Am Bedarf vorbei?
In Deutschland kommen Sozialdemokraten und LINKE zusammen auf nicht einmal mehr 30 Prozent, in Italien ist die postkommunistische Linke fast völlig atomisiert, in Frankreich ziehen die Grünen mit den Sozialisten gleich, in Großbritannien ist Labour in einem Maße zerrüttet, wie man es sich nicht einmal zur Zeit von Tony Blair vorstellen konnte.
Sozialdemokraten, Sozialisten und Linkspopulisten scheiterten einerseits aus der Regierungsverantwortung heraus - unabhängig davon, was sie in den Jahren zuvor an Reformarbeit auf nationaler Ebene geleistet hatten, welche Rolle sie aktuell bei der nationalen Krisenbewältigung spielen und wie all das in der jeweiligen Öffentlichkeit bewertet wurde. Sie scheiterten andererseits aber auch aus der Opposition heraus, obwohl sie die Reformarbeit der Sozialdemokraten abgelehnt und bekämpft hatten und lange Zeit mit ihrer moralisch und ideologisch aufgeladenen Kritik selbstsicher und offensiv den Takt in vielen Ländern geschlagen hatten.
Doch die Realitäten der im September 2008 ausgebrochenen weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise zeigten, wie unproduktiv diese Konfliktlinie war. Die Wählerinnen und Wähler im Mitte-Links-Spektrum sollten sich zur Europawahl zwischen Parteien entscheiden, deren Bezugsrahmen vor allem der Nationalstaat war - und das vor dem Hintergrund einer globalen Krise und einer grundsätzlich aufgeschlossenen, erwartungsvollen Haltung zur EU.
Die Wählerinnen und Wähler aber hatten sehr wohl verstanden, dass der Nationalstaat für sich genommen keinen hinreichenden Gestaltungsrahmen für die Herausforderungen einer globalisierten Welt mehr bietet. Er taugt noch zur Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen - er hätte aber transformiert werden müssen zu einem Übergangsinstrument zur ökonomischen, vor allem aber auch sozialen und kulturellen Gestaltung dieser neuen Welt der Globalisierung. Das allerdings haben die sozialdemokratisch geführten Regierungen in Europa verpasst, als sie um die Jahrtausendwende die reale Chance dazu hatten.Sozialdemokraten, Sozialisten und Linkspopulisten verharrten in der Fixierung auf das, was für die aus der Arbeiterbewegung kommende Linke traditionell das zentrale Steuerungsinstrument ist: der Nationalstaat.
Die Überwindung dieser Fixierung auf den Nationalstaat hätte aber das zweite strukturelle Problem der aus der Arbeiterbewegung kommenden Linken nur noch deutlicher gemacht. Denn an den veränderten Bedingungen der globalisierten Welt scheiterte auch die Grundidee, die die Arbeiterbewegung stets getragen hatte: die Idee vom unmittelbaren Zusammenhang zwischen ökonomischem und technologischem Fortschritt auf der einen und sozialem Aufstieg auf der anderen Seite. Unter den Bedingungen der Globalisierung fällt beides derzeit räumlich auseinander. Das produziert einen neuen sozialen Typus: den des "Globalisierungsverlierers".
Deswegen greift für alle jetzt notwendigen Analysen das Bild vom "Modernisierungsverlierer" nicht mehr: Der Modernisierungsverlierer opponiert gegen einen Fortschrittsprozess in seiner Lebensnähe, von dem er sich ausgeschlossen sieht, an dem er aber teilhaben möchte oder von dessen Früchten er zumindest besser alimentiert werden möchte
- auch wenn sich das in einer mitunter radikal rückwärts gewandten, romantisierenden Gedankenwelt und entsprechenden Wertvorstellungen ausdrückt.
Der Globalisierungsverlierer sieht sich einem dynamischen Veränderungsprozess ausgeliefert, der den Fortschritt räumlich (in einem weitesten Sinne) von ihm weg führt - und das auch noch zu Bedingungen, angesichts derer Mobilität keine Antwort ist.
