Alles steht auf dem Prüfstand
Der Umbruch des beginnenden 21. Jahrhunderts wird in Deutschland - wie in allen entwickelten Demokratien und Industrieländern - markiert durch die Herausforderungen des demografischen Wandels, des Arbeitsmarktes und der Globalisierung. Diese Herausforderungen sind so gewaltig, dass sie die SPD und mit ihr die gesamte Gesellschaft zu zerreißen drohen. Nichts kann so bleiben, wie es ist. Alles steht auf dem Prüfstand. All das, was über viele Jahrzehnte an demokratischen Rechten und sozialer Sicherheit erkämpft wurde, steht zur Diskussion. Die Absicherung der großen Lebensrisiken - Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter, Pflege - muss neu formuliert werden. Bildung, Qualifizierung und Forschung bedürfen der besonderen Aufmerksamkeit. Das Thema "Zuwanderung" - in ständiger Wiedervorlage auf der Tagesordnung - muss endlich gelöst werden. Eine wahre Herkules-Aufgabe, vor allem auch mit Blick auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat.
Es lohnt an dieser Stelle, einen kurzen Rückblick auf die von Gerhard Schröder zu verantwortende Regierungszeit seit 1998 und speziell das Jahr 2003 zu werfen, um das tatsächliche Ausmaß der Herausforderung zu verstehen. Eine Ahnung, dass unsere Gesellschaft einer grundsätzlichen Erneuerung in allen Bereichen bedarf, haben wir schon lange. Deren Verdrängung wurde erleichtert durch andere Entwicklungen, die der besonderen politischen Aufmerksamkeit bedurften: die deutsche Einheit und die damit verbundenen außenpolitischen Herausforderungen. Die SPD-geführte Bundesregierung drehte nach dem Wahlsieg 1998 zaghafte Reformschritte der konservativen Regierung aufgrund eindeutiger Wahlversprechen zurück. Gleichzeitig wurden Entscheidungen getroffen, die im Wahlprogramm offensichtlich ohne besonderen Aufmerksamkeitswert angekündigt worden waren. Dazu gehört die private Vorsorge für das Alter. Die Modernisierungsvorschläge von Gerhard Schröder und Tony Blair, vorgelegt im Juni 1999, wurden in weiten Teilen der SPD heftig kritisiert und relativ schnell wieder zu den Akten gelegt. Erst mit der Regierungserklärung von Gerhard Schröder vom 14. März 2003 und der damit formulierten Agenda 2010 wurde aus der Analyse Regierungshandeln. Die "Echternacher Springprozession" hatte ein Ende.
Ein Mann gegen den Sturm
Der Bundeskanzler Schröder stellte sich damit der Realität - der Parteivorsitzende Schröder löste in seiner Partei einen Sturm aus, so heftig, dass er die Verantwortung für die SPD jetzt in andere Hände legen wird. Basta-Diskussion, Mitgliederbegehren, Sonderparteitag, dramatischer Absturz der SPD in den Umfragen, Parteiaustritte in nicht gekannter Größenordnung, heftige Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften, Schmähungen der Verantwortlichen aller politischen Ebenen und schließlich der Sonderparteitag mit der Wahl eines neuen Vorsitzenden markieren für die deutsche Sozialdemokratie historische und stürmische Monate. Den Sturm beizulegen, das Schiff SPD in ruhigeres Fahrwasser zu bringen - nicht mehr und nicht weniger wird die Aufgabe des neuen Parteivorsitzenden Franz Müntefering sein. Wie kann das gelingen?
Auffällig in dieser für die SPD historischen Situation ist zunächst, dass nicht die "Urenkel" den Machtanspruch unabweisbar formulieren. Ein junger Strahlemann oder eine strahlende junge Frau drängen sich nicht zwingend auf, um der Partei den Weg in die neue Zeit zu weisen. Mit Franz Müntefering übernimmt ein "alter" Sozialdemokrat das Ruder. Lehre als Industriekaufmann, kaufmännischer Angestellter in der Metall verarbeitenden Industrie - so steht es in dürren Worten in Kürschners Volkshandbuch. Insgesamt ein wenig spektakulärer Lebenslauf, frei von Skandalen. Das wissen Sozialdemokraten zu würdigen. Klare Sprache, bescheidener Auftritt. "Sohn", nicht "Enkel", ein zukünftiger Vorsitzender, der die Generationen zusammenführt und wenn möglich in ihren zum Teil unterschiedlichen Ansprüchen und Erwartungen an die Politik versöhnt.
Der Weg in die neue Zeit ist steinig und steil
Franz Müntefering hatte nach dem 14. März 2003 zunächst die überaus wichtige Aufgabe, die Bundestagsfraktion zusammenzuhalten. Er hat sich der notwendigen Überzeugungsarbeit in den Reihen der Abgeordneten selbst zweifelnd und tastend genähert. Er ist in dieser Aufgabe Tag für Tag, Monat für Monat gewachsen. An seiner klaren inhaltliche Festlegung auf die Agenda 2010 lässt er heute keinen Zweifel. Er ist sich sicher: Die SPD ist auf dem richtigen Weg. Die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten folgen ihm leicht verzagt, aber sie trauen ihm zu, dass er das richtige will und dafür das Notwendige tut.
