Die geleugnete Verbindung
Die Irak-Krise, die deutsch-amerikanischen Spannungen und die dadurch ausgelösten innenpolitischen Auseinandersetzungen haben einen problematischen Aspekt im deutschen und europäischen Nahostdiskurs vorübergehend in den Hintergrund gedrängt: die Verbindung antisemitischer und israelfeindlicher Positionen. Auch die Organisatoren der Berliner Irak-Demonstration vom 15. Februar konnten trotz vieler, zum Teil erfolgreicher Abgrenzungsbemühungen nicht verhindern, dass auf dieser Veranstaltung "gegen Imperialismus und Zionismus" agitiert wurde und "Israel: Kindermörder"-Rufe die Prioritäten einiger Teilnehmergruppen deutlich machten. In Frankreich sieht Roger Cukierman, Vorsitzender des größten Verbandes jüdischer Gemeinden, eine "neue braun-rot-grüne Allianz" gegen Israel an Einfluss gewinnen. Pro-palästinensische Linksradikale, Umweltschützer und die extreme Rechte bildeten eine erschreckende Anti-Israel-Front, erklärte Cukierman im Januar bei einem Treffen mit dem französische Premierminister Jean-Pierre Raffarin und zwölf französischen Minis-tern. Raffarin kündigte bei dieser Gelegenheit an, sich künftig stärker mit dem Antisemitismus-Phänomen im französischen Schulwesen zu befassen. In einigen französischen Schulen haben nach Raffarins Schilderung Lehrer Probleme, wenn sie über den Holocaust oder über Israel sprechen wollen. Schulen und Lehrer sollten, so sein Appell, derartige unakzeptable Haltungen bekämpfen.
Kombinationen von Antisemitismus und Antizionismus sind in Deutschland am extremen rechten Rand, für den etwa die NPD steht, eine bekannte Erscheinung. Die inzwischen verbotene "Partei der Befreiung" (hisb ut-tahrir) war für Horst Mahler und andere NPD-Engagierte ein willkommener Gesprächspartner. Bei seiner Wanderung vom linken Terrorismus der siebziger Jahre zur NPD brauchte Mahler seine antizionistischen und antisemitischen Auffassungen nicht zu ändern. Zu ihnen gehört die demonstrativ geäußerte Meinung, über deutsche Politik werde nicht im Zentralrat der Juden entschieden.
Für Joseph Fischer war Entebbe die Wende
Ein Schlüsselerlebnis für Außenminister Joseph Fischer war die Flugzeugentführung von 1976, die mit der Geiselbefreiung in Entebbe durch israelische Streitkräfte endete. Deutsche und arabische Terroristen hatten damals, vor der Befreiung, nicht nur die Passagiere mit israelischem Pass, sondern auch die Juden mit anderer Staatsangehörigkeit als potentielle Mordopfer ausgesondert. Große Teile der deutschen Achtundsechziger entschieden sich nach dem Sechs-Tage-Krieg schnell und radikal für die arabische Seite, eine Haltung, die von der deutschen Terrorszene geteilt wurde. Ulrike Meinhof bezeichnete den Terroranschlag auf die israelische Olympiamannschaft von 1972 als geeignetes Vorbild für künftige RAF-Aktionen.
Tragen die deutschen Linken (im weitesten Sinne) Fischers auf die Entebbe-Erfahrung gestützte Abgrenzung gegen Israelfeindschaft und Antisemitismus inzwischen mit? Sind antisemitische und zugleich antizionistische Positionen auf die extreme Rechte beschränkt? Ein Blick auf die öffentliche Debatte, vor allem in den Medien, und auf Meinungsumfragen ergibt in dieser Hinsicht kein eindeutiges Bild.
Kritik an Israel ist in der deutschen Diskussion seit langem kein Tabu. In der Nahost-Berichterstattung der elektronischen Medien überwiegt eher die israelkritische und propalästinensische Position. Besonders deutlich wird dies, wie Untersuchungen zeigen, in der Bildpräsentation. Sie stellt häufig die überlegene militärische Potenz Israels der scheinbar schwachen arabischen Position gegenüber. Nicht selten wird der arabische Terror mit israelischen Maßnahmen gegen den Terror auf eine Ebene gestellt, wofür beispielhaft die immer wiederkehrende Formel von der "Gewaltspirale" steht. Verbreitet ist die chronologische Umkehr der Ereignisse: Zuerst werden israelische Aktionen dargestellt, danach, wenn überhaupt, vorausgegangene arabische Terroranschläge.
