Alles zurück auf Anfang
Und die Sachsen hatten sogar ein wenig Glück. Die DDR hinterließ ihnen eine vergleichsweise gut durchmischte Wirtschaftsstruktur, eine reichhaltige Kulturlandschaft, eine Vielzahl historischer Universitäten. Mit Leipzig, Chemnitz und Dresden konnte Sachsen auf drei große Ballungszentren aufbauen. Auf dieser Basis lief der Transformationsprozess in der ersten Hälfte der neunziger Jahre gut an: VW in Zwickau, die neue Leipziger Messe, Infineon oder AMD in Dresden sind Beispiele. Zwar stiegen auch in Sachsen die Arbeitslosenzahlen steil an. Doch im Bewusstsein der Menschen lebte das Land wieder auf.
Biedenkopf wurde zum neuen Helden des neuen Freistaates. Mit der Aura des liberalen Querdenkers schien er in den ersten Jahren auch die Opposition für sich einzunehmen. Er war der Riese unter Zwergen. Doch die CDU begann bald, ihre absolute Mehrheit zu nutzen. So wurden Schul- und Verwaltungswesen nach bayrischen oder baden-württembergischen Maßstäben aufgebaut - einschließlich der auch damals schon bekannten Fehler. Die "Schwarzen" besetzten alle Stellen im Land - in der Verwaltung, in der Justiz, in den Medien. Seit 1990 wird der Freistaat von einer einzigen Partei regiert - das ist einmalig in den neuen Ländern. Und es ist stets der Anfang, der politische und gesellschaftliche Kulturen besonders prägt. Doch der Verantwortung, die sich daraus ergibt, wurden Kurt Biedenkopf und die CDU nicht gerecht. Die Repräsentanten des "Vorzeigestaates im Osten" seien "anfällig für Überheblichkeit", schrieb selbst die Frankfurter Allgemeine schon 1998.
Die politische Kultur kam auf den Hund
Dazu kamen Skandale und Skandälchen, nicht nur um Dienstwagen, um Koch, Gärtner und Staatsvilla des Regierungschefs. Da wurden Freunde des Ministerpräsidenten beim Investieren in Sachsen bevorzugt behandelt, erhielten Monopolstellungen und Sonderkonditionen - Amtsführung nach Gutsherrenart. Biedenkopfs Popularität im Lande tat das wenig Abbruch. Die Sachsen gestatteten Biedenkopf seinen Lebensstil, sie wollten an den Gefälligkeiten für Biedenkopfs Freunde nichts Unanständiges finden. Die politische Kultur kam auf den Hund.
Die letzten zwei Jahre müssen für Biedenkopf und die CDU eine Qual gewesen sein. Der Ministerpräsident hatte den richtigen Zeitpunkt für den Abgang verpasst. Und er hatte es versäumt, geeignete Nachfolger ausfindig zu machen. So wurde das Regierungsdrama zur Schmierenkomödie der CDU. Die seit Anfang 2000 offene Machtfrage ließ das Gebälk knirschen. Mit Finanzminister Milbradt feuerte der Ministerpräsident im Januar 2001 ausgerechnet das vermeintlich fähigste Mitglied seines Kabinetts. Es folgte ein kabarettreifes Lehrstück: Wie ruiniere ich meinen Ruf, spalte meine Partei und hinterlasse einen Scherbenhaufen?
Doch jetzt haben die Sachsen einen neuen Ministerpräsidenten: Georg Milbradt. Unter so widrigen Umständen wie er dürfte kaum ein anderer Regierungschef in Deutschland an die Macht gekommen sein. Ein Drittel seiner Partei lehnt ihn ab, seine Landtagsfraktion ist zerrissen. "Menschlich ungeeignet", "miserabler Politiker" - so grummelte es in der CDU. Ein neuer Aufbruch? Dahin.
Die Opposition? Marginalisiert und gespalten
Dabei hatte Milbradt noch im Sommer 2001 kluge Gedanken zum Zustand von Partei und Demokratie in Sachsen formuliert. Sein Bemühen, Biedenkopfs Nachfolge anzutreten, nötigte ihn jedoch zu immer mehr Kompromissen und Verrenkungen. Mit dem Makel des Königsmords wird er trotzdem leben müssen. Sein ursprüngliches Ziel, anders zu regieren als Biedenkopf, mit anderen Inhalten und anderen Personen, muss Milbradt erst einmal begraben. Zuletzt hörte man von ihm nur noch, er wolle weitermachen wie Biedenkopf, der ach so erfolgreiche.
