Alles wie immer
Amerikanisierung? Professionalisierung? Spin Doctors? Die schöne neue Wahlkampfwelt scheint den Parteien große Möglichkeiten zu eröffnen. Doch die Spielräume für die Auswahl der Kampagnenstrategien sind heute so beschränkt wie eh und je
Jedem Anfang liegt ein Zauber inne, dichtete Hermann Hesse. Dementsprechend gespannt war man zu Beginn des Wahljahres 2002 auf die Kampagnen zur diesjährigen Bundestagswahl. Wie würde die sozialdemokratische "Kampa" die Auseinandersetzung diesmal führen? Als Wahlkampfmaschine einer erst vier Jahre amtierenden Regierungspartei stand sie vor völlig anderen Ausgangsbedingungen als 1998. Damals konnte sie aus der Opposition heraus mit kräftigem, aus Unzufriedenheit und wachsender Wechselstimmung gespeistem Rückenwind eine seit 16 Jahren regierende Koalition attackieren. Und auch für die Union stellte sich nach vier aufregenden Jahren mit großen Wahlerfolgen 1999, der Parteispendenaffäre im Jahr 2000, Wechseln in der Parteiführung und der Auflösung der K-Frage zugunsten Edmund Stoibers eine ganz neue Herausforderung. Die Karten schienen neu gemischt.
Inzwischen ist freilich deutlich geworden, dass die aktuellen Kampagnen trotz der veränderten Wettbewerbskonstellation in vielerlei Hinsicht an den Wahlkampf 1998 und auch an die vorhergehenden Bundestagswahlkämpfe erinnern. Und eigentlich ist das auch nicht verwunderlich. Denn obwohl in letzter Zeit so viel die Rede ist von Amerikanisierung und Professionalisierung der Wahlkämpfe, von Ima-geberatern und Spin Doctors, bleiben die Spielräume für die Auswahl einer Wahlkampfstrategie auch heute so beschränkt wie eh und je.
Liest man die in letzter Zeit massenhaft erschienenen journalistischen oder wissenschaftlichen Texte zum Thema Wahlkampf, dann bekommt man allerdings häufig einen ganz anderen Eindruck. Dann könnte man meinen, das Goldene Zeitalter der Wahlkampfmanager sei angebrochen. Da wird zum Beispiel beschrieben, wie Parteien und Politiker auf professionelle Dienstleister, auf Werber, Medienberater, Demoskopen und Fundraiser, zurückgreifen, wie sie Wahlkampfstäbe mit jungen, smarten und arbeitswilligen Mitarbeitern aufbauen, wie sie durch Umfragen und focus groups die Meinungslage der Wähler erkunden, wie sie soziodemografische und wahlgeografische Zielgruppen fürs targeting definieren, wie sie systematisch Gegner- und Medienbeobachtung betreiben, wie sie durch Events und Inszenierungen, durch geschickte PR und mit Hilfe von Spin Doctors die Medien beeinflussen, wie sie das Internet für Wählerwerbung und zur Mobilisierung der eigenen Mitglieder einsetzen et cetera. Alle diese Mittel scheinen den Wahlkampfstrategen in "Kampa" und "Arena" neue Möglichkeiten an die Hand zu geben und größere Freiheitsgrade zu verschaffen. Werden wir Zeugen einer neuen Art von Wahlkampagnen?
Was kein War Room jemals hinbekommt
Bisher sieht es danach nicht aus. Im Gegenteil: Von einer neuen Allmacht der Kampagneros kann überhaupt keine Rede sein. All die schönen neuen Methoden der Wahlkampfführung werden in ihrer Bedeutung relativiert, wenn am Ende alles Tun wirkungslos verpufft. Erst dann kommt man erschrocken zur Besinnung. War da noch was? Ja, da ist noch was. Es sind zum Beispiel die externen Rahmenbedingungen, unter denen Wahlkämpfe stattfinden - die konjunkturelle Lage oder die Situation auf dem Arbeitsmarkt etwa. Beides spricht momentan nicht für die SPD. Und da ist natürlich der Teil des politischen Meinungsklimas, der die Leistungen der Parteien in der zurückliegenden Legislaturperiode betrifft - vor allem der Eindruck, den die Bürger in den vergangenen zwei Jahren von der Regierung gewonnen haben. Und auch hier steht es nicht sonderlich gut um Rot-Grün. Solche Faktoren und Wahrnehmungen verändern sich zwar durchaus noch im Laufe eines Wahljahres und sie können auch beeinflusst werden. Beliebig umdefinierbar sind sie jedoch in den allermeisten Fällen nicht. Kein noch so ausgefuchster War Room vermag das.