Die ostdeutsche Revolution von 1989/90 war so gesehen eine gesellschaftliche und individuelle Kurskorrektur, die aus der Sackgasse des Realsozialismus heraus Anschluss an die Modernisierungsprozesse im Westen suchte. Sie überwand die räumliche Verengung der DDR und erweiterte den Aktionsradius der Ostdeutschen "- durch den staatlichen Beitritt zur Bundesrepublik bis hin zur jetzt zwei Jahrzehnte anhaltenden individuellen Abwanderung. Zugleich breitete sich im Osten ein bestimmender politischer Impuls, eine Forderung an den neuen, größeren Nationalstaat aus: Wir wollen den Fortschritt auch bei uns haben - und wir wollen vom Fortschritt auch bei uns etwas abbekommen.
Dies war der Hintergrund für die über lange Zeit im ostdeutschen Durchschnitt bestehende gesellschaftliche Mehrheit aus Anhängern der SPD und der PDS - aus der allerdings nur in Ausnahmen eine politische Mehrheit wurde. Deren Strahlkraft freilich blieb beschränkt, weil sie nie als Chance zur Gestaltung beherzt genutzt, sondern in der Not als letzte Option der SPD zum Machterhalt eingeführt und gehandhabt wurde. Seitens der PDS sah es nicht besser aus: Im Kern wurden die Regierungsbeteiligungen in Mecklenburg-Vorpommern ab 1998 und in Berlin ab 2001 als parteitaktische Instrumente verstanden. Man interpretierte sie vorrangig als ein Symbol für die wachsende Akzeptanz der "Ex-SED" in der Gesellschaft und bei den politischen Eliten im Osten, und mit der Bildung des rot-roten Senats in der ehemals geteilten Hauptstadt eben auch in einem wichtigen Teil der Teil-Gesellschaft West.
Das machte die Grenzen des so genannten Reformerflügels in der PDS deutlich " und stand zugleich am Beginn seiner faktischen Spaltung und Auflösung. Jene "Reformer", die seit 1989/90 mehrheitlich die Partei reformieren und ihr einen stabilen Platz in der Gesellschaft zurückerobern wollten, waren mit diesen Regierungsbeteiligungen am Ziel - und damit eigentlich auch am Ende ihres politischen Strebens. Jene, die "Reformer" als pragmatische Gesellschaftsgestalter sein wollten, waren einerseits stets eine - weithin unverstandene - Minderheit, andererseits selbst konzeptionell auch zu wenig gerüstet, um aus den Regierungsbeteiligungen Prototypen einer neuen, modernen Reformpolitik in Deutschland machen zu können.
Die Wurzel des strategischen Konflikts in der PDS
Sehr bald schon - die Zäsur war der Rückzug von Gregor Gysi aus dem Berliner Senat im Frühsommer 2002 - ging der parteiorientierte Teil des Reformer-Flügels zunehmend auf Distanz zu den Pragmatikern, weil die Mühen des Regierens im äußerst strukturschwachen Mecklenburg-Vorpommern und im schuldengebeutelten Berlin nicht jene schnellen Erfolge zuließen, die man sich zugunsten der Attraktivität der Partei erhofft hatte. Genau jene Spaltung war die Wurzel des strategischen Konflikts innerhalb der PDS mit Blick auf die Haltung zur Schröder-Regierung und auf die Wahlstrategie 2002 - jenes offenen Konflikts, der die Partei letztlich Politik und Wahlwerbung gegen zwei Drittel ihres eigenen Anhangs betreiben und dann bei den Bundestagswahlen auch scheitern ließ.
Die PDS hatte sich seither von diesem Konflikt weder erholt noch hatte sie ihn gelöst. Sie hatte ihn mit dem so genannten Tempodrom-Parteitag von 2003 lediglich übertüncht, der an die Stelle des Bündnisses eines Teils der "Parteireformer" mit Linksradikalen und Spätkommunisten ein Zweckbündnis des eigentlich zerfallenen Reformerlagers zur Rettung der Partei setzte. Die Lösung der strategischen Konflikte und die Bearbeitung der konzeptionellen und programmatischen Lücken jedoch blieben
- bewusst - blockiert. Das erklärt die Anfälligkeit der labil gewordenen PDS für die "große historische Chance" der Fusion mit der WASG und gegenüber der Führungskraft von Oskar Lafontaine nur wenige Jahre später.
