberale Richtung tendiere. Weltweit könne man – manche formulieren das so – von einer Lagerbildung zwischen den „defekten“ angelsächsischen Demokratien und einigen offenbar nicht-defekten, eher sozialstaatlich ausgerichteten Demokratien in Kontinentaleuropa sprechen. Vor allem Deutschland, Frankreich und Skandinavien sind dabei üblicherweise gemeint.
Die Tendenz zur demokratiepolitischen Lagerbildung spiegelt sich in ähnlicher Weise auch auf anderen Feldern wider, etwa in der Bezeichnung Deutschlands als „Friedensmacht“ – ein Titel, der zumindest ehrenhalber auch Frankreich verliehen, Großbritannien, Polen, Tschechien und den baltischen Staaten aber verweigert wird. Der Ehrentitel soll auf gemeinsame Leistungen bei der Abwehr der amerikanischen Absicht hinweisen, für den Krieg gegen den Irak die Unterstützung der Vereinten Nationen zu erhalten. Man könnte diese Linie verlängern und Ansätze zu einer neuen Gleichgewichtspolitik gegenüber den Vereinigten Staaten einbeziehen. Hierbei werden ebenfalls die zwei europäischen Kontinentalmächte auf der einen und die „Angelsachsen“ auf der anderen Seite aussortiert. In denselben Kontext gehören Stimmen, die Deutschland – nach dem Vorbild der Ostpolitik der siebziger Jahre – beim Kampf gegen den Terror eine Position der Äquidistanz und Vermittlung angesichts neuer totalitärer Varianten des Islam empfehlen. Das „Prinzip Dialog“ soll nach dieser Lesart auch gegenüber Formationen gelten, die Terror anwenden und Antisemitismus verbreiten.
Ist die liberale Demokratie per se defekt?
Um Missverständnisse von vornherein auszuschließen: Es kann natürlich nicht darum gehen, Kritik an internen Systemverhältnissen in verschiedenen Demokratien oder an einzelnen außenpolitischen Regierungsentscheidungen beispielsweise der USA abzuwehren oder gar als Bündnisverrat zu disqualifizieren. Die gegenwärtige Regierung der Vereinigten Staaten hätte solch einen De-facto-Freispruch gewiss nicht verdient – ganz unabhängig davon, wie man die Bilanz der Irakintervention beurteilt. Und dies gilt umgekehrt auch für die deutschen Bundesregierungen. Sinnvoll könnte es aber sein, die These von den „defekten“ und den „nichtdefekten“ Demokratien sowie andere Positionen, die auf Lagerbildung hinauslaufen, einmal auf ihren realen Gehalt und ihre Gefahren zu überprüfen.
Als defekte Demokratie wird von manchen die „liberale“, „ultraliberale“ oder „bloß libertäre“ Demokratie beschrieben. Diese sei, wie das Beispiel der USA zeige, nicht sozialstaatlich orientiert; sie beschränke durch die vollständige Kommerzialisierung der Massenmedien die Bedingungen für demokratische Öffentlichkeit; sie verletze das demokratische Herrschaftsmonopol dadurch, dass mächtige soziale oder ökonomische Akteure den politischen Prozess maßgeblich gestalten könnten; und sie entziehe damit sozial und ökonomisch Schwächeren die Chance zur gleichberechtigten Mitwirkung an der politischen Willensbildung. Die soziale und also nicht-defekte Demokratie sei daher die notwendige Konsequenz aus dem alten Anspruch der „liberalen“ Demokratie, die Grundrechte aller Bürger gleich zu achten.
Der übliche Verdächtige heißt Amerika
Durch dieses Demokratiebild schimmert eine deutliche Abneigung gegen neoliberale und neokonservative Globalisierungskonzepte sowie großer Zorn auf den vermeintlichen Hauptschuldigen – die USA. Verständlich ist die Abgrenzung gegenüber Protagonisten des „Marktradikalismus“, gewiss legitim die Kritik an der Regierung Bush. Aber trifft dies auch zu auf die negative Kategorisierung der gesamten amerikanischen Demokratie? Befindet sich die älteste Demokratie der Moderne in Verfall und Niedergang? Zugespitzt: Verliert ein Land, dessen Regierung (gravierende) Fehler macht, an demokratischer Qualität? Und in diesem Kontext: Wie kommt es, dass von der Fundamentalkritik am demokratischen System der Vereinigten Staaten zur Zeit der Präsidentschaft Bill Clintons kaum etwas zu hören war?
