Alles ist möglich

Noch geht es der SPD nicht so gut. Aber wenn sie sich besser "aufstellt" und die Polarisierung gegenüber der Union klappt, wenn die Personalisierung der Konflikte gelingt und der Stern der Konkurrenten sinkt - dann werden sich neue Erfolge einstellen

Ist Regieren Mist? Diese Frage zu klären, hatte sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands für den Kieler Parteitag 1927 ausdrücklich vorgenommen. Nach ersten Erfahrungen mit der Regierungsverantwortung seit 1918, nach Krisen, Aufständen, alliierten Pressionen, Hyperinflation, Putschversuchen von Rechts und Klassenverrat-Hetze von Links schied die SPD 1923 total entnervt aus der Weimarer Koalition aus und ging in die Opposition. Aber wem nützte das?

Die Antwort des Kieler Parteitags hieß: neuer Versuch! Nach der erfolgreichen Wahl 1928 bildete der Sozialdemokrat Hermann Müller als Kanzler das letzte parlamentarische Regierungsbündnis der ersten deutschen Republik.


Die SPD hat in ihrer 145-jährigen Geschichte wahrlich schlimmere Zeiten als heute erlebt, aber es geht ihr im Augenblick jedenfalls auch nicht besonders gut. Wir regieren. Doch die Häme von außen ist groß: nicht mehr stärkste Mitgliederpartei, schwach in den Umfragen, nur noch fünf sozialdemokratisch geführte Länder, der grüne Wunschpartner auf Absetzkurs in die goldene Mitte, die Linkspartei als Universalprofiteur der wachsenden Demokratieverdrossenheit, Frau CDU-Bundeskanzlerin über allen Wolken, wir dagegen hin- und hergerissen zwischen Wolfgang Clement und Hermann Scheer, Sarrazin und Ypsilanti. So sehen uns manche, zu viele.


Das Gefüge ist verwirrt


Innerparteiliche Diskussionen über die schwierige Lage werden seit einiger Zeit gern damit gedeckelt, dass es heißt, wir seien eigentlich „gut aufgestellt“, programmatisch und personell. Was das Hamburger Grundsatzprogramm angeht, mag das stimmen, Wolfgang Thierse sei Dank. Wenn es aber ums nächste Wahlprogramm und um mögliche Bündnisoptionen 2009 geht – Ampel, Rot-Grün, Rot-Rot-Grün, Große Koalition –, sind viele Fragen offen. Und in Personaldingen haben die häufigen Wechsel im Parteivorsitz – allein die vergangenen zehn Jahre: Lafontaine, Schröder, Müntefering, Platzeck, Beck – das SPD-Gefüge nachhaltig verwirrt.


Kurt Becks kraftvoller Versuch ist verpufft


Kurt Becks kraftvoller Versuch einer Neuordnung der Führung jenseits von regionalem Proporzdenken scheint schon wieder verpufft zu sein. Aus dem Willen zur kollektiven Verantwortung der neuen Parteispitze ist faktisch kein gemeinsam operierendes strategisches Zentrum hervorgegangen. Der Parteivorsitzende, der Vizekanzler, einzelne bedeutende Regierungsmitglieder, die Bundestagsfraktion: unendlich viel guter Wille, viel Kapazität, aber zu wenig Koordination. Wessen Planungsgruppe plant die nächsten Schritte auf dem Weg zum Wahlsieg im September 2009? Die zuständigen Genossen im Willy-Brandt-Haus? Die Mainzer Staatskanzlei? Das brandenburgische Staatskanzleiumfeld? Die Planer der Fraktion? Die tatkräftigen Leute des Arbeitsministers? Der brillante Stab des Umweltministers? Das Schattenkanzleramt am Werderschen Markt? Der Wahlkampfstratege von 1998, 2002 und 2005 an seiner guten alten mechanischen Schreibmaschine in Bonn?


Auch in der Schwarzbrotphase nach den sieben Schröder-Jahren leidet die SPD wahrlich nicht unter einem Mangel an fähigen, klugen, talentierten Leuten. Aber dass die alle miteinander schon gut aufgestellt sind, dass sie gemeinsam schon schlagfähig genug wären, die ungeliebte Große Koalition in einem Jahr zu knacken und wieder eine kleine Koalition mit SPD-Kanzler an der Spitze zu etablieren, das glaubt uns heute so recht niemand. Und wir selbst glauben es auch noch nicht. Wir brauchen eine plausible, nach vorne weisende Aufstellung. Das bedeutet auch, beizeiten ungeeignetes Personal auszuwechseln und unpraktische Konstellationen aufzugeben. Warum damit bis nach der nächsten Wahl warten? Um es undramatisch auszudrücken: An das Thema Rollenverteilung muss die SPD-Führung noch einmal ran!


Wenig hilfreich sind da allerdings Bestrebungen, die alte Flügelpolarisierung in der SPD wiederzubeleben. Mit der Gründung des „Netzwerks“ vor knapp zehn Jahren war aus der traditionellen Schlachtordnung „Seeheim“ versus „Parlamentarische Linke“ eine neue, offenere Turnieraufstellung geworden. Dem inneren Zusammenhalt und der Regierungsfähigkeit von Fraktion und Partei hat das sicher genützt – nicht, weil weniger diskutiert wurde, im Gegenteil, aber die Strömungsauseinandersetzungen blieben in der Form mäßiger, weil es eben mehr gab als nur Null und Eins, Ja und Nein, Rechts und Links. Auch der zunächst besonders einladende, fröhlich anti-hierarchische Debattenstil der Netzwerker färbte kulturell auf die Konkurrenzgruppen ab.


