Weg mit dem Parlamentsvorbehalt?
Einwände gegen den Parlamentsvorbehalt für militärische Einsätze der Bundeswehr sind derzeit schick. Aus der Sicht der Kritiker bedarf es einer Anpassung an die Tatsache, dass Einsatzentscheidungen weniger auf nationaler als auf internationaler Ebene getroffen werden und dass die nationale Parlamentsbefassung ein zu schwerfälliges Instrument für notwendige schnelle Entscheidungen ist. Welche Motivation steht hinter solchen Erwägungen? Mit Sicherheit jedenfalls nicht das Motto „Mehr Demokratie wagen!“ Aber was dann? Europäisierung? Globalisierung? Bündnisverpflichtungen? Mehr Effizienz?
So schrieb Jochen Thies kürzlich in der Neuen Gesellschaft: „Wie kann die Bundesregierung einer Entsendung zustimmen, wenn sich der Bundestag in der Sommerpause befindet? Man sieht, der Parlamentsvorbehalt ist in Zeiten einer Europäisierung der Streitkräfte in diesem Umfang nicht länger zu halten.“
Auch die Autoren einer Expertise der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) aus dem Februar 2007 erwarten, dass künftig zunehmend die Exekutive über Einsätze entscheiden wird, zum Beispiel im Rahmen des battle group-Konzepts der Europäischen Union oder der Nato-Response Force (NRF). Die Festlegung auf Obergrenzen von Truppenkontingenten interpretieren sie als Vorratsbeschluss beziehungsweise als erweiterten exekutiven Handlungsspielraum, die Kontrolle von Spezialkräften sei ohnehin nur schwach institutionalisiert, und die unterschiedlichen Entsendeverfahren für Soldaten, Polizisten und Nachrichtendienstler verlangten nach neuen Mechanismen. Diese Analyse mündet in der Forderung nach einem Entsendeausschuss des Deutschen Bundestages – immerhin ein legislatives Instrument!
Auch Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble geht davon aus, dass die Parlamentsbeteiligung zumindest bei multinationalen Verbänden nicht aufrechterhalten werden kann. Diese Auffassung unterstützen dem Vernehmen nach auch der CDU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder und der CDU-Außenpolitiker Andreas Schockenhoff. Diese offenbar umstandslose Bereitschaft, ein bewährtes und eingespieltes Verfahren demokratischer Kontrolle aus – tatsächlichen oder vermeintlichen – Effizienzgründen so rasch zu opfern, ist verwunderlich.
Der Bundestag entscheidet zügig
Denn alle bisherigen Erfahrungen sprechen gegen die Argumente der Kritiker. Noch kein einziger Auslandseinsatz ist am Parlamentsvorbehalt gescheitert. Zudem belegen etliche Beispiele aus der Vergangenheit, dass die Entscheidungsprozesse im Bundestag keineswegs zu lange dauern. Vielmehr ist das Parlament im Stande, innerhalb weniger Tage über einen Einsatz zu entscheiden: Der KFOR-Einsatz, die Operation „Amber Fox“ oder die Beteiligung an der internationalen Schutztruppe ISAF – all diese Einsätze beriet und beschloss der Bundestag innerhalb weniger Stunden. Den Befürwortern vermeintlich effizienterer und schnellerer Verfahren scheint zudem entgangen zu sein, dass der Deutsche Bundestag im Jahr 2005 der veränderten Einsatzwirklichkeit durch das so genannte Parlamentsbeteiligungsgesetz Rechnung getragen hat, das unter anderem vereinfachte Zustimmungsverfahren bei Einsätzen geringer Intensität vorsieht und Verfahren bei „Gefahr im Verzug“ festlegt.
Der Parlamentsvorbehalt ist ein verfassungsrechtlich verankertes Instrument, mit dem die Legislative die Exekutive kontrolliert. Darüber hinaus haben die Abgeordneten dadurch die Möglichkeit, sich in die Entscheidungsprozesse der Regierung einzubringen. Der Einsatz des Militärs allein auf Grundlage exekutiven Handelns entspricht jedenfalls nicht dem, was wir uns in Deutschland erarbeitet haben – historisch, aber auch ganz praktisch. Nicht zuletzt erachten es die Soldaten, deren Angehörige sowie die breite Öffentlichkeit für notwendig, dass jeder Einsatz genau geprüft und um jede Entscheidung gerungen wird. Für die betroffenen Soldaten signalisiert die Parlamentsentscheidung umfassende Unterstützung.