Länder- und Systemvergleiche sind, wie jeder Komparatist weiß, eine schwierige Sache. Selbst (oder gerade) Teilsektoren wie etwa die Bundesstaatskonstruktion oder das Wissenschaftssystem verschiedener Länder sind nur schwer in brauchbaren Vergleichsrastern zu erfassen, zu deutlich wirken sich unterschiedliche Grundbedingungen aus verschiedenen Teilbereichen auf die übrigen Systemteile aus. Das lässt sich auch anhand von Beispielen zeigen, die Kritikpunkte gegenüber der amerikanischen Demokratie oder anderen angeblich defekten Demokratien wie beispielsweise Großbritannien aufnehmen.
Sind die amerikanischen und britischen Medien vollständig „kommerzialisiert“, so dass dadurch die Bedingungen für den öffentlichen Diskurs eingeschränkt würden? Bei den Printmedien in privater Trägerschaft ist die Vielfalt in den angelsächischen Ländern nicht geringer als im demokratischen Kontinentaleuropa. In beiden Ländern sind die elektronischen Medien nicht vollständig kommerzialisiert und privatisiert. In den Vereinigten Staaten weisen sie deutliche Unterschiede und erhebliche regierungskritische Potenziale auf. Und in Großbritannien steht weniger der Privatsektor der elektronischen Medien als die immer noch monopolähnliche öffentlich-rechtliche BBC in der Kritik.
Im Fall der Vereinigten Staaten muss bei allen Teilelementen der Demokratie, also auch den Medienverhältnissen, die Europa fremde Siedlergeschichte des Landes mit einem schwachen, aber „liberalen“ Staat und „starken“, mobilen, autonomen sowie bewaffneten Bürgern mitgedacht werden. Will man tatsächlich behaupten, in der Grundstruktur seien die Medienwelten in den angelsächsischen Ländern undemokratischer als diejenigen in Deutschland oder Frankreich?
Unser misslungenes Integrationsmodell
Ist der Einfluss starker sozialer oder wirtschaftlicher Mächte in den Vereinigten Staaten wirklich so durchschlagend, dass darunter die Demokratie leidet? Haben denn diese „Mächte“ die Aufhebung der Rassentrennung in den Schulen verlangt oder behindert? Waren Roosevelts New Deal und seine gegen anfangs deutliche Mehrheiten in der Bevölkerung durchgesetzte Entscheidung für den Kriegseintritt durch die inneren „Mächte“ erzwungen oder wesentlich behindert worden? Galt dies etwa auch für Johnsons Sozialgesetzgebung Ende der sechziger Jahre? Ist es nicht vielmehr so, dass wir ohne den Eintritt der „defekten“ Demokratie in den Zweiten Weltkrieg heute in Europa vielleicht nicht über verschiedene Demokratie-Modelle (unter besonders kritischer Einbeziehung der amerikanischen Variante) diskutieren könnten?
Gibt es soziale, politische und andere Benachteiligungen ganzer Bevölkerungsgruppen nur in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien? Ist nicht in Kontinentaleuropa die soziale und politische Integration beispielsweise muslimischer Einwanderer – bei ganz unterschiedlichen Integrationsmodellen etwa in Deutschland und in Frankreich – bislang misslungen? Sieht nicht, bei allen noch vorhandenen Mängeln und Defekten, die Integrationsbilanz in den USA und in Großbritannien besser oder zumindest nicht schlechter aus?
Bildung steht im Zentrum des „Sozialen“
Internationale Vergleiche belegen bei einer Gegenüberstellung mit anderen Demokratien Defizite und Rückstände der sozialen Sicherungssysteme und Sozialleistungen in den Vereinigten Staaten und auch in Großbritannien. In den USA gibt es auf diesem Gebiet zwar, anders als dies manche Darstellungen behaupten, durchaus staatliche Intervention; diese richtet sich aber durch eine entsprechende Gesetzgebung eher an die Arbeitgeber, die verpflichtet werden, in den Arbeitsverträgen auch Regelungen zur Krankheits- und Sozialversorgung vorzusehen. Wer in keinem Arbeitsverhältnis stand oder steht und nicht zu einer besonderen Gruppe gehört, etwa den Kriegsveteranen, hat demnach unter Umständen keinen ausreichenden Schutz – ein Zustand, der in der amerikanischen Politik nicht ohne weiteres hingenommen wird, sondern Gegenstand vieler, noch nicht rundum erfolgreicher Reformbemühungen war und ist.
