Für ein abgabefreies Existenzminimum
Maria L. kann nur den Kopf schütteln, wenn sie in der Bild-Zeitung liest, dass Politiker, Wirtschaftsvertreter und Chefredakteure wieder einmal eine Steuersenkung fordern, damit die Menschen mehr Geld ausgeben können. Sie hatte von den Steuersenkungen unter den SPD-geführten Bundesregierungen seit 1998 profitiert: Inzwischen zahlt die alleinerziehende Verkäuferin auf ihr Bruttoeinkommen von 915 Euro keine Steuern mehr und würde daher von einer weiteren Steuersenkung gar nicht profitieren, obwohl sie mit dem verdienten Geld hinten und vorne nicht mehr auskommt; ihre Sparquote liegt bei null Prozent. Was L. vielmehr wirklich bedrückt: Auf ihr Einkommen zahlt sie eine Art „flat tax“ von gut 20 Prozent, nämlich die Sozialabgaben. Genau 183 Euro werden ihr jeden Monat abgezogen.
Hier muss die SPD ansetzen, wenn sie Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen entlasten will. Weitere Senkungen des niedrigsten Spitzensteuersatzes in der Geschichte der Bundesrepublik sind weder notwendig noch konjunkturell zielführend. Vielmehr sollte die SPD – im Augenblick und in den anstehenden Wahlkämpfen – auf ihre Orientierungspunkte für ein Steuer- und Abgabenkonzept zurückgreifen, die sie im Jahr 2008 vorgelegt hat. Deswegen schlagen wir parallel zum steuerfreien Existenzminimum ein abgabefreies Existenzminimum vor, bei dem der Staat mit Steuermitteln für die Ansprüche gegenüber den Sozialsystemen aufkommt. Wir wollen, dass sich Leistung für alle Menschen lohnt und dass gute Arbeit auch gut entlohnt wird. Dies wird sich letztlich auch für die Wirtschaft auszahlen.
Für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zählt in erster Linie die Summe, die sie Netto im Geldbeutel haben. Es führt zu Frust und Verunsicherung, wenn nur an einzelnen Stellschrauben – mal bei dieser, mal bei jener Steuer, mal bei diesem, mal bei jenem Sozialversicherungsbeitrag – gedreht wird und dabei der Berg an Ausnahmeregelungen und Sonderbeiträgen ins Unendliche wächst, während in den Portemonnaies der Menschen immer weniger vom Bruttolohn ankommt. Wir brauchen so schnell wie möglich ein übersichtliches und vor allem gerechtes Steuer- und Abgabenkonzept, wenn wir die Glaubwürdigkeit der Steuerungsfähigkeit von Politik in diesem zentralen wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich nicht verlieren wollen.
Sozialabgaben sind das eigentliche Problem
Wenn wir von „Abgaben“ sprechen, gilt es zu beachten, dass dies im Grunde der Oberbegriff ist, unter den verschiedene Abgabekategorien fallen, auch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Unter öffentlich-rechtlichen Abgaben sind also alle Geldleistungen zu verstehen, die der Bürger aufgrund von Rechtsvorschriften an den Staat abzuführen hat. Steuern wie Beiträge reduzieren das Einkommen des Bürgers; sie haben damit die gleiche ökonomische Wirkung.
Für die arbeitenden Menschen in Deutschland sind Sozialabgaben ein weit größeres Problem als die Steuern. Die Regierung Kohl hatte die Sozialabgaben von 35,9 Prozent im Jahr 1989 auf 42,1 Prozent im Jahr 1998 hochgetrieben – mit äußerst negativen Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt. Aufgrund der Reformen des vergangenen Jahrzehnts und einer verstärkten Steuerfinanzierung liegt die Belastung mittlerweile wieder bei rund 39 Prozent. Das ist aber immer noch zu viel. Bis zu einem Jahresbruttolohn von 40.000 Euro sind bei Ledigen die Sozialabgaben höher als die Steuerbelastung. Ein verheirateter Angestellter mit 35.000 Euro Jahresbruttoverdienst zahlt fast 7.000 Euro Sozialabgaben – aber nur rund 3.000 Euro Steuern. Bei einer Absenkung der Abgaben um beispielsweise 4 Prozent macht dies bei 2.500 Euro im Monat eine Entlastung von 50 Euro aus.