Und die Opposition? Seit 1990 marginalisiert und tief gespalten, hat sie es bisher nicht vermocht, eine Alternative zur CDU aufzubauen. Und das, obwohl die Regierung allerhand offene Flanken bietet, denn wirklich regiert hat in Sachsen seit zwei Jahren keiner mehr. Keine Projekte, keine Diskussionen - nur noch gähnende Leere. Der Landtag debattierte die Fahrpreise der Deutschen Bahn, den EU-Beitritt der Ukraine oder ob man über die Fußballfernsehrechte per TED abstimmen sollte. Bildungsreform? Verwaltungsreform? Versorgung mit Kitas? Förderung von kleinen Unternehmen? Arbeitsmarktpolitik? Die Liste ließe sich fortsetzen, der Tatbestand grenzt an chronisch unterlassene Hilfeleistung. Nichts ist passiert. Und was passierte, ging schief. Oder blieb Stückwerk.
Die PDS, seit 1999 zweitstärkste Kraft im Landtag, konnte eine Weile vor Kraft kaum noch laufen. Doch häufig genug stolpert sie über sich selbst. Vor allem leisten sich die SPD und PDS einen bizarren Wettstreit darüber, wer die beste Opposition sei im Lande. Heraus kommt dabei wenig. Die PDS, mit 18.000 Mitgliedern noch immer die größte Partei in Sachsen, beginnt zu schwächeln. Ihr geht das Personal aus. In der Landeshauptstadt hat die PDS im letzten Jahr keinen OB-Kandidaten aufbieten können, der sächsische Spitzenkandidat für die Bundestagswahl wurde aus Berlin verordnet. Eine kohärente Personalpolitik ist bei der PDS nicht erkennbar. Seit der Fraktionschef im Landtag den Parteivorsitz an eine blasse Nachfolgerin übergab, hat die Partei kein politisches Zentrum mehr. Ministrables Personal oder eine stimmige Strategie gibt es nicht. Die PDS in Sachsen macht nicht den Holter oder den Gysi. Stattdessen erlebt das erstaunte Publikum eine absonderliche Anbiederung an die CDU. Eine Strategie der Zusammenarbeit mit der SPD, die in Sachsen ohnehin ihre Schwierigkeit mit den Post-SEDlern hat, gibt es nicht. Im Landtag musste die SPD lernen, dass selbst kleine Versuche der Zusammenarbeit scheiterten.
Noch fehlt der SPD das strategische Zentrum
Gleichwohl wird die PDS von den Menschen wichtiger genommen. Bei der Frage, welche Partei Probleme kompetent lösen kann, haben die SED-Erben kräftig aufgeholt. Früher wurden sie gewählt, obwohl ihnen wenig zugetraut wurde. Heute, so hat eine Umfrage der sächsischen Staatskanzlei jüngst ergeben, besitzen sie ein beachtliches Kompetenzprofil: In sechs Politikfelder liegt die PDS vor allen anderen Parteien, vor allem bei der Familien-, Sozial- und Jugendpolitik.
Und die Sozialdemokraten? Die Landtagswahlen seit 1990 waren für sie ein beständiger Abstieg. 1999 erlebte sie mit 10,7 Prozent ihr Waterloo. Und richtig erholt hat sie sich bis heute davon nicht. Zu viele Machtzentren, die angesichts jener 10 Prozent kaum welche sind, agieren nebeneinander her, sei es in Landtag, Bundestag oder Parteizentrale. Vor allem das soziale Profil hat in den letzen Jahren gelitten. Die Sachsen sehen kaum einen "sozialen" Unterschied zwischen SPD und CDU. Doch als die Zukunftspartei wird nur vom Platz gehen, wer es schafft, ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit mit den nötigen Modernisierungsschritten zu verknüpfen. Vor den Sozialdemokraten liegt viel Arbeit.
Die Marginalisierung im Landtag und die übergroße Mehrheit der CDU haben dazu geführt, dass die Oppositionsparteien sich ausführlich mit sich selbst beschäftigen. Höhepunkt der Nabelschau: Als der Ministerpräsident im Januar mit hochrotem Kopf im Landtag zurücktritt, fliegen zeitgleich drei Etagen höher in der SPD die Fetzen: Partei und Landtagsfraktion streiten sich darüber, ob man in dieser Situation Neuwahlen fordern könne oder nicht. Deutlich wird: Die SPD hat noch kein strategisches Zentrum, keine klaren Ziele und keine Personalstrategie.