Auf der anderen Seite der Medaille sieht man ein Gebiet, das gerade nach einem modernen sozialstaatlichen (und sozialdemokratischen) Verständnis künftig immer mehr zum Zentrum des „Sozialen“ gehören wird. Das ist der Bereich von Bildung, Hochschule und Forschung. Im internationalen Spitzenwettbewerb, der am Ende auch über die Qualität und Sicherung unserer Sozialsysteme entscheiden wird, müssen wir vor allem auf diesem Sektor führend sein. Die Vereinigten Staaten haben auf diesem Gebiet ein vom kontinentaleuropäischen, aber auch vom britischen Modell abweichendes privat-öffentliches Mischsystem. Auch in diesem Teilbereich zeigen sich, vor allem im hohen privaten Anteil, die Spuren der amerikanischen Siedlergesellschaft.
Politikverflechtung als Vorbild?
Nach der These von der defekten Demokratie sollte man meinen, das amerikanische Modell müsste beispielsweise gegenüber dem deutschen System bestimmte Defizite aufweisen – zum Beispiel darin, die soziale Integration von Einwanderern zu gewährleisten oder wachsende Anteile der Bevölkerung an Hochschulbildung teilhaben zu lassen. Das Gegenteil ist aber der Fall: Die amerikanische Integrationsbilanz ist besser als die deutsche. Der Studierendenanteil ist in den Vereinigten Staaten viel höher als bei uns, dasselbe gilt bezogen auf die Leistungen für Forschung und Entwicklung. Pro Kopf der Bevölkerung geben die USA im Hochschulbereich etwa doppelt so viel aus wie Deutschland. Passt das zu einer defekten Demokratie? Und passen die deutschen Wissenschaftsdefizite im internationalen Vergleich zu einer nicht-defekten Demokratie?
Man könnte diese Vergleichsbeispiele um ein weiteres aus der Sphäre der politischen Willensbildung ergänzen: das deutsche Negativmodell der Politikverflechtung in einem hochkomplexen Bundesstaat. Dieses „Modell“ zeichnet sich aus durch die viel zu starke Position der Länderexekutiven, die weitgehende Blockade des Parteienwettbewerbs sowie durch Mängel in der demokratischen Legitimation durch Wahlen. Auch die beabsichtigte Föderalismusreform wird daran nur in Teilbereichen etwas ändern – und in anderen Sektoren die Probleme verschärfen.
Die angeführten Beispiele reichen aus, um den Rückzug von jenem polit-moralischen Hochplateau nahe zu legen, auf dem Deutschland als nicht-defektes Demokratiemodell gilt, von dem die Vereinigten Staaten als defekte Demokratie noch einiges lernen könnten. Defizite der einen oder anderen Art wird man in allen Demokratien finden. Einige Defizitpunkte mögen dabei auch problematische nationale Mentalitätstraditionen oder Webfehler der politischen Willensbildung betreffen. Die deutsche Sozialstaatstradition beispielsweise geht auf durchaus vor- und antidemokratische Wurzeln zurück, wie wir nicht erst seit Götz Alys Buch über Hitlers „Volksstaat“ wissen.
Bescheidenheit in Gegenwartsvergleichen
Das spricht selbstverständlich nicht dagegen, brauchbare sozialstaatliche Elemente weiterzuführen, auch wenn sie in nichtdemokratischen Zeiten entstanden sind. Die historische Erinnerung könnte aber zur Bescheidenheit in Gegenwartsvergleichen Anlass geben – und auch für die Einsicht sprechen, dass zur Demokratie nicht nur Wohlfahrt, Sozialstaat und Wahlen, sondern vor allem auch Demokraten gehören. Allein anhand unterschiedlicher sozialstaatlicher Positionen wird man deshalb wohl kaum sinnvolle Kategorien von Demokratien bilden können. Die Unterschiede sind, bildlich ausgedrückt, auch in den Wurzeln mehrdimensional und nicht mit wenigen Kriterien zu erfassen.
„Republik, das ist nicht viel, Sozialismus ist unser Ziel“ – diese linkssozialdemokratische Parole aus der Weimarer Republik kann uns als Warnung dienen. Sie belegt eine falsche Prioritätensetzung, vielleicht auch ein falsches Demokratieverständnis. Kritik an bestimmten Regierungen, seien sie neoliberal oder neokonservativ, sollte nicht unversehens zur Kritik vermeintlich defekter demokratischer Systeme geraten. Anderenfalls stellen sich sehr schnell Trittbrettfahrer jedweder Art ein, denen es in Wahrheit weniger um die Verbesserung der Demokratie als um die Schaffung ganz anderer Koalitionen geht, denen wir nicht beitreten sollten.