Achtzig Millionen Tatverdächtige

Lauschen, kontrollieren, überwachen: Wenn es nach den Plänen von Europol und Europarat geht, bleibt im Internet bald niemand mehr unbeobachtet. Die digitale Privatsphäre muss dringend geschützt werden

"Man darf nicht das Gras wachsen hören, sonst wird man taub."

Gerhard Hauptmann

Januar 2002: Die Deutsche Post AG wird gesetzlich dazu verpflichtet, alle privaten sowie geschäftlichen Brief- und Paketsendungen zu registrieren. Die Aufzeichnungen muss sie dann außerdem sieben Jahre lang für Ermittlungsbehörden archivieren. Wer einmal der falschen Person einen Brief geschickt hat, kann selbst nach Jahren noch ins Visier eines Nachrichtendienstes geraten. Alle Zeitungen und Fernsehsender berichten über die neue Regelung. Wegen der öffentlichen Proteste wird die Überwachung schnell wieder eingestellt.

Ein völlig irreales Szenario? Vergleichbare Pläne gibt es tatsächlich, aber die Medien - mit Ausnahme einiger weniger Fachmedien - berichten nicht darüber. Weil es eben nicht um real anfassbare Briefe und Pakete geht, sondern um E-Mails und Telefonate. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit und vorbei an den Parlamenten planen Ministerialbürokratien und Polizeibehörden die massive Kontrolle des Internets und der Telekommunikation. Jede Art von elektronischer Kommunikation zu belauschen, zu durchleuchten und zu registrieren - das ist das Ziel der Überwacher.

Das Zweckbindungsprinzip des Datenschutzes würde dann vor dem ungebremsten Datendurst der Polizei, des Verfassungsschutzes und der Nachrichtendienste kapitulieren. An die Stelle unbeobachteter individueller Kommunikation als wichtiger Grundlage der freiheitlich-demokratischen Grundordnung träte damit potenziell die digitale Vollüberwachung als Normalfall.Europol nutzt Kongresse, um seine Forderung vorzutragen. Der Europarat entwirft unter deutscher Beteiligung eine Cyber Crime Convention (CCC), deren Realisierung aus Sicht vieler Datenschützer verfassungswidrig wäre. Und auch das Bundeswirtschaftsministerium hat mit seinem Entwurf für eine Telekommunikationsüberwachungsverordnung (TKÜV) dem früheren Entwurf aus CDU/FDP-Zeiten, für den der Hardliner Manfred Kanther verantwortlich war, die Giftzähne nicht annähernd ausreichend gezogen. Wobei das Ministerium im Fall der TKÜV wenigstens aktiv die öffentliche Diskussion sucht.

Als würde die Post jeden Brief lesen, kopieren und weitergeben

Ein weiteres Beispiel für die Brisanz der Lauscherpläne: Was wäre wohl in Deutschland los, wenn die Briefverteilzentren, dazu angewiesen von Behörden, gezwungen würden, alle Briefe zu öffnen, auf gewisse Inhalte zu überprüfen, gegebenenfalls zu kopieren und dann an die Behörden weiterzugeben? Welcher Protestschrei bräche los, wenn man Postbedienstete zwingen würde, die Rechtmäßigkeit der Maßnahme selbst innerhalb weniger Stunden zu prüfen? Und wer würde nicht eine Verordnung für gefährlich halten, die die Post sogar zwingen würde, spezielle Türen und Sondersortiermaschinen für viel Geld in die Briefzentren einzubauen, damit die Behörden unbeobachtet die Briefe untersuchen können?

Nicht nur die staatliche Neugier wäre dann das Problem. Leider würde sich schnell herausstellen, dass auch Kriminelle durch die Türen in die Briefzentren eindringen, die Sondersortiermaschinen nutzen und wichtige Sendungen stehlen könnten.

Ein genau solches Horroszenario wird für E-Mails und Telekommunikation in CCC und TKÜV gefordert. Da elektronische Kommunikation in kleinen Datenpaketen abgehandelt wird, müssen die Internetprovider alle Datenpakete aller Teilnehmer überprüfen. Weil damit für die Provider Aufwendungen in Milliardenhöhe nötig werden und weil diese Unternehmen - wohl verfassungswidrig - gezwungen wären, in kürzester Zeit die Gesetzmäßigkeit einer Überwachung zu beurteilen und dann noch selbst bei der Überwachung helfen müssten, ist das Bundeswirtschaftsministerium heftig in die Kritik der Wirtschaft geraten. Derzeit beginnen daher auch die ersten zaghaften Rückzugsgefechte des Ministeriums. Die noch in der Regierungszeit von Christdemokraten und FDP geplante Überwachung firmeninterner Netzwerke hat das Ministerium bereits aufgegeben.

Im IT-Milieu gibt es die Neue Mitte wirklich - von Eingriffen ins Private hält sie wenig

Ein pikantes und paradoxes Folgeproblem dieser Pläne wäre, dass die Lauscher mit ihrem Überwachungseifer die elektronischen Netze anfälliger machen würden für Hacker, Kriminelle und Cyberterroristen. Während Wissenschaftler und Softwarefirmen daran arbeiten, elektronische Netze wie das Internet sicherer zu machen, sollen in Deutschland Schnittstellen für Überwachungsbehörden geschaffen werden, die ohne weiteres zum Einfallstor für andere Eindringlinge werden können. Alle Arten von Infrastruktur wären dann gefährdet, sowohl Wirtschaftsspionage wie Trickbetrug würden gleichsam per Verordnung erleichtert.

