Als Brandt erregt zur Marschmusik wippte
Welcher Kanzler hörte lieber Marschmusik als Mahler? Es war Willy Brandt, der Märschen gerne lauschte. In Moskau wippte er gar freudig erregt mit der Melodie der Sowjetkapelle. Und welcher Bonner Regierungschef musste mit dem Vorwurf leben, er lasse zu modern bauen? Ludwig Erhard war der modernen Architektur zugetan wie kein anderer. Hinsichtlich seines eigenen Glas-Stahl-Flachbaus am Tegernsee wie des berühmten Bonner Bungalows hieß es in den sechziger Jahren: “Ein deutscher Kanzler wohnt nicht wie im Bauhaus!”
Die überraschenden Vorlieben von Brandt und Erhard sind Beispiele dafür, wie Norbert Seitz den Leser in seinem Band Die Kanzler und die Künste immer wieder verblüfft. In sieben Kapiteln beschreibt Seitz mit zahlreichen Zitaten und geistreichen Gedanken Sympathien, Antipathien, Stärken und Schwächen der Kanzler im Verhältnis zu den Künsten. Der Autor konstatiert in der Gründungsphase der Bundesrepublik eine Kunstdistanz, die auf dem Kulturföderalismus sowie dem “Lernen aus der Geschichte” beruht. Der Missbrauch der Kunst im Nationalsozialismus mündete im Wunschbild einer möglichst politikfreien Kunst. Ausgerechnet der Grüne Hügel in Bayreuth bat darum, “von Gesprächen und Debatten politischer Art auf dem Festspielhügel freundlichst absehen zu wollen ... Hier gilt die Kunst”!
In den fünfziger und sechziger Jahren herrschte dabei zuweilen ein kleingeistiges, fast piefiges Klima. “Intellektueller” war ein negativ belegter Begriff – und Heinrich Lübke kommentierte das Erscheinen von Grass’ Blechtrommel mit den Worten: “Da sollen ja Sachen drinstehen, über die man nicht einmal mit seiner Frau spricht!”
Seitz führt den Leser von Adenauers Vorliebe für Stefan Lochners Madonnengemälden bis hin zu Schröders Haltung zur “Flick Collection”. Die Geschichte der Beziehungen zwischen Kanzler und Künsten beschreibt Seitz als eine Kurve, die ihren Scheitelpunkt während des Beginns der Regierung Brandt erreicht. Diese kurze, heftige Leidenschaft war einer Ignoranz unter Adenauer und einem fehdenreichen Un-Verhältnis zur Zeit von Erhard und Kiesinger gefolgt. Doch der Absturz der Kurve ließ nicht lange auf sich warten. Unter Schmidt kühlte sich das Verhältnis ab. Es folgte eine lange, lange Phase der Entfremdung während der Regierung Kohl. Erst mit Gerhard Schröder söhnten sich Geist und Macht aus. Ohne jegliche Leidenschaft jedoch.
“Die Leute sollen wat zu lachen haben”
“Die Leute sollen wat zu lachen haben”, befand Kölns Oberbürgermeister anno 1945. Konrad Adenauer nahm an der Nachkriegs-Premiere im Millowitsch-Theater teil. Mit einer heute entwaffnenden Ignoranz urteilte er im Tempel der Kunst, dem Louvre, über die Mona Lisa: “Die hat so ein dämliches Grinsen.” In keiner seiner Regierungserklärungen erwähnte Adenauer die Kunst. Er begründete jedoch eine Aufgabenteilung zwischen Bundeskanzler und Bundespräsident, die sich in den folgenden Jahrzehnten ähnlich wiederholte. Während sich der zynische Kanzler der Machtpolitik widmete, würdigte der belesene, bildungsbürgerlich geprägte Bundespräsident die schönen Künste.
Ludwig Erhard, befreundet mit dem Architekten Sep Ruf, machte sich mit dem Bau des Kanzlerbungalows unbeliebt. Die Menschen hielten ihn für zu modern. Andererseits mangelte es Erhard an Verständnis und Respekt für seine Kritiker, die er als “kleine Pinscher” beschmipfte. Er verbat sich politische Äußerungen von Künstlern, indem er darauf hinwies, er maße sich auch nicht an, Heisenberg über Kernphysik zu belehren. Selbst Kiesinger wurde als klassischer Bildungsbürger in den sechziger Jahren “eher gehänselt als geschätzt”. Er, der einst Dichter werden wollte, blieb den Künstlern stets fern. Nachdem Beate Klarsfeld Kiesinger geohrfeigt hatte, schickte Böll ihr einen Blumenstrauß.
