Alte Mythen, neue Wege

Der Patient Gesundheitswesen ist stabilisiert - vorübergehend. Die endgültige Heilung kann gelingen. Sie setzt aber voraus, dass endlich einige Lebenslügen des Systems gründlich demontiert werden

„Bleiben se’ gesund. Anders wär’ schlecht!“ Ulla Schmidt

Die Gesundheitsreform bleibt umstritten. Von einer großen Koalition aus SPD, Grünen und CDU/CSU im Vermittlungsausschuss mühsam ausgehandelt, hat sie den finanziellen Kollaps der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nur aufgeschoben. Die konzeptionellen Alternativen wurden dabei gründlich verwischt.

Die Ansätze der strukturellen Veränderungen durch die Reform sind löblich. Sie weisen teilweise in die richtige Richtung, gehen aber längst nicht weit genug. Der Patient Gesundheitssystem ist vorübergehend stabilisiert, seine gefährlichen Krankheiten sind aber nicht besiegt. Die Heilung könnte gelingen, wenn die Akteure des Gesundheitswesens sich endlich einer schonungslosen Selbstkritik unterziehen würden. Dazu müssten einige Mythen vom Tisch, die eine Diskussion über die wirklichen Herausforderungen verhindern. Wir fangen schon einmal damit an.

Mythos Nr. 1: Noch immer glauben viele, durch ein stärkeres Wirtschaftswachstum könnten mehr neue Vollerwerbsarbeitsplätze entstehen, als in den alten Industrien wegfallen. Diese zusätzlichen Beitragsszahler, so die Hoffnung, bringen dann zusätzliches Geld in die Kassen der sozialen Sicherungssysteme und verhindern damit, dass die finanziellen und sozialen Belastungen einseitig auf die nachrückenden Generationen verschoben werden.

Bereits 1981 erinnerte Erhard Eppler in seinem Buch Wege aus der Gefahr an eine Studie von Horst Afheldt, der 1978 für die achtziger Jahre ein nationales Wachstum von 2 Prozent prognostizierte und für das Jahr 2000 von voraussichtlich 1,79 Prozent gesprochen hatte. Erhard Eppler: „Wer also den großen Zusammenbruch erwartet, wenn die Wachstumsraten nicht konstant bleiben, sondern im Trend sinken, wer Unheil prophezeit, wenn die Wachstumsraten unter 3,5 Prozent oder 3 Prozent fallen, der tut gut daran, sich innerlich auf den großen Kladderadatsch vorzubereiten – oder eben ganz neu nachzudenken.“

Fehlt der Politik ein tieferer Sinn?

Kurt Biedenkopf sagte zu eben dieser Debatte im Jahr 2004: „Eine Politik, welche die Zukunftsfähigkeit des Landes und seiner freiheitlichen Ordnung von dauerhaftem Wachstum abhängig macht, kann deshalb keine lebenswerte Zukunft bieten. Ihr fehlt der tiefere Sinn. Die wirkliche politische Zukunftsaufgabe lautet: Wir müssen die Notwendigkeit des Übergangs vom expansiven Wachstum der industriellen Aufbauzeit zum dynamischen Gleichgewicht eines dauerhaften Bestandswachstums erkennen.“

Gerade auf dem Feld der sozialen Sicherung wird diese Art von Wachstumsdebatte bis heute verdrängt, obwohl das Bundessozialgericht schon 1961 ausführte, mit dem Sozialstaatsgebot aus Artikel 20 des Grundgesetzes könne kein grundsätzliches Rückschritts- oder Verschlechterungsverbot festgeschrieben werden, weil der Sozialstaat auf Dauer bezahlbar sein und bleiben müsse. Bis heute vergrößern sich die Leistungskataloge und Erwartungshaltungen ständig, trotz knapperer Ressourcen in den Bereichen GKV, Pflege und Rente – ebenfalls unter Berufung auf Artikel 20 des Grundgesetzes. Die demografische Entwicklung und neue Strukturen auf dem Arbeitsmarkt – etwa die Ausweitung des Niedriglohnbereichs und der Kombilöhne – sorgen für immer mehr Anspruchsberechtigte mit geringem beitragspflichtigen Einkommen. Die längst überfällige Ausweitung der Steuerfinanzierung wird auf spätere Jahre verschoben, während man sich zugleich in Debatten über noch nicht überzeugende Alternativkonzepte ergeht („Bürgerversicherung“ versus „Kopfpauschalen“).

Mythos Nr. 2: Noch immer glauben viele, alles medizinisch Notwendige bleibe unabhängig vom Geldbeutel bezahlbar – trotz der demografischen Veränderungen und des medizinisch-technischen Fortschritts bei gleichzeitig sinkenden Einnahmen aus Beiträgen und Steuern. Wie soll das funktionieren? Indem man ständig geschickt im Detail reguliert und Einsparpotenziale nutzt. So der verbreitete Glaube.

Schon seit Jahren könnten viele Leistungen nicht mehr von den Kassen finanziert werden, würden die Versicherten nicht zuzahlen, etwa bei Zahnersatz oder Arzneimitteln. Die solidarisch-paritätische Finanzierung ist längst Vergangenheit! Mit der einseitigen Verlagerung von Zahnersatzkosten und Krankenhaustagegeld auf die Arbeitnehmer sowie mit der Streichung eines Feiertages für die Pflege wurde längst ein anderer Weg beschritten. Bei der GKV steigen die Beiträge der Arbeitnehmer ab dem 1. Juli 2005 auf rund 7,5 Prozent, jene der Arbeitgeber sinken auf 6,65 Prozent.