Statt die Fenster weit aufzumachen, haben sich die Sachsensozis abgekapselt. Statt neue Wählergruppen zu erschließen, neue Themen zu bearbeiten, neue Leute zu fördern, treiben sie business as usual. Zwar gab es erste Ansätze - der Landtagsfraktion gehören drei Quereinsteiger aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gewerkschaft an -, doch diese Versuche sind zum Stillstand gekommen. Lähmung erfasst die Partei, wenn es um die "PDS-Frage" geht. Inhaltliche Differenzen gibt es nur wenige im Land der Pragmatiker, um die Machtfrage namens PDS schleichen alle wie die Katze um den heißen Brei. Für einen eigenständigen und unabhängigen Kurs fehlt der SPD bisher der Mut.
Die guten Ideen verlassen das Land
Dabei haben die Sozialdemokraten immer noch alle Chancen, zur bestimmenden Kraft im Freistaat zu werden. Die Sachsen unterscheiden sich nicht von den gefürchteten Wechselwählern des Ostens. Sie wählen pragmatisch, legen Wert auf Person und Kompetenz. Da die CDU momentan nicht in der Lage ist, vernünftig zu regieren, werden sich die Scheinwerfer bald ganz automatisch stärker auf die SPD richten. Als Partei der Mitte hat die SPD die Chance, nach allen Seiten zu integrieren - bislang lässt sie sich von PDS und CDU einzwängen. Was den Sozialdemokraten im Land fehlt, sind daher eine Strategie, bekannte Personen, Kompetenzen - und Selbstvertrauen.
Im Jahr 12 nach der Wende befindet sich Sachsen in der absurden Situation, dass keine der drei großen Parteien die Kraft hat, die Herausforderungen der zweiten Aufbauphase programmatisch und strategisch anzugehen. Diese zweite Phase ist durch Prozesse gekennzeichnet, die sich wechselseitig verstärken: den wachsenden Widerspruch zwischen Peripherie und Großstädten, den Bevölkerungsrückgang durch Abwanderung und Geburtenknick, Unternehmen, deren große Belastungsprobe mit EU-Osterweiterung und Fachkräftemangel ab 2006 erst noch bevorsteht. Das ganze vor dem Hintergrund langsam sinkender Finanztransfers, einer noch immer großen Infrastrukturlücke gegenüber den alten Bundesländern, einer geringen Eigenkapitaldecke und dem Fortzug der Eliten des Landes. So hat sich seit Ende der neunziger Jahre der Anteil der gut Ausgebildeten unter den Abwanderern mehr als verdoppelt. Mit ihnen laufen die Ideen davon.
Ein Solotänzer macht noch kein Ballett
Große Aufgaben stehen dem Freistaat bevor. Gesucht wird die Formation, die die Rahmenbedingungen der zweiten Aufbaudekade am schnellsten erfasst, innovative und vor allem Mut machende Antworten findet. Und die eine Person aufbieten kann, die Kompetenz, Führungsstärke und dabei ein soziales Gewissen verkörpert. Noch hat die CDU die beste Ausgangsposition. Vielleicht schafft der neue Ministerpräsident ja doch den Spagat zwischen den vielen Flügeln der Union - doch die "Koalition des Mandaterhaltes" der CDU-Landtagsabgeordneten kann schnell zerfallen. Milbradts egentliche Achillesferse ist allerdings die soziale Frage.
Zu lebendig sind die Erinnerungen aus seiner Zeit als Finanzminister, die mit Streichungen bei Kitas und Erziehungsgeld verbunden sind. Die PDS hat solche Probleme nicht, schließlich gilt sie als die soziale Partei im Osten. Sie will demnächst einen Ministerpräsidentenkandidaten benennen und zum Sturm auf die erste Staatskanzlei ansetzen. Für die deutsche Öffentlichkeit dürfte das CDU gegen PDS durchaus Charme besitzen - die SPD muss aufpassen, dass sie dabei nicht unter die Räder kommt. Die SPD besitzt zwar mit dem erfolgreichen Leipziger Oberbürgermeister am ehesten einen "Ministerpräsidiablen" - doch ein Solotänzer macht eben auch noch kein erfolgreiches Ballett.
Nach dem Ende der Ära Biedenkopf steht die politische Uhr in Sachsen wieder auf Anfang. In den zwei Jahren bis zur nächsten Landtagswahl wird es einen Wettlauf um die Frage geben, wer Sachsen in die zweite Etappe der Transformation führen wird, wer der prägende Kopf der kommenden Jahre sein kann. Zur Zeit besitzt keine der Parteien die nötige strategische und personelle Kompetenz. Überraschungen nach allen Seiten sind möglich.