Wer vorne liegt, wird präsidial
Wahlkampfführung muss also mit Beschränkung leben - und die bisher beschriebenen Faktoren sind bei weitem noch nicht alles. Die kreative Freiheit der Wahlkampfstrategen ist noch viel grundlegender begrenzt. Das Problem ist ganz banal und liegt - wie sollte es anders sein - im System. Die Grundanlage eines Wahlkampfs wird nach wie vor und ganz entscheidend davon bestimmt, ob eine Partei in der Regierungs- oder Oppositionsrolle antritt. Jede Regierungspartei gründet ihre Kampagne zunächst auf einer Leistungsbilanz, ob man - wie die SPD in den siebziger Jahren des abgelaufenen Jahrhunderts - nun dazu aufruft, stolz auf das Land zu sein und das "Modell Deutschland" propagiert oder - wie die CDU 1987 - "Weiter so" plakatiert. Immer preist die Regierungspartei das Erreichte und wirbt für dessen Fortsetzung. So spricht auch in diesem Jahr wieder die regierende SPD davon, viel erreicht zu haben und mehr Zeit zu benötigen. "Wir sind auf dem richtigen Weg" - das war auch das Motto der ersten Regierung Kohl. Und wenn die Lage noch nicht ganz so rosig ist, verweist man auf eine blühende Zukunft: "Der Aufschwung kommt", das erklären in diesem Jahr Schröder, Müntefering, Machnig & Co. In den vergangenen Wahlkämpfen war genau dies das Credo der Christdemokraten. Leute, die das von der Regierung schön gefärbte Bild bezweifeln, werden dabei regelmäßig als Schlechtmacher und Nestbeschmutzer in den Senkel gestellt. So war es früher - und auch Kanzler Schröder hat auf seiner Parteitagsrede Anfang Juni eine Kostprobe davon gegeben.
Die Oppositionspartei geht natürlich mit der entgegengesetzten Strategie an den Start. Sie geißelt das Versagen der Regierung, die ihre Versprechen gebrochen habe und durch die alles viel schlimmer geworden sei. 1998 waren die Arbeitslosigkeit und die Reformen der Kohl-Regierung die entsprechenden Themen der Sozialdemokraten. Diesmal werden die ungünstige Lage in den Bereichen Wirtschaft und Arbeitsmarkt sowie die rot-grünen Reformen von der Union ins Visier genommen.
Ein zweiter entscheidender Faktor, durch den die Wahlkampfstrategien definiert werden, ist die Frage, welche Partei in den Meinungsumfragen vorne liegt und welche hinten. Hat die Regierungspartei bei der Sonntagsfrage einen soliden Vorsprung, wählt sie eine Präsidialstrategie, bei der sich der Kanzler als ein über den Parteien stehender Landesvater geriert und der Herausforderer weitgehend ignoriert wird, um keine Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Die Union konnte diese Taktik 1990 und 1994 - zumindest nach der Sommerpause - anwenden. Auch die SPD plante für dieses Jahr offenbar zunächst eine Präsidialstrategie, was dann aber durch die für sie negative Stimmungsentwicklung vereitelt wurde. Jetzt - als Verfolger - muss sie eine Angriffsstrategie fahren und die Wahl zur Richtungsentscheidung deklarieren. Dementsprechend spricht Kanzler Schröder von einer Entscheidung "zwischen Zukunft und Vergangenheit, zwischen Fortschritt und Rückschritt" und greift die Union als Partei der "sozialen Kälte" und der "reaktionären" Leitbilder an. Davon abgesehen seien die politischen Pläne der Union nicht finanzierbar und unseriös. Vor vier Jahren war es umgekehrt der ebenfalls zurückliegende Kanzler Kohl, der zu einer polarisierenden Angriffsstrategie gezwungen war.
