Der Wedding kommt nicht. Er war immer da

Mit Heiko Werning durch den Ewigen Kiez

New Economy und Neue Mitte sind längst beerdigt. Mitte hingegen, der Berliner Bezirk, boomt noch immer. Doch der Widerstand wächst. Nachhaltig wie kein anderer verweigert sich der Wedding dem Trend zum Edler, Schicker, Hipper, Teurer, der Mitte seit Jahren beherrscht. Der Wedding hatte dafür nie Verständnis. Er trägt keine Edeltaschen aus LKW-Plane. Er demonstriert noch Anfang 2005 gegen Hartz IV. Ohnehin behagt es dem Wedding nicht, mit der Berliner Bezirksfusion Teil von Mitte geworden zu sein. Denn ihm ist klar: Es wird nicht zusammenwachsen, was nicht zusammengehört. Dönerbuden, Eckkneipen und Resterampen dürfen, können nicht vereinigt werden mit Hackeschen Höfen, Sushiläden und Cocktailbars.

Doch ist der Wedding wirklich so rau, so derb, so archaisch? Heißen Kneipen zwangsläufig Kachel-Eck, Zum Süffel oder Bierparadies? Heiko Werning zeigt uns den anderen Wedding. Heiko ist der Shootingstar der Berliner Vorlesebühnenszene (Reformbühne Heim & Welt, Brauseboys, Weltstars privat). Er lebt seit 1991 in der Weddinger Seestraße. Nur einmal ist der gebürtige Münsteraner seither umgezogen – indem er die Straßenseite wechselte. Glorifizieren will Heiko den Wedding nicht. Er wohnt hier, weil er sich wohl fühlt. Und er spürt einen Abwehrmechanismus gegen andere Bezirke, etwa den Prenzlauer Berg („schwer erträglich“). Überhaupt: „Warum sollte ich irgendeinem Modediktat folgen?“ Ein Modebezirk ist Heiko ähnlich suspekt wie die aktuelle Winterkollektion. Wir ziehen los.

Tante Elli klingt ganz nach einer echten Wedding-Kaschemme. Völlig zu Unrecht. Gemütlich ist’s hier. Anja, die Wirtin, bedient freundlich und gut gelaunt. Es gibt acht Biere vom Fass. Die Bauernpfanne kostet 5,20 Euro. Empfehlenswert: die „Schwarze Sau“, ein Lakritzschnaps aus dänischen Bonbons. „Es ist natürlich Quatsch, wenn es heißt: ,Der Wedding kommt‘“, sagt Heiko. „Er war immer da“, mischt Anja sich ein. Sie beobachtet: „Mitte wächst in den Wedding hinein, es ziehen neue Leute zu.“ Die Studenten der Technischen Fachhochschule gehören seit jeher zum Seestraßenkiez. Nun etablieren sich sogar Galerien. Und eines steht ohnehin fest: „Neukölln ist viel ärmer dran.“

Ob dies in Wilmersdorf denkbar sei, fragt Heiko

Die Einzigartigkeit des Wedding zeigt sich auf unserem Weg durch die Tegeler Straße. Gegenüber dem etwas wackligen Versuch, mit dem Schadé fast eine Mitte-Kneipe zu etablieren, hängt wie zum Trotz ein Automat der besonderen Art. Kaugummi und Kondome – das war gestern. Der Wedding ist seiner Zeit voraus: Es gibt Maden. Für Angler, aber auch für Heiko, der beruflich und privat als Reptilienforscher tätig ist. „Im Wedding ist das kein Problem, das stört hier niemanden. In meiner Wohnung befindet sich ein chilenischer Hochgebirgsraum – für Leguane, die es nachts kalt brauchen.“ Ob dies in Wilmersdorf denkbar sei, fragt Heiko uns. Wir schütteln einhellig den Kopf.

Offenherzig werden wir im Bantou Village empfangen, einem jüngst eröffneten afrikanischen Restaurant. Wir bestellen drei „Berliner“ und bekommen drei Kindl. Suzanne Saitz, die Wirtin, hat den Standort ihres Hauses – Kameruner Straße 2 – be-wusst gewählt. Sie stammt aus Kamerun, lebt aber schon acht Jahre lang in Berlin. Aus der Arbeitslo-sigkeit wagte sie mit ihrem Lokal den Sprung in die Selbständigkeit. Dreitausend Kameruner leben in der Stadt, berichtet Suzanne in perfektem Deutsch. Doch sie will „Tilapia“ (Buntbarsch) oder „Foufou“ (Gries) mit Erdnusssauce und Rindfleisch nicht nur Afrikanern anbieten. Etwas scheu, doch durchaus neugierig betrachten die Deutschen ihre Speisekarte.