Leider ist auch die SPD bisher noch nicht ausreichend gegen diese Pläne vorgegangen. So gefährdet die SPD in Fachkreisen ihr mühsam erworbenes Image einer IT-freundlichen Partei. Angesichts des starken Wachstums der Branche wird die Verankerung der SPD in den IT-Milieus aber immer wichtiger für die Wahlchancen der Partei. Hier nämlich existiert sie in der Tat, die Neue Mitte der gut ausgebildeten neuen Eliten. Und die mögen es noch weniger als andere Bürger, wenn ihre Privatsphäre und ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt werden.

Mit Computern verübte Kriminalität wird von Polizei und Ministerialbürokratie mit großer öffentlicher Anteilnahme zum Anlass genommen, eine Atmosphäre für immer mehr Überwachung zu schaffen. Der Schutz der Bürger durch den Staat wird dabei so stark in den Vordergrund gestellt, dass der Schutz des Einzelnen vor dem Staat zu kurz zu kommen droht.

Denn die Überwacher planen beispielsweise auch, in den elektronischen Medien keine Anonymität mehr zuzulassen. Kreditkartennummern und Zahlungsvorgänge sollen registriert, die Standortmeldung von Funktelefonen genutzt und elektronische Transaktionen überwacht werden. Das wäre vergleichbar mit einer Situation, in der per Gesetz geregelt wäre, dass der Kauf eines Päckchens Kaugummi am Kiosk nur bei Vorlage des Personalausweises erfolgen darf. Der Kiosk würde auf Wunsch der Behörden den Kauf mit Uhrzeit melden. Beim Einkauf per EC-Karte und Geheimzahl stünde direkt neben dem Kartenleser eine kleine Videokamera, von der aus Betrag und Geheimnummer registriert werden könnten. Und auch hier gilt: Neben Behörden werden auch Kriminelle versuchen, an diese Daten heranzukommen. Es würde ihnen allzu leicht gemacht.

Bezeichnend ist, dass keiner der Befürworter solcher Überwachungsmethoden überzeugend erklären kann, wer denn da eigentlich zu welchem Zweck überwacht werden soll. Ähnlich wie bei den Telefonüberwachungen, deren Zahl ohne nachgewiesenen Erfolg ständig steigt, gibt es kein zwingendes Zielszenario. Die Nachrichtendienste wollen beispielsweise täglich 100.000 Fälle von Telekommunikation automatisch nach Verdächtigem durchsuchen, ohne auch nur einen Anfangsverdacht gegen den Absender der Information zu haben.

Dabei können technisch versierte Nutzer elektronischer Medien sich der Überwachung einfach entziehen, etwa durch die Verschlüsselung der Daten. Das geht nämlich auch ohne staatliche Unterstützung bestens. Die privat nutzbaren Verschlüsselungen sind so perfekt, dass selbst die Nachrichtendienste sie mit vertretbarem technischen Aufwand nicht knacken können. Kriminelle werden diese Technologie ganz selbstverständlich nutzen, wenn die Lauschaktionen erst einmal wirklich gestartet werden. Dann bleiben zum Überwachen bloß noch die Normalbürger übrig, die ohne Hilfestellung das Verschlüsseln nicht beherrschen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wäre verletzt. Und zwar hochgradig.

Notfalls werden Nachrichten zwischen harmlosen Familienfotos versteckt

Die logische Konsequenz müsste im Verzicht auf solche rechtlich undifferenzierten Überwachungsmethoden bestehen, die technisch noch nicht einmal effizient sind. Die Lauscher wollen das Problem aber anders angehen. Europol zum Beispiel fordert das Verbot von Verschlüsselungen oder die Hinterlegung der digitalen Schlüssel an einem Ort, der für Nachrichtendienste elektronisch zugänglich ist. Mit diesem Vorschlag beweist Europol aber nur technologische Inkompetenz. Denn selbst im Verbotsfall wird das Verschlüsseln nicht verschwinden - es wird nur subtiler werden, also etwa Nachrichten praktisch unsichtbar im digitalen Datenstrom harmloser Familienbilder versteckt. Bei hinterlegten Schlüsseln von Millionen Bundesbürgern wären diese elektronischen Archive im Übrigen ein Lieblingsziel von Hackerangriffen.

Den Kampf gegen E-Kriminelle müssen auch Überwachungsgegner führen

Allen Überwachungsplänen ist eines gemeinsam: Jeder Nutzer von Internet und Telekommunikation ist für die Überwacher potentiell verdächtig, keiner bleibt undurchleuchtet. Das wäre eine Verdrehung des Rechtsstaatsprinzips, die auch negative wirtschaftliche Schäden haben wird. Wo das Vertrauen fehlt, werden sich E-Business und E-Commerce nicht so schnell ausbreiten und dadurch Jobs schaffen, wie es sonst möglich wäre.

Die Politik muss sich des Themas entschlossen annehmen. Solche Überwachungspläne dürfen nicht an den Parlamenten vorbei realisiert werden, so wie das derzeit im Europarat und in den Ministerien geplant wird. Dabei müssen allerdings auch die Gegner der Überwachung noch eine überzeugende Antwort darauf finden, wie man mit Kriminalität in den elektronischen Medien umgeht. Das Problem ist nicht zu leugnen. Doch mit groß angelegten Lauschangriffen, denen die eigentlichen Zielpersonen entgehen können, die Normalbürger aber nicht, wird es nicht zu lösen sein. Dieser Weg ist schlecht und gefährlich.

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