Eigene Gedanken, eigene Schritte


Wer aus dieser organisierten Dreieinigkeit jetzt wieder zurück wollte in die exklusive Welt der Schützengräben, wer die Netzwerker als Nachwuchs- und Reservetruppe der Seeheimer missverstünde, der könnte vielleicht hoffen, im Tagesgeschäft den einen oder anderen Machtkampf für sich zu entscheiden, aber die SPD als ganzes gewänne damit nicht. Sie würde an politischer Breite verlieren, würde zu viel Kraft auf interne Positionsmanöver verschwenden, den äußeren politischen Gegnern zu wenig Aufmerksamkeit zuwenden. Der entscheidende Wettbewerb findet nicht zwischen zwei hochmobilisierten Lagern innerhalb der SPD statt. Gerade das Netzwerk könnte solchen Tendenzen entgegenwirken, denn ein wesentlicher Gründungsimpuls war doch, quer zu den Alt-Achtundsechzigern und Anti-Achtundsechzigern das sozialdemokratische Lagerdenken aufzubrechen und eigene Gedanken, eigene Schritte zu wagen.


Was die Frage der Linkspartei angeht, so hilft uns im Augenblick die Kandidatur von Gesine Schwan für das Bundespräsidentenamt mehr als alle Alles-ist-gesagt-Beschlüsse von Präsidium, Parteivorstand und Parteirat. Schwan bringt die Linkspartei in Zugzwang: Gysis Leute müssen sich entscheiden, wo sie stehen und wer für sie der Hauptgegner sein soll, Schwarz-Gelb mit Köhler oder Rot-Grün mit Schwan. Bleibt Köhler mit Hilfe von Linkspartei-Enthaltungen (oder einer linken Zählkandidatur bis hinein in den dritten Wahlgang) fünf weitere Jahre im Amt, dann wissen die potenziellen Linksparteiwähler jedenfalls besser als vorher, wie „nützlich“ ihre Stimme für diese nihilistische Oppositionspartei am Ende wäre.


Das weiß auch Gysi, er wird es Lafontaine sagen. Und diesen Streit werden die Linksparteiler unter sich austragen müssen. Die Koalitionsfähigkeit der Linkspartei im Westen und im Bund ist eine Frage, die zunächst einmal in deren Partei erlitten, erstritten und beantwortet werden muss – nicht bei uns.


Wir wollen beteiligte Bürger


Einer neuen Frage allerdings sollte sich die SPD, will sie künftig bei Wahlen und als Mitgliederpartei wieder überdurchschnittlich erfolgreich sein, mit ganzer Kraft annehmen: Es ist die schleichende Aushöhlung unserer Demokratie. Die abnehmende Bereitschaft zur Beteiligung an Wahlen; die zunehmende Distanz zu den (immer schon gewöhnungsbedürftigen) Prozeduren des parlamentarischen Regierungssystems mit seinen friedensstiftenden Kernritualen von erlaubtem „Streit“ und erwünschtem „Kompromiss“; das Wählen rechtsextremer Parteien; die Gleichgültigkeit mancher Medien – all das trifft uns ins Mark. Wir wollen beteiligte Bürger, nicht nur die missmutige Duldung einer verfassungsmäßigen Ordnung. Wir wollen, dass die Menschen sich in ihre eigenen politischen Angelegenheiten einmischen, dass sie verstehen, was gespielt wird und sich mit ihren Interessen, ihrer Kreativität und ihrer eigenen Kraft für ein gutes Zusammenleben einsetzen.


Auf der Werteskala der Gesellschaft darf der politisch Interessierte und Aktive nicht der Dumme sein. Demokratie einzuüben und hochzuhalten ist wahrlich nicht allein Aufgabe der Parteien, aber es sollte – auch wenn es anstrengend ist – eines unserer wichtigsten Anliegen sein. Wir sind nicht nur dazu da, Politik „zu machen“, sondern wir müssen dabei immer auch die Bedingungen des Politikmachens erklären und zur Beteiligung einladen. Für die älteste Partei Deutschlands, die 1918 die Weichen für die repräsentative Demokratie gestellt hat, sollte dies eine ihrer vornehmsten Aufgaben sein!


Und alles ist möglich


Noch geht es der SPD nicht wieder richtig gut, aber die Konflikte in der scheinbar sozialdemokratisierten CDU schwelen (Stichworte: Steuersenkungen auf Pump und die marktradikalen Leipziger Beschlüsse); FDP, Grüne und Linkspartei müssen ihre multiplen Bündnisfähigkeiten in internen Auseinandersetzungen erst noch klären. Nach dem ARD-Deutschlandtrend vom August wünschen 62 Prozent der Bundesbürger, „dass die SPD künftig wieder eine wichtigere Rolle spielt als zurzeit“. Darauf lässt sich aufbauen.


Wenn uns im großen Wahlkampfsommer 2009 die politische Polarisierung mit dem Koalitionspartner gelingt, der dann unser Hauptgegner sein wird, wenn Personal und Personalisierung der Themen und Konflikte gut sind, wird auch die Mobilisierung wachsen. Die Umfragewerte der (als Opposition zur Großen Koalition) derzeit so überbewerteten kleinen Parteien werden schmelzen wie Eis in der Sonne. Und alles ist möglich.

Weil wir aus jahrzehntelanger Parteigeschichte wissen, dass Opposition Mist ist, sollten wir immer wieder für die Alternative werben: besser regieren!


Dieser Artikel wurde vor dem 7. September geschrieben und konnte die nun tatsächlich stattfindende Neuaufstellung der SPD-Führung noch nicht berücksichtigen.

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