Nach der Wahl ist vor der Wahl
Tobias Dürr --
EDITORIAL
Diese Ausgabe der
Berliner Republik hat ein großes Thema. Die meisten ihrer Beiträge beschäftigen sich mit den Perspektiven der Sozialdemokratie in Deutschland über den 22. September hinaus. Dafür gibt es gute Gründe. Zwei Monate vor der Bundestagswahl ist der Sieg der SPD - nun ja: jedenfalls noch nicht vollends unter Dach und Fach. Viel spricht dafür, dass Gerhard Schröder und die Partei das Blatt in den kommenden Wochen noch drehen werden. Und Argumente, die das rechtfertigen würden, gibt es ja nicht wenige - auch in diesem Heft sind etliche davon aufgeführt. Aber immerhin, die Ausgangslage ist offen genug, um ebenso offene Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen, die auch nach dem Wahltag noch gültig sein können. Was die Autorinnen und Autoren dieser Nummer der
Berliner Republik intensiv beschäftigt, sind die Voraussetzungen und Chancen sozialer Demokratie unter den Bedingungen von Globalisierung, Europäisierung und beschleunigtem sozialem Wandel. Gemeinsam meinen sie, dass die SPD einen neuerlichen Wahlsieg verdient hat. Gemeinsam wollen sie aber jetzt schon Grundlagen dafür legen, dass demnächst noch klarer werden kann, "wohin die Reise gehen soll" (Franz Walter). Denn es ist ja nicht so ohne weiteres zu leugnen: Gemangelt hat es der deutschen Sozialdemokratie in den nun ablaufenden vier Jahren durchaus an einem roten Faden, der ihre große, aber lose und vorläufige Wählerkoalition von 1998 integrieren und fester an die Partei hätte binden können, bereit zur dauerhaften Identifikation mit sozialdemokratischer Politik.
Das ist etwas bedauerlich. Es ist im Übrigen auch nicht zwangsläufig gewesen. Unter sozialstrukturellen und kulturellen Gesichtspunkten gibt es buchstäblich keinen Grund, weshalb eine moderne, in jeder Hinsicht zeitgenossenschaftliche Partei der sozialen Demokratie in diesem Jahrzehnt nicht die natürliche Partei einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit in dieser Republik sein könnte. Vielleicht gelingt ihr das im September, vielleicht nicht. So oder so aber muss schon jetzt die Debatte darüber beginnen, wie eine überzeugende sozialdemokratische Mehrheitsstrategie für die kommenden Jahre aussehen sollte. Viel wird darauf ankommen, ob Sozialdemokraten die sozialen, geistigen und kulturellen Tendenzen ihrer Zeit intensiv genug im Blick behalten. Viel wird auch darauf ankommen, ob Sozialdemokraten zur produktiven Synthese von Wirklichkeit und eigenen Werten in der Lage sind. Ganz in diesem Sinne hat sich die
Berliner Republik in den vergangenen Jahren zu einem offenen Forum des intellektuellen Austauschs über Gegenwart und Zukunft des neuen Deutschland entwickelt. Sie ist nicht nur zu einem Ort der politischen Analyse geworden, sondern zugleich zu einem Seismografen gesellschaftlicher Zustände. Die intensive Anstrengung ihrer Autorinnen und Autoren, dieses Land in seinem Umbruch zu verstehen, mag manchmal etwas unbequem sein. Überflüssig ist sie umso weniger.
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