Für die Bildung der neuen Partei war jedoch etwas anderes ausschlaggebend: Geändert hatte sich das gesellschaftliche Umfeld. Nachdem die konservativ-liberalen Bundesregierungen unter Helmut Kohl in den neunziger Jahren eine gebremste Anpassung des "Standortes Deutschland" an die sich verändernden internationalen Wettbewerbsbedingungen mit einer engagierten Politik zur Forcierung der europäischen Integration verbunden hatten, setzte die neue rot-grüne Bundesregierung Schröder/Fischer vor allem in der zweiten Legislaturperiode auf eine forcierte Deregulierung im Inneren zur Anpassung an die Globalisierungsprozesse. Nach außen trat der Einsatz für die Weiterführung der europäischen Integration hinter das " auch militärische - Engagement in internationalen Konflikten außerhalb der EU zurück.
Neue Verwerfungen zwischen SPD und PDS
Besonders die Reformen am Arbeitsmarkt machten deutlich, welcher soziale Preis für die Anpassung an den Globalisierungsdruck fällig wurde. Durch die Einbeziehung der arbeitsfähigen Sozialhilfe-Empfänger in den Regelungsbereich des Arbeitslosengeldes II und damit auch in die Arbeitslosenstatistik wurde zudem deutlich, welches Ausmaß das Leben auf unterstem sozialem Niveau und die Erwerbslosigkeit in Deutschland tatsächlich hatten beziehungsweise haben. Das setzte einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel in Gang.
An dessen Beginn gingen Zehntausende auf die Straßen - vor allem in Ostdeutschland. Die massiven
Anti-Hartz-IV-Demonstrationen des Jahres 2004 waren bei weitem nicht nur getragen von tatsächlichen Modernisierungs- und Globalisierungsverlierern, sondern sehr stark von jenen, die für sich und ihnen Nahestehende diese Gefahr näher rücken sahen. Vor allem waren es Männer im Alter zwischen 50 und 60 Jahren - die spätere Kernwählergruppe der Linkspartei. Die damalige PDS war von dem sozialen Aufbegehren ebenso überrollt worden wie die anderen demokratischen Parteien - und sie fürchtete genauso wie jene ein Abdriften des Protestes oder nur von Teilen des Potenzials in die rechtsextreme Ecke. DVU und NPD waren durchaus präsent und mussten in vielen lokalen Bündnissen mit Klugheit und Nachdruck isoliert werden. Die damalige PDS konnte an Einfluss gewinnen, weil sie als Oppositionspartei nicht an der Entscheidung über die Hartz-Reformen beteiligt war beziehungsweise als Regierungspartei in Schwerin und Berlin die Zustimmung Mecklenburg-Vorpommerns und Berlins verhindert hatte. Da sich aber der Zorn der Demonstranten gegen die SPD als die Hauptverantwortliche für die missliebige Reformpolitik richtete und mit einiger Wucht sowie hier und da gelegentlich unakzeptablen Mitteln artikuliert wurde, entstanden auch neue Verwerfungen zwischen SPD und PDS. Politische Annäherungsprozesse wurden teils um Jahre zurückgeworfen.
Angesichts dieser Entwicklungen blieben andere Probleme eher unreflektiert. Zur Bilanz gehört aber, dass die Regierung Schröder nicht vermitteln konnte, ob und, wenn ja, welche Anstrengungen sie zum Beispiel in der EU unternahm, um den wirtschaftlichen Globalisierungsprozessen sozialpolitisch etwas entgegenzusetzen. Im Gegenteil: Die EU wurde vor allem über die EU-Kommission wahrgenommen - und zwar vor allem durch die Liberalisierung von Märkten (Dienstleistungsrichtlinie) oder die Verhinderung staatlicher Subventionen und Mitgestaltung (wie in der Auseinandersetzung um VW in Sachsen oder um das VW-Gesetz selbst).