Auch hier wurde die Opposition als rückschrittlich, nicht regierungsfähig und als Risiko für das Land hingestellt. Besonders die absehbare Koalition der SPD mit den Grünen, die zum Teil extreme Forderungen aufgestellt hatten (5 Mark pro Liter Benzin), und ein potentielles Bündnis der SPD mit der PDS (Rote-Hände-Plakat) wurden angegriffen. Über diesen Umweg ließ sich eine noch schärfere Polarisierung erreichen. In diesem Jahr muss nun die FDP für diese Taktik des Über-die-Bande-Schießens herhalten. Den Liberalen kann die SPD noch weitaus besser als der Union "soziale Kälte" vorwerfen, aber gleichzeitig werden beide Parteien in einem Atemzug genannt. Und durch die von Möllemann losgetretene Diskussion über Antisemitismus und Rechtspopulismus in der FDP hat sich ein weiterer Angriffspunkt gegen die Liberalen und damit gegen eine schwarz-gelbe Koalition ergeben.
Noch etwas erinnert an 1998: Für die Oppositionspartei Union hat sich in diesem Wahlkampf bisher eine ähnlich komfortable Situation ergeben wie für die SPD vor vier Jahren. Sie steht in den Umfragen gut da und konnte deshalb ihre Angriffe auf die Regierung, die sie im Falle eines Rückstands intensivieren müsste, im Spargang fahren. Die Unzufriedenheit mit Rot-Grün aufgrund der schwachen Konjunktur und der noch immer hohen Arbeitslosigkeit auf der einen Seite und eine geschlossene Union unter Führung eines als kompetent wahrgenommenen und moderat auftretenden Kanzlerkandidaten auf der anderen Seite haben bislang weitgehend ausgereicht, um die Stimmung zugunsten der Union zu halten. Sieht man einmal von der Positionierung Stoibers als Politiker der Mitte und von sporadischen Attacken auf die Regierung ab, mussten die Christdemokraten im Grunde noch nicht viel unternehmen. Da die Regierungskoalition zudem lange Zeit auf eigene personelle oder thematische Initiativen zu verzichten schien, ist es Stoiber durch die sukzessive Benennung seines "Kompetenzteams" immer wieder gelungen, Medienberichterstattung hervorzurufen und Rot-Grün in die Defensive zu drängen - Ähnlichkeiten mit den von George W. Bush im US-Präsidentschaftswahlkampf 2000 erfolgreich eingesetzten regelmäßigen Themeninitiativen sind dabei wohl kein Zufall.
Dass die Union durch ihre gute Position in den Umfragen bisher nicht gezwungen war, permanent auf Rot-Grün einzuprügeln, hat natürlich die Selbstdarstellung als Partei der moderaten Reformen erleichtert. Das ist für die Christdemokraten wichtig, denn ebenso wenig wie 1998 wollen die Wähler in diesem September einen radikalen Politikwechsel. Ihnen geht es - wie vor vier Jahren - eher um bessere Per-formanz. Daher ist es nur folgerichtig, dass Stoiber die Taktik der SPD von 1998 aufgreift und verspricht, die kleinen Leute mitzunehmen und nicht alles anders zu machen, sondern vieles besser. Und um die Kopie zu komplettieren wird diesmal statt eines Jost Stollmann ein Lothar Späth als Mann mit Erfahrung in der Wirtschaft präsentiert. So wiederholen sich die Strategien.