Mit dem derzeitigen Beitragssatz, der zum Zweck niedrigerer Lohnnebenkosten bis auf 12,1 Prozent im Jahre 2006 gesenkt werden soll, kann vieles nicht mehr bezahlt werden, was medikamentös, diagnostisch und therapeutisch sinnvoll ist. Denn das economic outcome – also das Wirtschaftlichkeitsgebot – dominiert immer mehr über das medical and social outcome. Freilich, das könnte durch Zusatzver- sicherungen abgefangen werden. Hier müssen wir in Zukunft ehrlicher argumentieren, weil wir sonst immer wieder in die fruchtlose und emotionale Diskussion über die so genannte Zweiklassenmedizin geraten. Dabei hat es diese immer gegeben, weil sich auch bisher jeder GKV-Patient Zusatzleistungen einkaufen konnte, wenn er für sie bezahlte. Hier ist ein ganzheitlicher Lösungsansatz nötig, ein breiter gesellschaftlicher Diskurs über die Leistungen der GKV, der Rente und der Pflege. Wir brauchen wirklichkeitsnahe neue Orientierungen statt unrealistischer Ansprüche nach dem Motto: „Vater Staat wird es schon richten“.

Mythos Nr. 3: Noch immer glauben viele, mit den vorhandenen nationalen Regulierungsmechanismen und -institutionen wie dem Gemeinsamen Bundesausschuss (GemBA) der Selbstverwaltung könnten die anstehenden gesundheitspolitischen Aufgaben national gelöst werden – trotz des wachsenden und unumkehrbaren Einflusses der EU auf das Gesundheitswesen durch Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und EU-Richtlinien.

Das Ziel europäischer Politik lässt sich anhand von zwei Zitaten von Evelyn Gephard, Berichterstatterin zur EU-Dienstleistungsrichtlinie im Europäischem Paralament, beschreiben: „Der Weg zu dem einen EU-Binnenmarktprinzip darf nicht versperrt werden.“ Und: „Das Ziel der Richtlinie muss eine effiziente und vereinfachte Kontrolle sein, die nicht noch mehr zusätzliche Bürokratie schafft.“ Günter Verheugen sagte dazu am 17. März dieses Jahres in der Wirtschaftswoche: „Das Wesentliche bleibt der Abbau von Hemmnissen, die es im grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr noch hundertfach gibt. Auch das Herkunftslandsprinzip sollte grundsätzlich erhalten bleiben. ... Ich garantiere, dass die Richtlinie kein Einfalltor für Lohn-, Sozial- oder Qualitätsdumping öffnen wird.“

Die Qualität der Versorgung leidet

Die Diskussion über die Dienstleistungsrichtlinie hat zwei Defizite. Zum einen wird sie ohne Bezug auf die Entsenderichtlinie und die Berufsanerkennungsrichtlinie geführt. Mit solch einem ganzheitlichen Ansatz – gekoppelt mit Fristvorgaben – würden viele unnötige Diskussionen überflüssig. Zum anderen sind im Zusammenhang mit dem Prinzip des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs in den EU-Mitgliedsländern schon seit Jahren EuGH-Urteile und EU-Richtlinien bindend, die bisherige nationale Regulierungsmechanismen und -institutionen beeinflussen, überlagern und ersetzen. Nationale gesetzliche Regelungen werden dadurch immer kurzlebiger. Die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens, Planungssicherheit und Investitionsbereitschaft fördert dies nicht. Auch die Qualität der Versorgung leidet. Sie wird zudem von einer wachsenden Flut an Regulierungen gehemmt, die ihren Ausdruck auch im sich ständig verfeinernden Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen finden. Innovationen und eigene Wege stehen den Kassen so nicht offen. Ihr einziges – letztlich schizophrenes – Marketinginstrument bleibt ein niedriger Beitragssatz. Eine wirkliche Diskussion mit den Beitragszahlern und den Patienten ist daher fast nicht mehr möglich. Der Gemeinsame Bundesausschuss, also die Selbstverwaltung als gemeinsamer Ort heterogener Interessen, ist auch weiterhin das Forum für den Verteilungskampf um einen schrumpfenden Kuchen, bei gleichzeitigen Kostensteigerungen und Ausweitung der Leistung. Das kann nicht gut gehen

Mit weniger Input mehr Output erzielen?

Mythos Nr. 4: Noch immer glauben viele, wir könnten mit dem Aufbau von Feindbildern wie „Abzocker“ (Zahnärzte, Pharmaindustrie) und „Leidtragende“ (Beitragszahler, Kassen) erfolgreiche Strategien zur Lösung von Problemen entwickeln. Jahrzehntelange Rituale und Fronten haben Blockaden und wechselseitige Abneigungen bewirkt, die notwendige Diskussionen zwischen beiden „Lagern“ erschweren, ebenso wirksame Strukturreformen und fairen Wettbewerb.

In dieser Debatte sollte es stattdessen viel mehr auch um den Gesundheits-Wirtschaftsstandort Deutschland gehen, um Arbeitsplätze, um Investitions- und Planungssicherheit, um Forschung und Investitionen. Diese Aufgaben korrespondieren eng mit der Frage nach der Leistungsfähigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme und der Einsicht, dass mit weniger „Input“ nicht mehr „Output“ erzielt werden kann.

Fazit: Goethe schrieb 1802 in seiner Farbenlehre: „Bei Veränderungen im Kleinen ist die Übersicht des Ganzen notwendig.“ Ebenfalls mit Goethe geben wir zudem zu bedenken, „dass bei entgegengesetzten Meinungen nicht die Lösung, sondern das Problem dazwischen liegt.“

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