Vor diesem Hintergrund gewinnt das Bild vom "Globalisierungsverlierer" an Bedeutung - jenes Verlierertyps, dessen Lebensraum und -perspektive vom Fortschritt abgekoppelt wird. Nokia machte hier eine neue Dimension deutlich. Ein Bochumer Nokianer hätte zwar theoretisch durchaus seinem Arbeitsplatz nach Rumänien folgen können - er wäre dann aber nicht in der Lage gewesen, mit dem dort erzielten Lohn seine Familie in Bochum zu ernähren. So bleibt ihm, wenn nicht ein biografischer Glücksfall eintritt, als Perspektive der soziale Abstieg auf das unterste Niveau. Der Globalisierungsverlierer entbehrt sogar eine handlungsfähige soziale Interessenvertretung, denn Gewerkschaften haben oftmals dort, wo neue Jobs entstehen, nichts zu sagen oder sind zu Tarifabschlüssen gezwungen, die keine existenzsichernden Löhne gewährleisten. Und dort, wo sie stark sind, verteidigen sie in erster Linie die Interessen der (schrumpfenden) Stammbelegschaften.
Politisch erwuchs aus dieser Problemantizipation zunächst das drängende Bedürfnis, die alte Idee eines funktionierenden Dreiecks bestehend aus Staat, sozialdemokratischer Partei sowie den Gewerkschaften beziehungsweise Tarifpartnern wieder zu beleben, um den Auflösungserscheinungen entgegen zu wirken, wieder Stabilität zu gewinnen und von der sozialen Desintegration zu sozialer Integration zurückzukehren. Als Schlüsselproblem erschien dabei der vermeintliche Ausfall der Schröder-SPD. Die faktische Antwort zielte weniger darauf, diese SPD durch eine neue Partei zu ersetzen, als vielmehr den Druck auf sie auch auf der Ebene des Parteienwettbewerbs zu verstärken und so perspektivisch eine deutliche Neujustierung von Reformpolitik möglich zu machen.
Dies war freilich keine Leistung, die die PDS vollbringen konnte. Die Partei war damit nicht nur strukturell überfordert, sondern ihr stand auch ihre eigene Stigmatisierung als SED-Nachfolgepartei, als Erbe des gescheiterten sozialistischen Gedankengutes und als Symbol alles Fremden an der Teilgesellschaft Ost im Wege.
Man konnte das Ziel aber auch nicht ohne oder gar gegen die PDS erreichen. Denn ohne deren Logistik, ohne deren festen Sockel an Wählerstimmen und auch ohne deren finanzielle Möglichkeiten wäre eine neue Partei nicht so schnell und nicht so wirksam zu schaffen gewesen. So sahen sich die Akteure der PDS-WASG-Fusion veranlasst, faktisch auf eine Parteineugründung zu setzen - und diese symbolisch sogar zu überhöhen.
Sekten auf dem Ritt ins Linksradikale
Die damit verbundene Abgrenzung vom Traditionsballast der PDS kippte jedoch alsbald um in eine Abgrenzung vom politisch-programmatischen Erfahrungsschatz und von der politisch-pragmatischen Substanz der PDS und eskalierte gelegentlich in eine offene Ausgrenzung dieses Gedankenguts und ihrer Exponenten. Ausgerechnet der Parteiwechsler Lafontaine, der sich an die Spitze der neuen Partei gesetzt hatte, legte in der Gründungsphase mehr als einmal namentlich nicht genannten Exponenten des gemäßigten und pragmatischen Teils der PDS auch öffentlich nahe, sich doch eine andere Partei zu suchen. Der Berliner Landesverband und die Anhänger der dort Mitte des Jahrzehnts noch einzigen verbliebenen rot-roten Koalition wurden stigmatisiert, ihre durch die exorbitante Verschuldung der Stadt determinierten Handlungsbedingungen ignoriert, die daraus folgenden Schritte denunziert; tatsächliche Erfolge blieben im Leben der Gesamtpartei weitgehend unbeachtet.
