Der Mythos von der linken Basis
Es ist ein altbekanntes Paradoxon: Je komplexer die Fragen, desto einfacher geraten manchen die Antworten. Exemplarisch beobachten lässt sich dieser Widerspruch bei der notwendigen Debatte darüber, wie die SPD aus dem 25-Prozent-Käfig ausbrechen kann, in dem sie gegenwärtig gefangen ist. Reflexhaft wird in Teilen der Partei eine Forderung laut, die schon zu Zeiten der rot-grünen Regierung immer dann zu hören war, wenn das Unbehagen an der politischen Realität zu groß wurde: Die SPD müsse endlich wieder nach links rücken.
Auch wenn „links“, „rechts“ und „Mitte“ in der Politik nicht exakt definiert sind, wird links doch meist als Gegensatz zur jeweiligen eigenen Regierungsverantwortung (oder von Dritten) verstanden. Verwiesen wird dann gern auf die glorreichen Zeiten von Willy Brandt (der, was gerne verschwiegen wird, übrigens Mitglied der Kanalarbeiter war) und dass die Basis das genau so sehe. Beides hat vor der Realität keinen Bestand. Denn die Wahlerfolge zu Zeiten von Willy Brandt und Helmut Schmidt wurden erst dadurch möglich, dass die SPD mit dem Godesberger Programm die selbstgenügsame Rechthaberei in der linken Nische zugunsten eines klaren Bekenntnisses zur Volkspartei aufgegeben hatte. Ohne innerparteiliche Reform, ohne den Anspruch, die Mitte der Gesellschaft zu vertreten, wäre die SPD in den sechziger Jahren niemals mehrheitsfähig geworden.
Warum Wowis Nachfolger Müller heißt
Auch der Verweis auf den vermeintlichen Willen der Basis geht fehl. Oder wie lässt es sich erklären, dass wann auch immer in den vergangenen 20 Jahren die Mitglieder entscheiden konnten, pragmatische Entscheidungen gefällt wurden? Sieben so genannte Konsultative Mitgliederbefragungen fanden seit 1993 statt, dazu gab es vier Mitgliedervoten (seit 2013), fünf Urwahlen (seit 1995), zwei Mitgliederentscheidungen (im Jahr 2011), zwei thematische Entscheidungen in 2012 und 2013 (jeweils Bund und Land). Stets wurde dabei pragmatisch entschieden, mit zwei Ausnahmen: die jüngste Befragung über Rot-Rot-Grün in Thüringen und die Wahl Andrea Ypsilantis zur hessischen Spitzenkandidatin im Jahr 2006. Der Ausgang ist bekannt.
Ansonsten scheiterten jene, die für sich in Anspruch nehmen, für die Basis zu sprechen, bei über 20 Abstimmungen ausgerechnet dann, wenn eben diese Basis das letzte Wort hatte. Besonders deutlich zeigten dies neben der überwältigenden Zustimmung zum aktuellen Koalitionsvertrag im Bund zuletzt auch Basisentscheidungen über zwei Personalfragen in den Ländern: die Nominierung Thorsten Albigs zum Spitzenkandidaten in Schleswig- Holstein 2011 und die Entscheidung für Michael Müller als Nachfolger von Klaus Wowereit im vergangenen Jahr.
Wer die SPD nach links verschieben will, kann sich dabei also nicht auf die Basis berufen. Eine Antwort auf die Frage, wie wir zu alter Stärke zurückfinden können, ist es ohnehin nicht. Denn der Rückzug in die linke Nische mag all jenen verlockend erscheinen, die der Kompromisse überdrüssig sind und anstatt realer Politik lieber reine Lehren vertreten würden. Doch der Preis dafür wäre hoch: die Mehrheitsfähigkeit in der Mitte der Gesellschaft.
Betriebsrat der Nation? Das reicht nicht
Die SPD war immer dann stark, wenn sie über Milieus hinweg inhaltlich wie personell attraktiv war. Für den Krankenpfleger ebenso wie für die Ärztin, für die Studienrätin ebenso wie für die Reinigungskraft. Wenn sie gezeigt hat, dass sozialdemokratische Wirtschaftspolitik für Wachstum sorgen kann – und dieser Wohlstand dann auch allen zugutekommt. Und wenn sie ein Lebensgefühl von Aufbruch und Erneuerung verkörperte, also ihren Anspruch als progressive Kraft offensiv vertrat. Deshalb braucht die SPD beides: ein klares Bekenntnis zu einer zeitgemäßen Definition von sozialer Gerechtigkeit und zugleich die Bereitschaft, sich nicht bloß mit der Rolle als Betriebsrat der Nation zufrieden zu geben.
Wer in naher Zukunft wieder die Bundesregierung führen will, muss weit darüber hinausgehen. Die SPD hat dafür alle Voraussetzungen – als einzige Partei, die wirtschaftliche und soziale Vernunft vereint; die eine konsequente Friedenspolitik und die Übernahme von globaler Verantwortung nicht gegeneinander ausspielt; als gesellschaftliche Kraft, die den freiheitlichen Rechtsstaat konsequent gegen seine Feinde verteidigt. Es liegt an uns, diese Chancen zu nutzen.