Eine Neuauflage erfährt in diesem Jahr auch die übliche Personalisierungsstrategie der Regierungspartei, denn bekanntlich besitzt Schröder - wie die meisten Bundeskanzler vor ihm - einen Amtsbo-nus. Kanzler Kohl etwa konnte seit 1990 als internationaler Staatsmann und Vater der deutschen und europäischen Einheit präsentiert werden. Auch 1998 noch verfügte er in diesen Bereichen über hervorragende Werte. In diesem Jahr sind nun die Sozialdemokraten an der Reihe, und - was für eine Überraschung! - wieder einmal kommt es auf den Kanzler an.
Traditionen bleiben unverzichtbar
Dass diese Personalisierungsstrategie - das "Er oder Ich" - jedoch allein nicht genügt, hat die SPD schnell gemerkt. Zum einen ist es ihr nicht gelungen, Stoiber als einen Rechtsaußen-Politiker hinzustellen, der er einfach nicht ist. Zum anderen konnte das "Er oder Ich" die eigenen Bataillone nicht hinreichend motivieren. Und hier kommt ein dritter Faktor ins Spiel, der die Wahlkampfstrategien von Parteien maßgeblich beschränkt. Es ist der eigene Werte- und Themenkanon, der in jedem Wahlkampf aufgegriffen werden muss. Selbst in diesen angeblich ideologiefreien Zeiten bleiben die alten Traditionsvorräte der Parteien für die Mobilisierung der eigenen Mitglieder und Anhän-ger unverzichtbar. Eine Strategie ohne Rücksicht auf die eigenen Werte- und Themenvorstellungen einfach an einer demoskopisch erhobenen Mehr-heitsmeinung zu orientieren - genau das funktioniert eben nicht. Folglich betont Schröder nun das Thema Soziale Gerechtigkeit deutlich stärker und propagiert die SPD als Garant des starken Staates und damit als Schutzmacht der kleinen Leute. Damit greift er auf den zentralen Topos früherer sozialdemokratischer Wahlkämpfe zurück. Und in dem Slogan "Erneuerung und Zusammenhalt", der den Slogan "Innovation und Gerechtigkeit" von 1998 ziemlich unverblümt kopiert, wird diese Gerechtigkeitskomponente noch um das weitere traditionelle sozialdemokratische Motiv der gesellschaftlichen Modernisierung ergänzt.
Regierungs- und Oppositionsrolle, die Position in den Meinungsumfragen und der eigene Werte- und Themenkanon - das alles sind Faktoren, die die Freiheitsgrade der Wahlkämpfer massiv beschränken. Aus ihnen folgen geradezu archetypische Auseinan-dersetzungsmuster, die in bundesdeutschen Wahlkämpfen in schöner Regelmäßigkeit auftreten. Und selbst unter den Bedingungen der Modernisierung, welche die Führung von Wahlkämpfen in Deutschland ja nicht erst seit den neunziger Jahren, sondern als permanenter Prozess kennzeichnet, bleiben sie bestehen.
Ohne Botschaft ist alles nichts
Auch im Bundestagswahlkampf 2002 gilt also: "Campaigning as Usual". Insofern sollten Wahlkämpfe und Wahlkampfführung vielleicht häufiger unter solchen systemischen und kontextuellen Rahmenbedingungen betrachtet werden. Die neuen Techniken der Kampagnenführung, die inzwischen oft, aber zu Unrecht mit der Wahlkampfstrategie insgesamt gleichgesetzt werden, definieren Kampagnen jedenfalls nur partiell. Natürlich: Es ist notwendig, solche Methoden zu kennen, sie zu beherrschen und anzuwenden. Doch sind sie nur die eine Seite der Medaille. Sie sind Teil der Wahlkampagne, aber sie sind nur Hilfsmittel - das Handwerkszeug, nicht das Kunstwerk. Das wichtigste Element der Wahlkampfstrategie ist und bleibt die zentrale Botschaft. Mit ihr muss eine Partei die überzeugendste Begründung dafür liefern, warum man sie und keine andere wählen soll. Gerade hier haben Parteien und Politiker - trotz modernster Metho-den - immer wieder arge Formulierungsschwierigkeiten. Wir werden sehen, ob es in diesem Wahlkampf anders kommen wird.