Auf der anderen Seite suchte die neu entstehende Partei eine Breite und Offenheit gegenüber Kräften am linken Rand der Gesellschaft, gegenüber linksradikalen Vereinigungen und Sekten, gegen die sich sowohl die SPD als auch die PDS bis dahin immer abgegrenzt hatten. In dem nunmehr geänderten Klima und angesichts des Zulaufs durch weit geöffnete Türen auf der linken Seite des Spektrums formierten sich in der neuen Partei alsbald Strömungen wie die "Sozialistische Linke" oder die "Antikapitalistische Linke", die den Ritt ins Linksradikale forcierten und mittlerweile in den meisten westlichen Landesverbänden (durchaus auch in Konkurrenz zueinander) den Ton angeben. Das freilich ist nicht zwingend und muss auch nicht ewig so bleiben - wie der beeindruckende Entwicklungsgang innerhalb der hessischen LINKEN in jenem Zeitraum zeigte, in dem es um ein rot-rot-grünes Regierungsmodell für dieses Bundesland ging. Nach dem Scheitern dieser Option standen diese realpolitischen Ansätze allerdings auch wieder in Frage.
Auf der anderen Seite hatten sich bereits in der Endphase der PDS die dort bestehenden reformorientierten Kräfte zusammengeschlossen - das "Netzwerk Reformlinke" und das "Forum Zweite Erneuerung" verschmolzen zum "forum demokratischer sozialismus". Dieses Forum hatte sich mit der Parteineubildung die Aufgabe gestellt, die reformpolitische und kulturelle Substanz der PDS, ihre programmatische Orientierung auf einen demokratischen Sozialismus und ihre umfassend kritische Aufarbeitung der DDR-Geschichte in der neuen Partei zu bewahren und zur Geltung zu bringen.
Das kollidierte natürlich mit dem Gründungsansatz der neuen LINKEN als "Überwindung" der PDS. Viele von denen, die im Westen in Abgrenzung zur Schröder-SPD in die Opposition aufgebrochen waren (und erst recht jene, die schon immer zum links-orthodoxen bis -radikalen Spektrum gehört hatten), empfanden daher das "forum demokratischer sozialismus" von Anfang an als Symbol für all das, was an der PDS als "sozialdemokratisch", "rechts", "neoliberal" gegolten hatte. Die vermeintlich negativen Erfahrungen mit pragmatischer linker Realpolitik fanden ihr symbolisches Feindbild im "forum demokratischer sozialismus".
Unfreiwilliges Abdriften in die Randständigkeit
Dieses unfreiwillige Abdriften in die Randständigkeit wiederum führte dazu, dass sich die Basis auch in den mehrheitlich realpolitisch orientierten Landesverbänden im Osten vor die Frage gestellt sah, warum das, was ihre politische Identität ausmachte und von ihren gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten vertreten wurde, quasi parallel auch noch auf eine parteiinterne Strömung reduziert werden sollte. Das ist die eigentliche Wurzel für eine gewisse strukturelle Schwäche des "forum demokratischer sozialismus" in den ostdeutschen Landesverbänden.
Die Verschiebung der innerparteilichen Kräfteverhältnisse und programmatischen Prioritäten hatte jedoch auch einen europäischen Kontext. In der Europäischen Linkspartei und in der Links-Grünen Fraktion im Europäischen Parlament traf die PDS/LINKE zwar auch auf eher moderne grün orientierte Parteien aus Skandinavien oder auf radikal reformierte ehemals kommunistische Parteien, zugleich aber auch auf Parteien, die eher spät- als post-kommunistisch ausgerichtet waren - so etwa auf die anfangs tonangebenden italienischen oder französischen Kommunisten. (Interessanterweise sind gerade diese Parteien mittlerweile in ihren Ländern weitgehend marginalisiert beziehungsweise nahezu zerfallen.) So pragmatisch viele der befreundeten Parteien in ihren Ländern - bis hin zu Regierungsbeteilungen - arbeiten mochten, so sehr folgten sie doch beim Blick über die nationalen Grenzen hinaus einer Reduzierung der Europäischen Union auf ein "Europa der Banken und der Konzerne", auf ein militarisiertes Europa. Die europäische Idee, die Dimension Europas als eines Projekts der Völkerverständigung und die Bedeutung der EU als demokratisches, freiheitliches und soziales Kraftzentrum in der globalisierten Welt blieben auf der Strecke.