Der Imbiss zur Mittelpromenade, eine Bude an der Tram-Haltestelle Seestraße, strahlt besonderen Charme aus. „Nudelsalat 1 EU“, preist eine laufende Leuchtschrift an. Heiko isst zwar nachts zuweilen an der Mittelpromenade, warnt aber vor den Nachwirkungen der hiesigen Bulette. Elli-Wirtin Anja meint, es sei „zehn Jahre her, dass sie gut war“.

Heiko empfiehlt echtes Schultheiss vom Fass

Von einer Dönerbude kann beim Saray gegenüber keine Rede sein. Das türkische Restaurant besitzt zwar einen Stehdönerbereich, doch es hat sich, geöffnet bis drei, vier Uhr morgens, längst zum „Brennpunkt der Weddinger Gastronomie“ entwickelt, berichtet Heiko. Er speist hier nach seinen Lesebühnen-Auftritten, etwa am frühen Freitag, nach dem wöchentlichen Auftritt der Brauseboys im Laine-Art – im Wedding, wo sonst. Heiko empfiehlt „Iskender Kebap“. Dazu vom Fass echtes Schultheiss.

Dabei hat der Wedding sein eigenes Bier! Eschenbräu heißt’s, wie der gleichnamige Bierkeller in einem Studentenwohnheim in der Triftstraße, Modell sozialdemokratische Bildungsbaupolitik der 70er-Jahre. Seit zwei Jahren wird hier unfiltriertes Bier ausgeschenkt. „Dazu“, heißt es auf der Kreidetafel, „Berliner Haute-Cuisine: Boulette“. Ein Gast, beobachten wir von unserem Tresenplatz, sieht aus wie Oswald Metzger. Die Kneipe gefällt uns dennoch.

Das Musik-Café-Sterlitz schmückt sich ganz gegen den Zeitgeist mit Bindestrich und noch im neuen Jahr mit Silvester-Girlanden. Die Spielautomaten daddeln. Leider fehlt heute der wurstförmige Kampfhund, der sonst die Gäste erfreut. Hier handelt es sich noch am ehesten um eine Wedding–Kneipe. Anderswo bezeichnen sich dergleichen Lokale gern als „Künstlerkneipe“, stellen wir fest. „Das traut sich im Wedding keiner. Zu Recht“, raunt Heiko und nimmt einen tiefen Schluck. Wir müssen weiter.

„Das sagt man nicht. Das ist Mitte-Sprech“

Schließlich und endlich: Wir nähern uns dem Café Cralle, durch das Geschichte und ein Hauch emanzipatorischer (R)Evolution wehen. 1977 begründet, war es zunächst ein reines Frauencafé. Kinder, Küche, Kaffee hieß die Devise. Ohne Männer war’s dann aber doch zu langweilig. Die gehören heute längst zum Stammpublikum in jenem „Juwel des Wedding“ (Heiko Werning, Lobgesang auf das Café Cralle, Berlin 2005). Mittwochabends gar tischt Micha „herrlich“ auf. Heiko entscheidet sich am heutigen Morgen, wir haben vier Uhr, für eine, dann eine weitere Caipirinha. Wir fragen ihn, was er von dem Kurzwort „Caipi“ hält. Heiko ist überzeugt: „Das sagt man nicht. Das ist Mitte-Sprech.“

TANTE ELLI – Kneipe und Restaurant mit acht Fassbieren – Lüderitzstraße 5
MITTELPROMENADE – Bude – Tram-Haltestelle Seestraße
BANTOU VILLAGE – Afrikanisches Spezialitätenrestaurant – Kameruner Straße 2
SARAY – Türkische Spezialitäten – Müllerstraße/ Ecke Seestraße
LAINE-ART – Galerie und Veranstaltungsraum – Liebenwalder Straße 39
ESCHENBRÄU – Brauereikeller – Triftstraße 67
MUSIK-CAFÉ-STERLITZ – Seestraße 104
CAFÉ CRALLE – Hochstädterstraße 10 a

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