Oft bezeichnet die Berichterstattung im Fernsehen oder in Nachrichtenagenturen - und vor kurzem auch eine deutsche Regierungserklärung - israelische Militärinterventionen gegen den Terror als "Vergeltung". Militäroperationen der westlichen Kosovo- oder Afghanistan-Allianz wurden und werden demgegenüber kaum jemals mit dem Begriff "Vergeltung" belegt. "Vergeltung" liegt in der Nähe von "Rache". Seit langer Zeit gibt es ein beliebtes, wenn auch religionshistorisch unhaltbares christliches Argumentationsmuster, demzufolge der Gott der Rache und Vergeltung im Alten Testament vom Gott der Liebe und des Friedens im Neuen Testament abzugrenzen sei. Dass die Maxime der israelischen Vergel-tungspolitik "Auge um Auge, Zahn um Zahn" laute, ist deshalb ein weiteres in deutschen Medien verwandtes antisemitisches Klischee.
Eine proarabische Tendenz lässt sich auch in den französischen Medien feststellen. So können die Ergebnisse einer Umfrage kaum überraschen, die im letzten Jahr von der amerikanischen Anti-Defamation League (ADL) in einigen europäischen Ländern, auch in Deutschland und Frankreich, durchgeführt wurde. Danach ist die Neigung zu proarabischen Positionen in Europa doppelt so stark ausgeprägt wie die umgekehrte Einstellung - und dies besonders ausgeprägt dann, wenn die Information über den Nahostkonflikt vor allem aus der täglichen Medienberichterstattung bezogen wird. Die dabei vermittelten historisch-politischen Kenntnisse über den Nahostkonflikt lassen allerdings zu wünschen übrig. Viele der Befragten sehen sich über die arabisch-israelische Auseinandersetzung offenbar selbst unzureichend informiert. Im europäischen Durchschnitt vertreten nach der ADL-Studie ungefähr 30 Prozent der Befragten typisch antisemitische Positionen; fast 40 Prozent glauben, dass Juden zu viel über den Holocaust sprechen.
Nicht jede Israelkritik ist antisemitisch
In der deutschen Politik besteht inzwischen ein breiter Konsens gegen die israelische Siedlungspolitik und, nach neueren Umfragen, für die Gründung eines unabhängigen arabisch-palästinensischen Staates. Die politischen Konsenskonturen mögen, wie einige meinen, in Begründung und Akzent tendenziös sein - antisemitisch sind sie jedoch gewiss nicht. Es kann in einigen Konstellationen schwierig sein, zwischen Israelkritik und Antisemitismus zu unterscheiden. Aber auch in der Sache unberechtigte, radikal und polemisch formulierte Kritik an Israel ist nicht in jedem Fall als antisemitisch zu qualifizieren. Eine Grenze wird jedoch dort überschritten, wo traditionelle antisemitische Klischees sichtbar werden und wo man einseitige Maßstäbe anlegt, die ausschließlich für Israel - für sonst kein anderes Land - gelten. Dabei soll Israel negativ ausgesondert und delegitimiert werden.
Beispiele dafür sind Weltherrschafts- und Weltverschwörungsanklagen gegen Israel nach dem Muster der "Weisen von Zion", wie sie etwa der in vielen arabischen Ländern ausgestrahlten ägyptischen Fernsehserie Der Reiter ohne Pferd zugrunde liegen. Dazu gehören ebenso Stellungnahmen, die Israels Existenzrecht oder sein Recht auf Selbstverteidigung in Frage stellen. Dazu gehören schließlich Positionen, die regelmäßig Israel unter allen möglichen Gesichtspunkten, etwa wegen der angeblichen "Demütigung" der Palästinenser, scharf kritisieren, aber vergleichbare oder weitaus schwerer wiegende Tatbestände anderer Konfliktpar-teien mit keinem Wort erwähnen - etwa die Massa-krierung, Unterdrückung und "Demütigung" der Völker im Südsudan durch die Regierung in Khar-toum oder arabische Terroranschläge. Derselben Kategorie ist die Gleichsetzung Israels mit Hitlerdeutschland zuzuordnen.