Durch die Progression kommen Steuerentlastungen vor allem Gutverdienenden zu Gute; niedrige Sozialabgaben nützen hingegen allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, besonders in den unteren und mittleren Einkommensgruppen, sowie arbeitsintensiven Unternehmen. Wir wollen daher vor allem die Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Sozialabgaben reduzieren, ohne dabei Leistungen einzuschränken. Im Übrigen zahlen 24 Millionen Haushalte in Deutschland gar keine Steuern, weil sie Rentner sind oder zu niedrige Einkommen beziehen. Diese Menschen würden von Steuersenkungen gar nicht profitieren, könnten aber in ein abgabefreies Existenzminimum einbezogen werden.
Geringe Steuerquoten sind kein Wert an sich
Deutschland hat mit 22 Prozent eine der niedrigsten Steuerquoten unter den Industrienationen. Eine noch geringere Steuerquote stellt daher keinen Wert an sich dar. Vielmehr bestünde sogar die Gefahr, dass diese zu Lasten des Staates ginge, der seine Aufgaben dann nicht mehr angemessen erfüllen könnte. Substanzverlust bei der Infrastruktur und mangelnde Investitionen in Bildung und Forschung wären die Folgen, die sich Deutschland nicht leisten kann. Weit sinnvoller ist es, die hohe Abgabenbelastung in Deutschland zu berücksichtigen und dafür zu sorgen, dass die Entlastungen dort ankommen, wo sie am dringendsten benötigt werden.
Dabei müssen wir auch bedenken, dass ein zu hoher Teil der Sozialleistungen sowie der gesamtstaatlichen Aufgaben, die nicht direkt mit der jeweiligen Sozialversicherungsleistung zu tun haben, durch Beiträge zur Sozialversicherung mitfinanziert werden. Dies wirkt sich beschäftigungsfeindlich aus, denn der Faktor Arbeit wird damit zusätzlich belastet. Dieser Teil der Beiträge stellt im Grunde eine Lohnsummensteuer dar, also eine Steuer auf die Bereitstellung von Arbeitsplätzen, wie sie aufgrund ihrer negativen Beschäftigungswirkungen im Jahr 1980 abgeschafft worden war. Außerdem werden dadurch niedrige Einkommen besonders belastet – eine Belastung, die über die Notwendigkeit der Finanzierung von Sozialleistungen hinausgeht.
Ausweichen in die Schattenwirtschaft
Bei steigendem Einkommen fällt die Belastung durch Beiträge zur Sozialversicherung, während die Steuern progressiv wachsen. Die Steuern und Abgaben auf ein mittleres Einkommen sind dann in der Summe relativ betrachtet höher als die auf Spitzeneinkommen. Dies pervertiert den Gedanken der Belastung nach Leistungsfähigkeit!
Hohe Sozialversicherungsbeiträge sind auch dann ein Problem, wenn der mit den Beiträgen verbundene „Soziallohn“ – jener Teil des Bruttoeinkommens, der zur Finanzierung der „Sozialversicherung“ verwendet wird – nicht mehr uneingeschränkt den Präferenzen der „Sozialversicherten“ entspricht. In diesem Fall wäre die Konsumentensouveränität eingeschränkt, denn die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können nicht selbst entscheiden, in welcher Höhe sie bereit sind, Sozialversicherungsbeiträge zu leisten, beziehungsweise es gibt keine freie Wahl zwischen unterschiedlichen Sozialversicherungen. Wie bei zu hoch empfundenen Steuerlasten können Ausweichreaktionen in die Schattenwirtschaft die Folge sein.
Mit einem abgabefreien Existenzminimum würde das Prinzip eines Freibetrags, das in der Steuerpolitik selbstverständlich ist, auch auf die Sozialversicherung übertragen – und das Steuer- und Abgabensystem insgesamt harmonisiert. Die derzeitige Situation konterkariert die Bemühungen im Steuerrecht, untere Einkommensschichten abgabefrei zu stellen, wenn man von den Einkommen absieht, die über so genannte Minijobs erarbeitet werden.