Anfang bis Mitte des Jahrzehnts beförderte dieser europäische Kontext eine Entwicklung hin zu einem der entscheidenden politisch-strategischen und programmatischen Fehler der Reformkräfte in der PDS, später auch der LINKEN. Man gab die Europapolitik wie auch das Gesamtthema EU als Gegenstand zentralen politischen Interesses auf und überließ es weitgehend jenen in der eigenen Partei, die den in der Europäischen Linkspartei dominierenden Sichten ohnehin nahe standen.
Die entscheidende Weichenstellung erfolgte im Zusammenhang mit dem Potsdamer Bundesparteitag der PDS Ende Oktober 2004. Hier sollte vor allem die strategische Debatte der vergangenen Jahre samt der grundsätzlichen Schlussfolgerungen aus der Wahlniederlage abgebunden und auf eine breite Basis gestellt werden. Als Preis dafür galt die Bereitschaft, den zweiten politischen Hauptantrag zu tolerieren, der die Partei auf die Ablehnung des damals in Rede stehenden Entwurfs für eine Europäische Verfassung festlegte. Von da an hatte die PDS, später die LINKE, nicht nur das Problem, dass sie zwar allerlei Gutes für Europa verkündete, aber nicht verständlich machen konnte, warum sie Teile davon und Schritte dorthin ablehnte. Sie konnte nicht vermitteln, wie sie ihre Ziele im wirklichen Leben in die Tat umsetzen würde. Und sie konnte vor allem nicht erklären, wie sie die EU zur Gestaltung von Globalisierungsprozessen nutzen wollte. Stattdessen übte sich die Partei zunehmend in fundamentaler Kritik und Ablehnung der EU, so wie sie war und so, wie sie arbeitete. Zugleich wurde diese einseitig-kritische Sicht zum Mittel der innerparteilichen Disziplinierung von pragmatischen Bestrebungen - so etwa gegenüber den Landesregierungen von Berlin und Mecklenburg-Vorpommern bei der Bundesratsentscheidung über den Verfassungsvertrag, später dann gegenüber dem Berliner Senat bei der Entscheidung über den Lissabon-Vertrag.
Diese Entwicklung fand ihren vorläufigen Höhepunkt auf dem Bundesparteitag der LINKEN im Februar 2009 in Essen. Der Kongress verabschiedete einerseits das Europa-Wahlprogramm. Darin wurde die EU als "neoliberales" Projekt und als militaristisches, menschenfeindliches Monstrum gefasst. Zugleich warf man ihr vor, ungeeignet für die Bewältigung der derzeitigen Wirtschafts- und Währungskrise zu sein. In der Öffentlichkeit wurde dies überwiegend als ein anti-europäisches Signal verstanden - und angesichts der realen Beschlusslage gelang es auch nicht, diese Botschaft in den Monaten bis zur Wahl wegzureden. Dies war umso problematischer, als die Mehrheit der Deutschen - wie auch der Anhängerinnen und Anhänger der Linkspartei - bei einem Volksentscheid durchaus für den Lissabon-Vertrag gestimmt hätte.
