Alle Männer wollen immerzu Sex
„Wenn es funktioniert, sich nach oben zu schlafen, warum nicht?“ – so fasst die Soziologin Catherine Hakim ihr Buch Erotisches Kapital zusammen. Damit schlägt sie eine recht eigenwillige Verwirklichung von Carl Schmitts Idee des „Zugangs zum Machthaber“ vor. Ihre These: Nicht allein Bildung, Geld und Netzwerke entscheiden über Erfolg und Aufstieg, sondern auch Attraktivität, Sexappeal, ein Flirt – oder Sex. Sofern es um die Karrieren von Frauen geht, ist dieser Gedanke so alt wie das Patriarchat. Doch Hakim bezieht sich auf beide Geschlechter gleichermaßen, wobei die Männer allerdings aufgrund ihrer angeblichen „Sexbesessenheit“ reichlich schlecht wegkommen.
Ein erster Blick in das Buch lässt eine differenziertere Sicht als die triviale Erkenntnis „sex sells“ vermuten. Catherine Hakim orientiert sich am französischen Soziologen Pierre Bourdieu und dessen Unterscheidung zwischen ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital. Diesen drei Formen stellt Hakim eine weitere zur Seite: das erotische Kapital. Es handelt sich um eine Mischung aus körperlicher Schönheit, Attraktivität, Charme, Vitalität, sozialer Präsentation, Sexualität und Fruchtbarkeit. Obwohl das erotische Potenzial keine rein weibliche Kapitalform ist, macht Hakim bei Frauen einen ambivalenten Vorsprung aus. Schließlich stand und steht die Frau im abendländischen Denken für das Körperliche, sie ist das sexualisierte Gattungswesen und damit immer auch „das Andere“. Der Mann hingegen repräsentiert das allgemein Menschliche und die Vernunft. Ein Muster, das sich bis heute beobachten lässt, etwa wenn es bei der Suche nach einem neuen Bundespräsidenten (sic!) heißt, „auch Frauen kommen in Betracht“.
Freiherr zu Guttenberg zum Beispiel
Wo Männer Gesellschaft und Gesellschaftstheorie prägen, wird – so Hakim – vor allem die weibliche Erotik als prägender Faktor übersehen und zugleich diskreditiert. Dabei sei erotisches Kapital mindestens genauso wertvoll wie Geld, Elternhaus, Schul- und Universitätsabschlüsse oder Beziehungen. Der Medienhype um den „Charismatiker“ Karl-Theodor zu Guttenberg in den Jahren 2008 bis 2010 ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie erotisches Kapital und die gelungene Selbstinszenierung einen rasanten Aufstieg befördern können. Nie zuvor wurden einem männlichen Politiker in Deutschland so viel Attraktivität und Ausstrahlung zugeschrieben. Zugleich ist Guttenberg ein Beispiel für die Ambivalenz erotischen Kapitals. Denn der anfängliche Vorteil verkehrte sich später ins Gegenteil, der Starkult wurde abgelöst vom Image des Blenders.
Das zeigt: Attraktivität und Kompetenz werden als antagonistisch gedacht. Ist der Einsatz erotischen Kapitals unter diesen Umständen also wirklich sinnvoll? Diese Frage sollte zumindest diskutiert werden. Leider fehlt bei Hakim eine Auseinandersetzung mit derartigen Widersprüchen. Daher bleiben Fragen offen: Warum schließen sich Attraktivität und Kompetenz (als Relikt des philosophischen Diskurses um die Trennung von Körper und Geist) immer noch gegenseitig aus? Warum trifft diese Trennung – wie Hakim selbst belegt – Frauen vor allem im Berufsleben so viel härter? Und wie könnte ein produktiver Umgang damit aussehen? Warum gilt der Einsatz erotischen Kapitals überhaupt als manipulativ? Weshalb erscheint uns im Wettbewerb um Erfolg und Macht „Vitamin B“ legitimer als Flirten und Sex?