Mut machen und Orientierung geben - das muss Franz Müntefering zuallererst! Nicht nur der SPD, sondern allen Menschen in diesem Land. Die Zeiten scheinen dunkel und kalt: Kein Milieu, das Wärme gibt. Keine Nischen, die das Verweilen erlauben. Es geht nicht darum, den Sozialstaat abzubauen, sondern darum, ihn zukunftssicher zu machen. Dazu bedarf es vieler Neujustierungen. Dazu muss der Staat einerseits fördern, andererseits aber auch fordern. Eigene Anstrengung und Verantwortung müssen belohnt werden. Der Weg in die neue Zeit ist steinig und steil. Aber war er das nicht immer? Und haben die Generationen vor uns nicht Hervorragendes geleistet, das uns ermutigt, nicht zu verzagen und uns der neuen Zeit mutig zu stellen und sie gerecht zu gestalten. Das war immer sozialdemokratischer Anspruch. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben die historische Chance, der unbestritten notwendigen Erneuerung ihren Stempel aufzudrücken. Das ist jede Mühe wert! Das bedarf der Anstrengung aller!
Wer wird eigentlich in diesen Zeiten Mitglied?
Dabei lohnt es sich, einen Blick auf diejenigen zu werfen, die in dieser schwierigen Zeit gegen den Trend Mitglied in der SPD werden. Sie sind überdurchschnittlich jung und weiblich, pragmatisch und zukunftorientiert, manchmal auch einfach nur trotzig. Offensichtlich zeichnet sich hier auch ein Wandel in der SPD-Mitgliedschaft ab, der wie vieles andere seit längerer Zeit zu erkennen ist. Was die neuen Mitglieder mit denen verbindet, die die Partei verlassen, ist die Forderung nach Gerechtigkeit. Erkennbar besteht die Herausforderung für den neuen Parteivorsitzenden auch darin, diesen Begriff im nationalen und internationalen Rahmen modern zu definieren und damit vielleicht auch die alten Mitglieder zurück zu gewinnen.
Erklären und werben - das muss der neue Parteivorsitzende ebenso. Die Diskussion um die Agenda 2010 hat oft den Eindruck erweckt, als wären Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten angetreten, um die Menschen zu quälen. Die SPD ist in der Situation, im nachhinein erklären zu müssen, was sie bereits beschlossen hat. Die Vielfalt der unterschiedlichen Themen der Agenda 2010 hinterlassen auch beim geneigten Beobachter der politischen Debatte oft den Eindruck, dass die Systematik fehlt. Diese Vorgehensweise ist neu und nur zu erklären mit dem großen Reformdruck. Gerhard Schröder hatte aufgrund der Befindlichkeit seiner Partei und der gesamten Gesellschaft keine andere Wahl, als den "Überfall" zu wagen. Es muss aber jedem einsichtig sein, dass die Tatsache, dass wir alle immer älter und immer weniger werden, zwingend zu Konsequenzen für unsere sozialen Sicherungssysteme führen muss. Die deutsche Sozialversicherung wurde von Sozialdemokraten initiiert als das Durchschnittsalter deutlich niedriger lag, als vielen jungen eine kleine Zahl von älteren Menschen gegenüberstand. Allein innerhalb der letzten Generation stieg das Lebensalter statistisch um fünf Jahre. Dank des medizinischen Fortschritts sind es gesunde, lebenswerte Jahre. Das kostet Geld! Nachvollziehbar und berechtigt! Und ist es das nicht auch wert? Darin liegt die notwendige Aufgabe, den demografischen Faktor positiv zu deuten. Wer macht das Altwerden endlich sexy?
Orientierung und Heimat in einer neuen Welt
Daraus folgt zwingend, dass die bestehenden Sozialsysteme modernisiert werden müssen. Eigenverantwortung darf dabei kein Tabu sein. Mit der Riester-Rente wurde dazu ein Anfang gemacht. Im Rahmen der Diskussion um die Gesundheitsreform sind viele Aspekte dazugekommen. Dass die heftigen Debatten der vergangenen Monate nicht ohne Erfolg geblieben sind, zeigen neue Umfrageergebnisse. Immerhin 51 Prozent der Befragten sind für eine Fortsetzung des Reformprozesses, bei den SPD-Anhängern sind es sogar 82 Prozent. Das macht Mut und zeigt, dass die SPD eine Chance hat, die historische Herausforderung nicht nur zu überstehen, sondern auch gestärkt aus ihr hervorzugehen.
Dazu bedarf es aber noch mehr als handwerklich gelungener Tagespolitik. Die SPD muss so wie zu Beginn des Industriezeitalters eine Antwort auf die Frage finden, wie wir zukünftig in sozialer Sicherheit leben und arbeiten können. Bisher fehlen dazu wirkliche Visionen. Die müssen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten noch entwickeln. Nichts ist also in der nächsten Zeit wichtiger als eine fundierte programmatische Arbeit. Dabei wird es nicht nur um Antworten auf die konkreten Fragen etwa der Ausgestaltung der Bürgerversicherung gehen müssen, sondern insgesamt auch um einen wirklichen Rahmen, der Orientierung und Heimat gibt in der globalisierten Welt.