Richtig ist: Die politischen Debatten auf Regierungsebene und in der Öffentlichkeit vor der formalen Parlamentsbefassung können langwierig sein. Das liegt in der Natur der Sache. Erinnert sei nur an die Diskussionen vor den Bundeswehreinsätzen im Kosovo und im Kongo. Von der Anfrage aus New York zur Bereitstellung einer EU-battle group für den Kongo Ende Dezember 2005 verging bis zur Entscheidung im Deutschen Bundestag immerhin fast ein halbes Jahr. Auch dem Tornado-Einsatz in Afghanistan ging eine längere Debatte voraus – nicht nur im nationalen Rahmen. Sogar die Vorbereitung der Entscheidungen über den ISAF-Einsatz sowie die Operation „Enduring Freedom“ in Afghanistan nach dem 11. September dauerte mehr als drei Monate. Diese „Langwierigkeit“ lässt sich in demokratischen Gesellschaften nicht verhindern. Sie ist sogar wünschenswert. Die Beispiele belegen zudem, dass die Multinationalität von Verbänden nicht ernsthaft als Beleg für die Fragwürdigkeit des Parlamentsvorbehaltes herangezogen werden kann.
Hinzu kommt, dass die vermeintliche „Bevorratung“ (SWP) durch die Festlegung von Obergrenzen für Truppenkontingente bei genauerer Betrachtung nicht als Verlust an parlamentarischer Kontrolle interpretiert werden kann. Der Begriff des Vorrats wird hier offensichtlich wörtlich genommen. Wer so argumentiert, vermag sogar in der Anzahl der Mullbinden im Lazarettzelt eines Feldlagers ein staatspolitisches Skandälchen zu entdecken. Das Argument ist auch deswegen nicht plausibel, weil der Bundestag einmal erteilte Mandate nicht ständig anpassen darf.
Vorratsbeschlüsse ergeben wenig Sinn
In einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom Februar 2007 zu den verfassungsrechtlichen Determinanten von Auslandseinsätzen heißt es: Es sei „die Bundesregierung, die grundsätzlich für den Einsatz der Bundeswehr verantwortlich ist und die innerhalb des Mandates konkrete Entscheidungen im Einsatz zu treffen hat. Daraus folgt, dass durch den Beschluss des Bundestages keine zu detaillierten Vorgaben gemacht werden dürfen, damit eine hinreichende Flexibilität für diese Entscheidungen verbleibt“. Demnach ist eine pauschale Ermächtigung der Regierung durch die Legislative zu Beginn einer Legislaturperiode ausgeschlossen. Vorratsbeschlüsse für Einsätze in integrierten Verbänden erfordern auf jeden Fall eine Änderung der Verfassung, für die aber im Bundestag keine Mehrheit besteht. Vorratsbeschlüsse im tatsächlichen Sinne des Wortes ergeben aber auch aus politischen Gründen wenig Sinn.
Eine intensivere Debatte wird es im Deutschen Bundestag allerdings zu geheimhaltungsbedürftigen Einsätzen geben müssen, die derzeit nach den Regeln von „Gefahr im Verzug“ und „erkennbar geringer Bedeutung“ beschlossen werden. Angesichts der Erfahrungen mit den Einsätzen des Kommando Spezialkräfte scheint es sinnvoll und notwendig, die parlamentarischen Kontrollmechanismen einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
Parlamentarische Kontrollen neu justieren
Der Verteidigungsausschuss wird im Rahmen seines Untersuchungsauftrages im Fall Kurnaz darüber nachdenken müssen, wie die parlamentarischen Kontrollen – bei gleichzeitiger Würdigung von Besonderheiten – neu justiert werden können. Die Unterrichtung „in geeigneter Weise“, wie es im Parlamentsbeteiligungsgesetz heißt, muss über das bisher praktizierte Verfahren der informellen Information der Obleute des Verteidigungs- und Auswärtigen Ausschusses hinaus konkretisiert und weiterentwickelt werden. Dass diese Einsätze in einem neu zu bestimmenden parlamentarischen Gremium beraten und entschieden werden, ist allerdings unwahrscheinlich. Ein „Entsendeausschuss“ aus Mitgliedern der Ausschüsse für Auswärtiges, Haushalt, Inneres und Verteidigung, wie ihn die SWP vorschlägt, geht aus mehreren Gründen an der Wirklichkeit vorbei, etwa weil nicht nur Bundespolizisten an Auslandseinsätzen teilnehmen, sondern auch Länderpolizisten.
Es gibt also keinen einzigen guten Grund, auf den Parlamentsvorbehalt zu verzichten. Er ist ein Gebot der Verfassung, entspricht aber auch unserem politischen Verständnis vom Einsatz militärischer Gewalt. Zudem ist es derzeit undenkbar, dass ein europäisches Land seine Streitkräfte der nationalen Einsatzentscheidung entzieht.