In Willy Brandt sahen viele Künstler die Chance für eine neue Moral im Staat. Doch wurde Brandt den hohen Ansprüchen gerecht? Er war künstlerisch nicht besonders interessiert, begegnete der Kunst jedoch mit mehr Demut und Respekt als seine Vorgänger. Lenz, Härtling, Koeppen, Walser, Delius, Grass und viele mehr machten Wahlkampf für Brandt und stützten den Kanzler. Im letzten Teil seiner Amtszeit aber fühlte sich der Kanzler genervt, besonders von Grass. Dieser spielte mit dem Gedanken, Abgeordneter zu werden, hoffte auf ein politisches Amt – doch Brandt erfüllte diese Hoffnung nicht. Klaus Harpprecht lästert, Grass sei es allein um Ego und Eitelkeit gegangen.
Über Grass mokierte sich auch Helmut Schmidt: “Ich kenne jedes Buch von Günter Grass, aber von mir hat er noch nicht ein einziges gelesen.” Dem (angeblich) eiskalten Pragmatiker, dem Macher Schmidt, widerspricht so wunderbar der Künstler Schmidt, selbst am Klavier sitzend, gar ein Mozartkonzert aufnehmend. Schmidt ließ Nolde und Kirchner im Kanzleramt aufhängen und besuchte Barlachs “Schwebenden” in Güstrow. Vor allem aber: Es war die Regierung Schmidt, die den Weg für eine gesetzliche Absicherung von Künstlern bereitete. Schmidt hörte Künstlern zu, notierte und setzte in die Tat um. Preußische Disziplin und hanseatischer Realismus führten zum Erfolg, nicht nur bei der Gründung der Künstlersozialkasse. Dennoch wird Brandt als der Kanzler der Künstler verklärt.
Wo bitte steht der “monströse Bronzeklops”?
Und Helmut Kohl? Elke Heidenreich hatte als Kabarettistin einst gezürnt, Schmidt habe gerne Orgel gespielt, Kohl hingegen esse gerne. Viele Künstler konnten mit Kohl und dessen Heimat-Rhetorik nichts anfangen. Doch “Birne” Kohl war nach einigen Jahren verschwunden, und spätestens im Prozess der Vereinigung Deutschlands agierte Kohl alles andere als engstirnig. Dies blieb vielen seiner Kritiker aus Kunst und Kultur überlassen. Kohl war kein Schöngeist und demonstrierte dies auch. Zwar hatte er sich als Ministerpräsident in Mainz eifrig mit Josef Beuys ausgetauscht. Als Kanzler aber besuchte er bestenfalls Ernst Jünger: “Oggersheim trifft Wilflingen.” Kohls Drang danach, Geschichte zu schreiben, manifestiert sich in Pei-Bau, neuem Kanzleramt oder der Bonner Museumsmeile. Ob Kohl allerdings mit dem Holocaust-Mahnmal einen “symbolischen Schlussstrich” beabsichtigte, wie Seitz meint, ist fragwürdig. Und wo in der Neuen Wache in Berlin ist ein “monströser Bronzeklops” zu sehen? Wie schon in den fünfziger Jahren erwies sich mit Richard von Weizsäcker der Bundespräsident als Gegenstück zum Kanzler: In der Villa Hammerschmidt hingen nun Werke des Impressionismus und der klassischen Moderne. Von Weizsäcker nahm als Privatmann an Bölls Beisetzung teil, von Kohl ist dies nicht überliefert.
Wo Adenauer das Wort “Kunst” in seinen Regierungserklärungen vergaß, machte Gerhard Schröder als Kanzlerkandidat mit der Kultur Wahlkampf. Als das Kulturstaatsministerium eingerichtet wurde, hagelte es Proteste. Grass, Schmidt und Kohl waren in dieser Frage in Ablehnung vereint. Schröder holt seit seinem Amtsantritt 1998 Künstler ins Kanzleramt, veranstaltet Leseabende und Kinorunden. Er habe “nicht das Glück gehabt, mit Bildern, Büchern und Musik aufwachsen zu können”, erwähnt der Kanzler zuweilen. Seitz analysiert ein ähnlich pragmatisches Verhältnis des Kanzlers zu den Intellektuellen wie zur Politik – ganz ohne altes Pathos. Eine Vorliebe für Marschmusik ist von Schröder nicht überliefert. Bekannt ist jedoch, dass er nicht eben gerne liest. Schon als Juso-Chef debattierte er zwar heftig mit seinen marxistischen Mitstreitern. Von den alten Klassikern aber las er allenfalls die Klappentexte.
Norbert Seitz, Die Kanzler und die Künste: Die Geschichte einer schwierigen Beziehung, München: Siedler 2005, 192 Seiten, 18 Euro