Jürgen W. Möllemanns Äußerungen, so wie Michel Friedman als Jude auftrete und argumentiere, fördere er den Antisemitismus, und er, Möllemann, würde sich auch wehren, wenn sein Land besetzt wäre wie jenes der Palästinenser, demonstrieren die neue Verbindung von Antisemitismus und Antizionismus in der öffentlichen Debatte. Möllemanns Position gibt - vielleicht - nicht diejenige der deutschen Mehrheit wieder, stößt aber bei einer beachtlichen Minderheit auf Zustimmung. Zur Erinnerung: Zum Ausschlussverfahren gegen Möllemann führte der Umstand, dass dieser seine Flugblattaktion nicht mit der FDP-Spitze abgestimmt hatte, weit weniger dagegen der Inhalt der erwähnten, bereits viel früher gemachten und dem Flugblatt zugrunde liegenden Äußerungen.
Der muslimische Antisemitismus wird ignoriert
Andere Schlagseiten der deutschen Diskussion erweitern das Problemspektrum. Es gibt weder rechts noch links eine relevante Debatte über den arabisch-muslimischen Antisemitismus. Der britisch-amerikanische Orientalist Bernard Lewis hat bereits vor über zwanzig Jahren auf die islamische Rezeption der traditionellen christlichen Antisemitismuskonzeption und seiner modernen Varianten aufmerksam gemacht. Die Propaganda Hitlerdeutschlands hat bei diesem Prozess eine gewisse Rolle gespielt. Im arabischen Terror, der sich bereits sehr früh nicht nur gegen israelische, sondern auch gegen nicht-israelische jüdische Opfer richtete, war, so Lewis, die Antisemitismusübernahme spätestens seit den siebziger Jahren (etwa in Entebbe) zu erkennen. Oft als einsamer Rufer weist auch der syrischstämmige deutsche Politikwissenschaftler Bassam Tibi seit längerem auf die mit dem islamischen Antisemitismus verbundenen Gefahren hin. Worin diese bestehen, zeigen etwa die zunehmenden Spannungen zwischen Muslimen und Juden in Frankreich. Auch die Chancen für einen dauerhaften Nahostfrieden werden nicht gefördert, wenn eine Seite - die israelische - den Verdacht haben kann, dass ihr Gegenüber jedes Abkommen nur als Zwischenschritt auf dem Weg zur Vernichtung des Gegners sieht.
Die Tendenz der palästinensischen und vieler anderer arabischer Medien, arabischer Schulbücher oder religiöser Ansprachen zur Deligitimierung Israels ist in Deutschland und im übrigen Europa bekannt. Sie wird aber kaum als Grund zur Beunruhigung wahrgenommen. Zu der erwähnten antisemitischen Fernseh-serie aus Ägypten gab es kritische Reaktionen der USA, aus Israel und den Niederlanden, aber nicht aus Deutschland. Gegen staatliches Handeln spreche hier, so lauteten deutsche Diskussionsbeiträge, der Aspekt der Meinungsfreiheit - eine Argumentation, die in der innerstaatlichen Debatte wohl kaum akzeptiert würde.
Dass die deutsche Außenpolitik aus historischen Gründen für Israel und den Nahen Osten Verantwortung trage, wird oft betont. Wer so argumentiert, bezieht dies meist auf den Holocaust, den viele als Hauptursache für die Gründung des israelischen Staates ansehen. Deutschland war aber, worauf Bernard Lewis jüngst hinwies, bereits vor dem Holocaust Akteur im Nahen Osten. Der 1937 vorgelegte britische Teilungsvorschlag für das frühere Mandatsgebiet Palästina zwischen einem jüdischen und einem arabischen Staat scheiterte am Widerstand der arabisch-palästinensischen Führung unter Amin al-Husseini, einem Verwandten Arafats. Der Vorschlag wäre für die arabische Seite weitaus günstiger gewesen als alle folgenden territorialen Teilungs-konzeptionen. Er hätte Millionen Juden möglicherweise das Leben retten können.
Amin al-Husseini, von den Briten als Mufti von Jerusalem eingesetzt, wurde in seiner Ablehnung des britischen Zwei-Staaten-Vorschlags von Hitlerdeutschland tatkräftig unterstützt, auch durch finanzielle Mittel. Ohne diese Hilfe wäre eine jüdisch-arabische Einigung vielleicht möglich gewesen. In jedem Fall hätte eine britische Entscheidung ohne die deutsche, gegen die Gründung Israels gerichtete Intervention leichter verwirklicht werden können. Die erste Chance für einen historischen, für die Araber vorteilhaften Kompromiss im arabisch-israelischen Konflikt scheiterte also auch an der deutschen, sich proarabisch definierenden Haltung.