Von einer "neuen sozialen Idee" war nichts zu spüren
Zugleich wählten die Delegierten die Kandidatinnen und Kandidaten für das neue EU-Parlament. Dabei fielen zwei der Profiliertesten durch: Sylvia-Yvonne Kaufmann, die im Verfassungskonvent mitgewirkt hatte, und André Brie, der sich als Afghanistan-Beauftragter des Europaparlaments und mit zahlreichen erfolgreichen Einzelinitiativen wie etwa zur Reduzierung der Roaming-Gebühren für Handy-Telefonate einen Namen gemacht hatte. Die Reformer hatten sich in beiden Fällen nicht nur nicht durchsetzen können, sondern zu Teilen auch nicht durchsetzen wollen. Die Folgen waren in zweierlei Hinsicht dramatisch. Auf der einen Seite verstärkten sie das anti-europäische Signal. Auf der anderen Seite symbolisierten sie den Verfall der Reformer. Sowohl Kaufmann als auch Brie zählten zu den Gründungsgestalten der PDS, sie hatten über Jahre die öffentliche Wahrnehmung der PDS geprägt und waren für viele, die jemals die PDS gewählt hatten, positive Identifikationsfiguren. Der Übertritt von Sylvia-Yvonne Kaufmann zur SPD gab dem eine zusätzliche Dynamik.
Essen war also nicht nur im engeren europapolitischen Sinne für die bevorstehende Wahl kontraproduktiv, sondern lieferte auch einen beunruhigenden Befund über den Zustand der Partei und über ihre Politikfähigkeit. Damit trat eine schon länger schwelende Krise der Partei in eine neue Phase ein. Die LINKE hatte seit der Bundestagswahl 2005 einen beständigen politischen Aufschwung erlebt. Ihre bundesweiten Umfragewerte stiegen deutlich in den zweistelligen Bereich - im Westen solide über die fünf Prozentmarke, im Osten war sie über Monate stärkste Partei. Untermauert wurde dieser Aufwärtstrend durch den Einzug in mehrere westdeutsche Landesparlamente und das über Monate in Hessen zum Greifen nahe rot-grün-rote Regierungsmodell. Die Partei erschien als tatsächliche "Wahlalternative", als eine Kraft, die die anderen mit Themen und Inhalten trieb, mit machtpolitischer Option und mit Durchsetzungskraft auch aus der Opposition heraus.
Leichte Erosionserscheinungen zeigten sich bereits ab Sommer 2008. Doch mit dem offenen Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise kehrte sich der Trend in den Umfragen um. Dafür gab es im Wesentlichen drei Gründe:
Diese lagen zunächst einmal auf symbolischer, personeller Ebene. Als bestimmende Führungsfigur war seit 2005 für viele vor allem Oskar Lafontaine erlebbar - während die ostdeutschen Identifikationsfiguren Gregor Gysi und Lothar Bisky nur noch in dessen Schatten und als dessen Gefolgsleute zu agieren schienen. Die dumpfe Ahnung, dass es um die Symbolfiguren der früheren PDS und damit um den durchaus akzeptierten und populären pragmatischen Kurs in der LINKEN schlecht bestellt war, wurde durch die Abwahl von Kaufmann und Brie dann zur Gewissheit. Weitere Austritte von Parteiprominenten bestätigten das Bild.
Eine zweite Ebene war stärker inhaltlich bestimmt: Von der "neuen sozialen Idee", die die LINKE 2005 auf allen Wahlplakaten versprochen hatte, war nichts zu spüren. Stattdessen verstärkte sich mehr und mehr die Einschätzung, dass sich die Partei auf traditionalistische Konzepte festlegte, die an der Bundesrepublik der siebziger Jahre orientiert waren. Und zwar noch nicht einmal an der Regierungspolitik von Willy Brandt und Helmut Schmidt, sondern an der gewerkschaftlichen und SPD-internen Kritik daran.
Von der Krise auf dem falschen Bein erwischt
Schließlich wurde die LINKE von der weltweiten Krise auf dem falschen Bein erwischt. Es rächten sich das Fehlen einer programmatischen, vor allem einer tatsächlich politischen und strategischen Debatte. Stattdessen operierte man auf der Basis optimaler Grundannahmen: Erstens - der Aufschwung der Partei wird sich bis ins Wahljahr 2009 verstetigen lassen. Zweitens - dies wird gelingen, weil der wirtschaftliche Aufschwung ebenfalls anhalten und die sozialen Umverteilungsideen und Forderungen nach öffentlichen Programmen aller Art plausibel erscheinen lassen wird. Die sich anbahnende Krise, so die dritte gelebte Grundannahme, werde sich in den USA austoben und bis zum Wahltermin den Weg über den Atlantik nicht schaffen.