Leider entscheidet sich die Autorin gegen eine dezidierte Analyse. Stattdessen beschreibt sie das permanente Sexdefizit aller Männer weltweit als Universalie. Das Sexdefizit dient ihr als Bestätigung und Grundlage für die Bedeutung vor allem des weiblichen erotischen Kapitals. Wirkliche Belege liefert sie allerdings nicht. Ab hier driften Hakims Ausführungen ab. Da taucht plötzlich der Satz auf: „Viele Afrikaner betrachten es als Regel, dass ein Mann mindestens einmal am Tag Sex hat.“ Daran anschließend zitiert Hakim eine Vielzahl von Studien, die belegen sollen, dass Männer nicht nur „in Afrika“, sondern weltweit immer und überall Sex haben wollen, zu wenig Sex bekommen und für Sex alles tun würden.
Angesichts dieser Daten wundert sich Hakim wiederholt darüber, warum nicht viel mehr Frauen als Prostituierte arbeiten und nimmt die – in der Tat problematische – Abwertung von Sexarbeiterinnen zum Anlass, Kritik an der Allianz von Feminismus und Patriarchat zu üben. Diese Allianz verhindere nämlich, dass Frauen aus dem Sexdefizit der Männer ordentlich Kapital schlagen. Gerne möchte man an dieser Stelle innehalten und darüber nachdenken, ob Sexarbeit oder Hochschlafen nicht lukrative Alternativen zum zähen Aufstiegs- und Machtkampf sein könnten; ob einige feministische Gruppen tatsächlich patriarchale Züge aufweisen, etwa wenn sie Pornografie und Sexarbeit verbieten wollen; und ob in der Kritik am Schönheitsimperativ „Forme Deinen Körper!“ nicht eine erneute Normierung steckt, frei nach dem Motto „Dein Bauch gehört Dir, aber lass Dir bloß nicht das Fett absaugen!“.
Traurig, dieses Männerbild!
Daran anschließend stellt sich die Frage, wie wohl ein neuer Feminismus aussehen könnte, der all diese Probleme in den Blick zu nehmen in der Lage wäre. Und der Alternativen suchen würde für die permanente Anforderung an junge Menschen, sich körperlich, geistig, emotional und sexuell ununterbrochen zu optimieren. Doch solche Reflexionen lässt Hakim vermissen. Ihre Auseinandersetzung mit dem Feminismus bleibt blutleer. Lieber schreibt sie die permanente Selbstoptimierung fort: Investiere in Dein erotisches Kapital!
Kurzum, Hakim liefert einen interessanten Denkanstoß, denn es bedarf durchaus einer reflektierten Auseinandersetzung mit der Bedeutung erotischen Kapitals. Wie wichtig dieses Thema ist, zeigten die weltweiten Slutwalks 2011, als Männer und Frauen für die Gleichberechtigung aller Geschlechter demonstrierten und sich mit Vergewaltigungsmythen, Schönheitsnormen und Sexualität auseinandersetzten. Hakim jedoch verfolgt einen Ansatz, der die Geschlechter gegeneinander ausspielt. Dabei fördert sie selbst Erkenntnisse zutage, die ihren Thesen widersprechen, etwa wenn die Mehrheit der jungen Menschen in Nordamerika und Deutschland angibt, in einer Beziehung seien ihnen Gleichheit und Ebenbürtigkeit wichtiger als der Tausch „Status gegen Attraktivität“. Gerade solche Veränderungen des Geschlechterverhältnisses müsste eine Soziologin in den Blick nehmen, um eine fundierte Analyse erotischen Kapitals zu entwickeln.
Doch in ihrem ständigen Changieren zwischen gesellschaftskritischem Anspruch und ihrer Interpretation von Geschlechterpolitik, zwischen Öffentlichkeit, Berufs- und Privatleben und der unermüdlichen Wiedergabe sämtlicher Studien der Attraktivitäts- und Sexualforschung verirrt sich Hakim so sehr, dass das Buch weder Manifest noch Analyse ist. Ihre Ausführungen sind nur ein populärwissenschaftlicher Aufreger. Das Hauptproblem ist weder der vermeintlich progressive, postfeministische Ansatz noch ihre Vorstellung von weiblichen Karrieren. Das wirklich Traurige, das die feministische Leserin ratlos zurücklässt, ist Hakims vernichtendes Männerbild.
Catherine Hakim, Erotisches Kapital: Das Geheimnis erfolgreicher Menschen, Frankfurt/New York: Campus Verlag, 376 Seiten, 19,99 Euro