Wichtige außenpolitische Positionen beruhen in der Regel auf historischen Erfahrungen. Notwendig ist aber ebenso eine realistische Einschätzung der aktuellen Lage. Fraglich ist, ob die deutsche Diskussion über Gefahren und Probleme im Nahen Osten, etwa über wachsende antisemitische und antiwestliche Tenden-zen, dem aktuellen Stand entspricht. Es geht dabei nicht in erster Linie um die Abgrenzung gegenüber dem Antisemitismus. Die Debatte hat aber auch auf diese Frage Auswirkungen. Wer im Antisemitismus bloß den "Sozialismus der Dummen" erkennt, wie dies ein Teil der Linken früher einmal definiert hat, der unterliegt nicht nur Wahrnehmungsdefiziten. Er wird auch auf die Konfliktentwicklung unter Umständen nicht rechtzeitig und angemessen reagieren können. Ähnliches gilt heute für manche Linke und Nicht-Linke, die neue Gefahren in der Verbindung von aggressiver Israelfeindschaft und Antisemitismus nicht wahrnehmen - zum Teil nicht wahrhaben wollen.
Warum gibt es keine tibetanischen Terroristen?
Eine Rolle spielen dabei Vorstellungen über den Islam und insgesamt die "Dritte Welt", die vielleicht im Ansatz sympathisch sind, im Ergebnis jedoch naiv. Terror, so lautet eine in diesem Kontext verbreitete Argumentation, sei im wesentlichen oder ausschließlich auf Unterdrückung und Armut zurückzuführen. Aber wäre dies wahr, müssten viele Hochhäuser in Europa und Nordamerika längst von nicht-muslimischen Terroristen aus dem Südsudan, aus dem indonesischen Teil Neuguineas oder aus Tibet in Schutt und Asche gelegt worden sein. Eine verwandte These lautet, dass es im Islam-Europa-Verhältnis und in den islamischen Ländern ohne den arabisch-israelischen Konflikt keine wesentlichen Probleme, jedenfalls keinen Terror gäbe. Auch diese Position muss sich allerdings der Realität stellen, beispielsweise dem Terror und Bürgerkrieg in Algerien, die vermutlich bereits mehr Opfer gefordert haben als der algerische Unabhängig-keitskrieg. Aufschlussreich ist auch die Liste der Feinde in den Erklärungen von Osama bin Laden und seiner Geistesverwandten. Ganz oben steht dort nicht Israel, ganz oben stehen dort die "Kreuzzügler", im Klartext: der Westen.
Auffällig ist ebenso, wie stark sich das deutsche Interesse auf die arabisch-israelischen Spannungen konzentriert und wie wenig, im Vergleich, das Engagement hinsichtlich anderer Auseinandersetzungen entwickelt ist. Wer kümmert sich schon um die Konflikte im Sudan, im westlichen Neuguinea, in Tibet, in Sinkiang oder Nigeria?
Der französische Autor Gérard Chaliand hat nach dem Sechs-Tage-Krieg die explizit antijüdische Agita-tion in den jordanischen Lagern der palästinensischen Organisationen verständnisvoll als "Kriegsrassismus" beschrieben. Dieser sei vergleichbar mit dem Kriegs-rassismus der Franzosen gegen die Deutschen vor dem ersten Weltkrieg. Bei allen Unterschieden der beiden Fälle entspricht eine derartige Bewertung in ihrer Dis-tanz zu Realität und Gefahrenpotential ungefähr der These vom "Sozialismus der Dummen".
Noch einmal: Nicht jede Israelkritik ist antisemitisch, auch nicht die überzogene und polemische. Die Diskussion muss unterschiedlichen Positionen zur Lage im Nahen Osten Raum geben und lassen, sowohl proarabischen als auch proisraelischen Stellungnahmen. Feindbilder, ob alt oder neu, und unangemessene historische Vergleiche sollten die Debatte nicht belasten. Die Grenze wird aber dort überschritten, wo antisemitische Einstellungen und diskriminierende Israelfeindschaft ins Spiel kommen. Dass diese Grenze aufrecht erhalten bleibt, liegt in unserem eigenen Interesse, wie nicht zuletzt das französische Beispiel zeigt. Noch im vergangenen Jahr wurde von offizieller französischer Seite die Auffassung vertreten, Antisemitismus gebe es in Frankreich nicht. Diese Position hat Ministerpräsident Raffarin im Januar 2003 bemerkenswert offen korrigiert.