Studien belegen, dass ein abgabefreies Existenzminimum in Form eines Freibetrags auf Sozialbeiträge zu positiven Beschäftigungseffekten auf dem Arbeitsmarkt führen würde, stärker noch als eine lineare Senkung der Sozialversicherungsbeiträge. So hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung das DGB-Modell über einen Freibetrag auf Sozialversicherungsbeiträge aus dem Jahr 2003 untersucht. Die Wissenschaftler kommen zu dem Ergebnis, dass bei einem Freibetrag von beispielsweise 250 Euro die Arbeitsnachfrage um 670.000 Personen und das Arbeitsangebot um 320.000 Personen steigt.
Arbeitsnachfrage und -angebot würden steigen
Die Einführung eines abgabefreien Existenzminimums könnte zunächst nur für den Arbeitnehmeranteil der Sozialabgaben erfolgen, um dort schnell für Kaufkraft zu sorgen. Wenn außerdem die Beitragsbemessungsgrenze um den Betrag angehoben würde, der unten als abgabefreier Betrag hinzukommt, würde niemand stärker belastet, der durch Steuern auszugleichende Einnahmenausfall wäre aber deutlich geringer.
Sowohl die Arbeitsnachfrage als auch das Arbeitsangebot würden also steigen. Die Arbeitsnachfrage würde sich erhöhen, wenn die Unternehmen für jeden Beschäftigten einen geringeren Beitrag abführen müssten. Der relative Entlastungseffekt bei den Arbeitskosten fällt umso höher aus, je niedriger das Arbeitsentgelt je Beschäftigten ist. Insgesamt würden niedrige bis mittlere Einkommen überdurchschnittlich entlastet. Mit einem abgabefreien Existenzminimum in Form eines Abgabenfreibetrags würde sich die Gesamtabgabekurve nach rechts verschieben: Mit demselben Bruttoeinkommen wäre also eine geringere Abgabesumme zu erbringen.
Besonders profitieren würden auch arbeitsintensive Betriebe und Handwerksbetriebe, Menschen mit geringen Qualifikationsanforderungen im Niedriglohnbereich, außerdem auch Teilzeitbeschäftigte oberhalb der Geringfügigkeitsschwelle. Eine weitere Förderung von Niedriglohnjobs wäre damit hinfällig.
Perspektiven für Menschen und Wirtschaft
Mit dem abgabefreien Existenzminimum wollen wir eine Entlastung der Leistungsträger vornehmen. Zu den Leistungsträgern zählen für uns Krankenschwestern, Feuerwehrleute, Facharbeiter und viele mehr. Für niedrige und mittlere Einkommensbezieher sind die Sozialabgaben heute ein größeres Problem als die Steuerbelastung. Eine lineare Absenkung der Sozialabgaben, gekoppelt mit einem entsprechenden abgabefreien Existenzminimum in Form eines Abgabenfreibetrags bringt hier echte, spürbare Entlastung. Die Menschen müssen für ihre gute Arbeit wieder mehr Netto in der Tasche haben.
Da wir keine Abstriche bei der sozialen Sicherung vornehmen wollen, müssen alle Möglichkeiten auf dem Prüfstand stehen, um Reiche und Vermögende stärker als bisher solidarisch an der Finanzierung der Zukunftsaufgaben beteiligen zu können. Dies ist ein Gebot der Gerechtigkeit – ebenso wie Existenz sichernde Löhne. Deshalb setzen wir uns für einen flächendeckenden Mindestlohn ein. Damit sorgen wir sowohl auf der Einkommensseite als auch auf der Seite der Steuern- und Abgaben dafür, dass sich Arbeit wieder loht. Vor allem in Zeiten problematischer wirtschaftlicher Entwicklungen müssen Menschen Perspektiven haben und wissen, wofür sie arbeiten. Dies stärkt die Menschen und unsere Wirtschaft.