Wer ist dieser Winfried Kretschmann?
Meine Großmutter sagte immer: „Gut Ding will Weile haben.“ Nun weiß jeder, dass Zeit in der Hektik des politischen Tagesgeschäfts ein ebenso seltenes wie kostbares Gut ist. Und doch zeigt sich immer wieder, dass diese Alltagsweisheit stimmt: Schnelligkeit und Gründlichkeit gehen selten Hand in Hand. So dürfte es kaum überraschen, dass die erste Kretschmann-Biografie, die bescheiden als „Porträt“ daherkommt, an einigen Stellen Wünsche offen lässt. In nur drei Wochen entstand das 160-seitige Werk, um rechtzeitig zur Vereidigung des Ministerpräsidenten in den Läden zu stehen. Etwas mehr Zeit hätte dem Buch gut getan, etwa für ein sorgfältiges Lektorat, um einige Blindstellen intensiver zu beleuchten oder um den Menschen Winfried Kretschmann und seinen Weg in die Villa Reitzenstein mit den passenden Bildern zu illustrieren. Und doch ist dieses Buch gelungen.
Denn kenntnisreich und mit viel Gespür fürs Detail zeichnen die langjährigen Beobachter der baden-württembergischen Landespolitik die Entwicklung des Zoon Politikons Kretschmann auf seinem langen Marsch zur Macht nach. Woher kommt er? Was sind seine politischen Visionen und Prinzipien? Wie tickt er im politischen Alltag? Anhand dieser Leitfragen bewegt sich das Autorenpaar durch sechs Jahrzehnte und räumt dabei mit einigen Klischees gründlich auf. So halten sie vorschnell urteilenden Zeitgenossen, die „Kretsch“ angesichts seiner Fernsehauftritte für behäbig halten, dessen Neigung entgegen, sich in Rage zu reden. Kretschmann habe „das vulkanische Temperament eines oberschwäbischen Charismatikers“. Ein Zitat Kretschmanns verdeutlicht schnell, dass wir es nicht mit einem schwäbischen Buddha zu tun haben: „Ich bin von zu Hause aus kein Pazifist, habe den Kriegsdienst nicht verweigert und bin schon von Natur aus ein Typ, der sich verteidigt und dem anderen dabei auch mal eine in die Fresse bügelt.“
Tatsächlich zeigt sich, dass der Politiker mit der „Abneigung gegen Eitelkeiten und Aktionismus, gegen Glamour und Karrieredenken“ eine komplexere Persönlichkeit ist, als es vielen auf den ersten Blick erscheint. Wer über maoistische Irrwege in der Mitte gelandet ist und mittlerweile als katholischer Konservativer mit seinen Grünen und ihren Gründungsmythen so manchen Kampf ausgefochten hat, dem sind Widersprüche nicht fremd. Und so sehr Winfried Kretschmann nach wie vor betont, er habe sich in der zweiten Reihe sehr wohl gefühlt, so wenig kommt am Ende eben doch das Amt von allein zum Manne – er muss es sich auch nehmen wollen.
Philosophenpräsident in der Ebene
Von besonderem Interesse für alle professionellen Beobachter ist neben der politischen Genese des Menschen Kretschmann natürlich die Frage, was all das nun für das neue Regierungsbündnis in Baden-Württemberg und die Zukunft des Landes bedeutet. Unter der Überschrift „Ein Philosoph wird Präsident“ beschäftigt sich das abschließende Kapitel des Buches mit den „Gefahren und Mühen der grün-roten Ebene“ nach der Zeitenwende der Landtagswahl. Es gehört zu den Stärken des Bandes, dass die Autoren nicht sklavisch an der Person Kretschmann kleben, sondern sich immer wieder von ihr lösen, um die größeren Zusammenhänge in den Blick zu nehmen. Dabei rücken auch die Schwierigkeiten in den Fokus, mit denen die neue Landesregierung in den kommenden fünf Jahren zu kämpfen haben wird. Und tatsächlich hat die Regierung Kretschmann/Schmid keine leichte Aufgabe vor sich. Es geht nicht nur um Stuttgart 21. Auch die Konsolidierung der Landesfinanzen wird den Koalitionären einiges abverlangen. Doch so flüchtig der Zauber des Anfangs auch sein mag – der Wechsel bietet beiden Partnern mehr Chancen, als die Autoren einräumen.
Dass wir das noch erleben dürfen
Schließlich bietet sich nach sechs Jahrzehnten CDU-Regierung endlich die Gelegenheit zu zeigen, dass es im Ländle ohne die Schwarzen mitnichten bergab geht. Wer nicht im Südwesten beheimatet ist, kann sich nur schwer vorstellen, welche große Bedeutung dies hat. Selbst ich als überzeugter Optimist hatte nicht damit gerechnet, einen solchen Wechsel noch zu erleben. Nun können die Grünen in der Praxis zeigen, dass ihr „Green New Deal“ kein politisches PR-Manöver ist, sondern auch in der Realität Arbeit schafft. Und die SPD kann sich mit guter Regierungsarbeit dauerhaft aus ihrer traditionell schwierigen Ausgangslage in Baden-Württemberg befreien. Dazu kommt, dass Nils Schmid in den kommenden fünf Jahren als Superminister für Wirtschaft und Finanzen und Kretschmanns Stellvertreter beweisen kann, dass er das Zeug hat zum zukünftigen Ministerpräsidenten. Eines ist jedenfalls sicher und auch das zeigt dieses Buch: Baden-Württemberg ist in guten Händen.
Wer ist Winfried Kretschmann? Auch mit Abstand zur historischen Landtagswahl vom 27. März bleibt der erste grüne Ministerpräsident für viele Beobachter ein unbekanntes Wesen. Abhilfe verspricht das „Porträt“ des Autoren- und Journalistenehepaars Johanna Henkel-Waidhofer und Peter Henkel. «
Peter Henkel und Brigitte Johanna Henkel-Waidhofer, Winfried Kretschmann: Das Porträt, Freiburg: Herder Verlag 2011, 160 Seiten, 14,95 Euro