Alte Bewegung, neue Vitalität
Viele hatten zu Beginn des neuen Jahrtausends die Gewerkschaften schon abgeschrieben. Zugegeben, auch ich zählte zu den Skeptikern. Die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 führte jedoch zu einer „Renaissance der Sozialpartnerschaft“, die die Bundesregierung in ihren korporatistischen Neigungen bestärkte, was wiederum dem „deutschen Modell“ Schwung und Stärke bescherte. Nicht alle, aber die Mehrzahl der Autoren dieses besonderen Handbuches sind deshalb eher optimistisch eingestellt und betrachten die neue Phase der sozialen Marktwirtschaft mit starken Gewerkschaften durchaus als Chance.
Eine veränderte politische Landschaft
Den Leser erwarten fast 800 Seiten kompakte Informationen sowie diverse kluge Einsichten in den zum Teil essayartigen Beiträgen und im Vorwort des Herausgebers Wolfgang Schroeder. Dieser ordnet das Thema politisch ein und regt zum weiteren Denken an. In seiner Gedankenführung kommen seine Erfahrungswelten als Sozialwissenschaftler, als beamteter Staatssekretär, als Planer einer Gewerkschaft überzeugend zum Tragen. Angesichts seines zutreffenden Eingangssatzes wird mancher wehleidige Linke erschrecken. Schroeder zufolge gehören die Gewerkschaften historisch gesehen „zu den Gewinnern“.
Die Gewerkschaften im Aufbruch treffen auf eine veränderte politische Landschaft. Bei der Union ist der liberal-konservative Flügel weggeschrumpft. Die FDP hat sich selbst marginalisiert. Im Bundestag gibt es eine rechnerische Mehrheit jenseits der Union. Die Gewerkschaften sind allerdings erkennbar zufrieden mit der Großen Koalition. Deren Zustandekommen haben sie ebenso tatkräftig unterstützt wie sie den Koalitionsvertrag mitgeprägt haben. Auf die neue Stärke der Gewerkschaften haben Angela Merkel und Sigmar Gabriel nachdrücklich Rücksicht genommen. Wesentliche Akzente wie Mindestlohn und Rente mit 63, aber auch Aspekte der Energiepolitik tragen die Handschrift von Gewerkschaften. An dieser Stelle sollte ich präziser formulieren: Die neuen Gesetze bilden nicht nur Kompromisse zwischen Union und SPD ab, sondern auch Kompromisse zwischen den Interessen innerhalb des DGB. Da geht es um den Facharbeiter bei VW wie um die Verkäuferin im Einzelhandel.
Abschied von der »natürlichen Nähe«
Einer der lesenswerten Beiträge aggregiert die spezifischen Handlungsräume zu den „drei verschiedenen Welten“. Der neue DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann ist um seine zusammenführende Rolle nicht zu beneiden. Immerhin weiß er um die Komplexität und bringt sie auch persönlich auf den nachdenklichen Punkt: „Mein Sohn ist atypisch beschäftigt, aber eben nicht prekär.“
Dass nicht alles überzeugend ist bei den Gewerkschaften, wird bei aller Wertschätzung in den Aufsätzen nicht ausgespart. Immerhin hat sich der lange anhaltende Mitgliederrückgang abgeschwächt, nicht nur bei der IG Metall. Aber nach wie vor gibt es eine strukturelle Schwäche vor allem in Bereichen, in denen ein besonders hohes Innovationsniveau mit Beschäftigungsaufbau korrespondiert. Dieser Sachverhalt wird als mögliche „Achillesferse“ charakterisiert. Ob neue Ansätze des organizing und campaigning dauerhaft Abhilfe schaffen können, wird sich zeigen. Immerhin gibt es dazu jetzt interessante Beiträge im Handbuch und empirische Evidenz in der Praxis.
Wer das Buch systematisch durcharbeitet, wird bemerken, dass manches Vertraute immer stärker an Stellenwert verliert. Das gilt für die ehemalige „natürliche Nähe“ von Gewerkschaften und SPD ebenso wie für die über Jahrzehnte erlebte Rolle des DGB, die neu ausgefüllt werden muss.
Das Handbuch sollte in unterschiedlichen Sphären auf Interesse stoßen. Für die Wissenschaft gibt es Orientierung, aber auch genügend Hinweise für spannende Themen künftiger policybezogener Forschung. Für Leser aus den Gewerkschaften dürfte erkennbar werden, wohin ihre Organisationen sich entwickeln sollten; Stichwort: „unausgeschöpfte Potenziale“.
Für Progressive aus Parteien und anderen Institutionen wird der Blick geschärft auf Bedingungsfaktoren und Handlungsfelder möglicher Kooperationen im Sinne einer „neuen Dialektik“. Das Megathema „Fachkräftesicherung“ könnte in dieser Legislatur zur Probe aufs Exempel werden.
Besser als andere haben es zumindest die beiden großen Industriegewerkschaften IG Metall und IG BCE verstanden, dass nur der erfolgreich sein kann, der die Milieus erreicht, die zuerst Willy Brandt als „neue Mitte“ bezeichnete. Dass zu deren zentralen Anliegen und Lebenswünschen die gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie gehört, haben diese Gewerkschaften begriffen.
Die Entdeckung der neuen Mitte
Nicht von ungefähr hat der Vorsitzende der IG Metall, Detlef Wetzel kürzlich die Initiative der Familienministerin für eine neuartige Familienarbeitszeit nachdrücklich unterstützt – auch als Thema für Tarif-verhandlungen. Nicht nur in dieser Frage sind die Gewerkschaften künftig wesentlicher Bestandteil eines gewiss fragilen progressiven Spektrums.
„Handbuch“ ist ein großer Anspruch, und der Begriff wird im weiten Feld der Verlags- und Autoreninteressen inflationär eingesetzt. Im vorliegenden Falle erscheint mir die Selbstcharakterisierung des Bandes allerdings zutreffend. Bei den Autoren der 24 Beiträge handelt es sich fast durchweg um ausgewiesene Experten mit reichlich Erfahrung in ihren Disziplinen, in Spezialgebieten und zum Teil auch in der Politikberatung. Vor allem letzteres kommt der Lesbarkeit und dem Gebrauchswert des Buches außerordentlich zugute.
Eine sorgfältig ausgewählte Kontrastierung der vertretenen Ansichten durch Perspektiven und Positionen anderer gesellschaftspolitischer Herkunft – ein Wissenschaftler etwa aus dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln oder eine Redakteurin der Zeit – hätten dem Buch gut getan und seine Wirksamkeit erhöht. Eine solche Anreicherung des „Juste Milieu“ würde einer irgendwann anstehenden dritten Auflage ebenso gut zu Gesicht stehen wie die Rekrutierung von mehr Autorinnen. Nicht nur die Gewerkschaften weisen in dieser Hinsicht immer noch eine „Repräsentationslücke“ (Schroeder) auf, die nicht zukunftstauglich ist.
Wolfgang Schroeder (Hrsg.), Handbuch Gewerkschaften in Deutschland, 2. Auflage, Wiesbaden: Springer VS 2014, 790 Seiten, 59,99 Euro