Das Ende der Westalgie: Wie die rheinischen Maschinisten in Berlin ankamen



Der Umzugssommer 1999 war meteorologisch einer der besseren. In Berlin jedenfalls schien die Sonne, was dem allgemeinen Bedürfnis der soeben in etlichen Legionen zugezogenen Rheinländer nach Zusammenrottung sehr entgegenkam. Sie waren neu in einem fremden Land, aber sie waren auch verdammt viele. Und man kannte sich ja. Aus Bonn.

Nirgendwo dürfte ein Berliner in jenem Spätsommer 1999 einsamer gewesen sein als in den neu bezogenen Parlaments- und Regierungsgebäuden der Bundeshauptstadt. Menschen, die sich wenige Wochen vorher kaum gegrüßt hatten, begegneten sich jetzt 500 Kilometer weiter östlich wie dicke Freunde. Kamen sie doch alle vom Rhein! Mit Dynamik bahnte sich in diesen Tagen jene verhängnisvolle rheinische Schicksalsgemeinschaft an, die wenig später etwa zum ersten Karnevalszug in Berlin seit den fünfziger Jahren führen sollte.

Wie gesagt, das Wetter war gut in diesem Sommer, die Verleihfirmen für Transportfahrzeuge hatten Konjunktur, ebenso die größeren Speditionen. Büroräume wurden in Augenschein genommen, schnatternd empörte man sich über kleinere und größere Pannen: Dass noch immer kein Telefonanschluss! Wo denn der Schreibtisch? Wie man denn, bitte schön, ohne Computer? Gleichwohl bot gerade dies beste Gelegenheit, umgehend und während der Dienstzeit improvisierte Krisenstäbe in nahegelegenen Biergärten zusammenzurufen. Am liebsten aber in der Ständigen Vertretung, kurz StäV, jenem neuberliner Etablissement, in dem sich just jenes Bonner Urgestein, das noch wenige Jahre vorher am lautesten gegen den Umzug gewettert hatte, unter Ausnutzung der veritablen rheinischen Westalgie eine goldene Nase verdiente.

„Am Freitach fahr’ isch widder no Kölle“

„Am Freitach fahr’ isch widder no Kölle, da bleib isch dann erst mal für’n Woch, isch freu’ misch att dropp.“ In den ersten Wochen und Monaten war das Geplauder der Pendler unterhaltsam und stieß auch in seinen banaleren Ausformungen auf lebhaftes Interesse. Man redete nicht über das Wetter, sondern jeder trug bei, wann er das letzte Mal am Rhein gewesen sei oder wann er das nächste Mal wieder hineilen werde. „Haach, schön“, seufzten fistelig jene, deren nächste „Heimreise“ noch auf sich warten ließ. Wie Internatsschüler vor einem Heimfahrwochenende: Heimweh, Herzschmerz, Sehnsucht allenthalben.

Dann aber kamen erste subversive Kommentare: „Geht dir das ständige Gemecker über Berlin auch so auf den Zeiger?“ – so wurde auf einmal gefragt. Erleichterung. Man war nicht mehr allein. Klar, man ging auch weiter zu den Konzerten der Höhner, wenn sie in der Hauptstadt gastierten, freute sich über Kabarettabende mit Beikircher oder Jürgen Becker. Die Sultane der rheinischen Spaßkultur vergaßen ihre Schäfchen in der erzwungenen Diaspora nicht. In den Bonner Zeiten waren diese Veranstaltungen immer ausverkauft gewesen, jetzt endlich gab es Karten. Auch das eher ein Pluspunkt für Berlin.

Fünf Jahre später ist wenig übrig geblieben von der rheinischen Westalgie, die anfangs in den meisten obersten Bundesbehörden demonstrativ das Kommando führte. Berlin 2004 hat seine rheinische Minderheit geschluckt so wie einst Amerika die Iren. Es fiel umso leichter, als viele der Zugezogenen eher Überzeugungsrheinländer waren als Eingeborene, schon in Bonn mehr „Immis“ als Platzhirsche. Längst sind die meisten von ihnen zu Überzeugungsberlinern konvertiert. Auch wenn Berlin längst nicht über die emotionale Gravitation der rheinisch-karnevalkesken Gemütsart verfügt – so ehrlich wollen wir bleiben.

Karneval im Niemandsland

Viele pflegen ihr Brauchtum, hören noch hin und wieder Bläck Fööss, kultivieren den Karneval im Niemandsland, trinken ihr Kölsch. Aber inzwischen tun sie das fröhlich, längst nicht mehr trübselig den alten Zeiten nachhängend. Vor fünf Jahren hätte man es manchem abgenommen, dass er „zo Foß no Kölle jonn“ wollte, heute singt man’s aus alter Verbundenheit noch mit.

Auch die Rheinländer im Bundestag gibt es noch, aber sie sind nicht mehr nur Rheinländer. Die berlinernden oder sächselnden Dialekte haben mit den Jahren zugenommen und Anschluss gewonnen. Die Hauptstadt, sie ist in Berlin angekommen, und mit ihr die Einflüsse aus allen Landesteilen. Außergewöhnlich ist heute nur noch, dass sich gerade originäre Berliner in den Hauptstadtinstitutionen etwas mühsam durchgesetzt haben.

Die Zahl der seinerzeit umgezogenen „Bonner“ hat sich im Laufe der fünf Jahre ein wenig verringert. Einige der Pendler von 1999 und 2000 genießen inzwischen ihren Ruhestand. Ein knappes Viertel des 59 Leute zählenden Fahrdienstes des Bundestages war 1999 auch in Berlin wieder mit dabei – heute sind von diesen ursprünglich 14 Bonnern immerhin noch 11 übrig.

Rund 800 Verwaltungsmitarbeiter des Bundestages pendelten im Jahr 2000 zwischen Berlin und Bonn jeweils zu den Wochenenden hin und her. Dazu kam eine beträchtliche Zahl an Abgeordnetenmitarbeitern, die unter denselben rechtlichen Voraussetzungen arbeiten – und umziehen – konnten. Charterflieger und Sonderzüge bewältigten diese Völkerwanderung jeden Freitag und Sonntag.

Kurz vor der Rente in die sibirischen Steppen

„Die fünf Jahre an der Spree habe ich nie bereut,“ sagte unlängst der 65-jährige Koblenzer Hans Kreuder der Rhein-Zeitung. Kreuder ist seit 27 Jahren als Saaldiener im Deutschen Bundestag tätig und geht Ende dieses Jahres in den Ruhestand. Freilich, für ihn war die Zeit in den „sibirischen Steppen“, wie Adenauer gelegentlich die Regionen rechts des Rheins genannt haben soll, von Anfang an überschaubar. Jetzt zieht es ihn zurück in sein Haus in der Nähe von Bonn. Und selbstverständlich freut er sich darauf, dass der Besuch bei seinen Verwandten in Koblenz und Umgebung zukünftig keine so weiten Wege mehr erfordert. Aber wohl gefühlt habe er sich doch in Berlin, sagt Kreuder.

So pendeln fünf Jahre nach dem Umzug nur noch wenige regelmäßig in den Westen. Aus der Bundestagsverwaltung sind es insgesamt 93 Leute, von denen 52 erst vor ein paar Wochen mitsamt der Bundestagsbibliothek nach Berlin übergesiedelt sind. Die verbleibenden 41 sind ausschließlich solche Mitarbeiter, die in absehbarer Zeit in den Ruhestand treten werden. Für sie hat eine Sonderregelung eine verlängerte Pendlerberechtigung als Alternative zur dauerhaften Übersiedelung sichergestellt. Ebenso wie Hans Kreuder besitzen einige von ihnen ihr Eigenheim in der Nähe des Rheins, in dem sie demnächst wieder wohnen werden.

Als gebürtige Bad Godesbergerin ist auch Ute Rehkessel eigentlich Bonner Urgestein. Auch sie zog mitsamt ihrem Arbeitsplatz, der Vertretung des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund, nach Berlin. Auch sie hat den Wechsel nach eigenem Bekunden gut geschafft: „Ab und zu besuche ich meine Eltern und Freunde in Bonn. Zurück will ich nicht mehr, höchstens irgendwann mal weiter, in eine andere Großstadt – Hamburg zum Beispiel.“ Sie vermisse einzig den Rhein, gegen den die kleine Spree nun einmal nicht anstinken kann. Schöner dagegen sei der freie und von Bergen unverstellte Blick, den man in Berlin habe. Und natürlich die Möglichkeiten, die einem die Großstadt biete.

Auf die Frage, was er heute noch besonders am Rheinland vermisse, antwortet Norbert Weirauch, Leiter des SPD-Fraktionsfahrdienstes im Bundestag, nur knapp: „Eigentlich nichts, außer dem Rhein und dem Siebengebirge.“ Seine Verwandten besucht er zwar regelmäßig in Bonn. Aber er sei „in Berlin geboren und im Rheinland aufgewachsen“. Schon zu „DDR-Zeiten“ fuhr er Hans-Jochen Vogel dreimal im Monat nach Berlin, so dass er längst eine Beziehung zu der Stadt hatte.

Freundschaft bis zum Verlassen des Lokals

Man glaubt ja nicht jedem alles – zumal wenn man selbst aus dem Rheinland kommt. Die Erkenntnis der Hobby-Ethnologen über das angeblich etwas oberflächliche Wesen des Menschenschlags zwischen Mittel- und Niederrhein kondensiert sich in dem Satz: „Wenn du in einer kölschen Kneipe Freundschaft schließt, dauert die bis zum Verlassen des Lokals; in Norddeutschland hast du einen Freund fürs Leben.“ Vielleicht ist das eine nicht ganz zulässige Herabwürdigung des freundlich-geselligen rheinischen Wesens, und doch liegt ein Körnchen Wahrheit darin. Nirgends in Deutschland wird Harmonie so fantasievoll inszeniert wie am Rhein – aber kaum irgendwo gebiert der Klüngel auch so überraschende und wechselhafte Interessenverbindungen.

Fern des Rheins zu sein ist für Rheinländer normalerweise eine emotionale Grenzsituation, zumindest aber: gewöhnungbedürftig. Und jeder soll dann um die beinahe schon menschenrechtswidrige Zumutung wissen, die diesen Gewöhnungsprozess erzwingt. Nach diesem Prozess der Anpassung aber wird ein Rheinländer selbst am Amazonas wieder zum Rheinländer, der auch dem größten Esel noch Komplimente macht, nur um nicht allein an der Theke zu stehen. Wer sich über die Berliner beschwert, weil sie zwischen den Extremen „ungehobelt-patzig“ und „superfreundlich“ keine Grauzone kennen, der sollte das wissen. „Der Rheinländer“, um es in den Worten eines seiner begabtesten Analytiker zu sagen, „mag es gerne geschmeidig.“ Was die Mentalität der Regionen betrifft, so kann sich die Berliner Republik von der rheinischen kaum drastischer unterscheiden. Dafür läuft es nach fünf Jahren eigentlich ziemlich gut am neuen Regierungssitz.

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