Als die Krise dann doch kam, gab es ein böses Erwachen. Verstört sahen Teile der Basis und der Wählerschaft, vor allem im Osten, ihre Partei in einem wilden Überbietungslauf gegenüber der demokratischen Konkurrenz. Ebenso verstört blickten die Betroffenen darauf, wie die Partei, die angab, ihre Interessen zu vertreten, sich im Streit um Beträge verlor, die bis zum Doppelten über dem lagen, was sie selbst im Monat erhielten. Und das in Zeiten, in denen die öffentlichen Kassen in einem Maße beansprucht wurden, dass der "kleine Mann" die Gefahr einer großen Inflation zu fürchten begann.
Andere sahen die Zeit gekommen, über die "Systemfrage" nicht nur zu debattieren, sondern sie praktisch zu stellen und die Menschen zum Mittun aufzufordern. Doch die Krise tat nicht, was von ihr erwartet wurde: Sie trieb der LINKEN die Wählerinnen und Wähler eben nicht in Scharen zu. Die Menschen waren der sozialen Folgen der Krise wegen in Unruhe - aber nicht bereit, der LINKEN zuliebe "soziale Unruhen" anzuzetteln.
Die Beunruhigung darüber an der Basis konnte von der Strömungs-Architektur nicht mehr aufgegriffen werden. Zwischen Europawahl und Bundeswahlparteitag Ende Juni 2009 formierte sich aus der Mitte des Landesverbandes Brandenburg heraus eine Initiative, die die Gesamtpartei über Änderungsanträge zum Bundeswahlprogramm zu einem Signal des Innehaltens und der Ernüchterung bei zentralen wirtschafts- und sozialpolitischen Forderungen (Mindestlohn, Hartz IV-Regelsatz und Umfang der Konjunkturprogramme) veranlassen wollte. Sie fand bei den Themen Mindestlohn und Hartz IV Niederschlag im Wahlprogramm. Die Frage, wie die Partei es künftig und grundsätzlich mit Pragmatismus und/oder Radikalismus halten sollte, wurde auf die Debatte zum Grundsatzprogramm vertagt. Und die beginnt im Herbst, nach der Bundestagswahl.
Die Muster der Vergangenheit helfen nicht mehr weiter
Die aus der Arbeiterbewegung hervorgegangene Linke hat einen programmatischen und strategischen Nachholbedarf, der zumindest in Deutschland bis zur Bundestagswahl nicht aufgeholt sein wird. Sie muss politische Instrumente und Institutionen finden, die sie glaubhaft an die exklusive Stelle setzt, die bislang der Nationalstaat einnahm. Das wird ohne einen positiven und pragmatischen Bezug zur EU nicht gehen. Sie muss zudem einen schlüssigen, nachvollziehbaren und praktikablen Kanon von archimedischen Punkten bestimmen, mit dem sie wirksam der Gefahr begegnet, dass Menschen und ganze Regionen dauerhaft zu Globalisierungsverlierern werden. Die Antwort darauf findet man nicht in den Mustern der Vergangenheit.
Wenn Fortschritt räumlich wieder stärker angebunden werden soll, dann weist der Green New Deal dafür die Richtung. Was die Linke von Sozialdemokratie bis Linkspartei hinzufügen muss, ist in der Tat eine Neue Soziale Idee. Sie muss ein Sozialsystem begründen, das sich nicht auf Nachsorge bei Brüchen im Erwerbsleben beschränkt, das solche Brüche nicht als leidige Unfälle sondern als Einstieg in einen nächsten Zyklus auffasst und sich dafür vorsorgend aufstellt. Diese Neue Soziale Idee muss auch so etwas umfassen wie "Regionengerechtigkeit" - einen Ansatz, der die unterschiedlichen Entwicklungsdynamiken zwischen Metropolen und anderen Räumen nicht durch Alimentierung oder Kopie von Entwicklungsmodellen zu nivellieren, sondern für eigenständige Perspektiven produktiv zu machen sucht.
Diesen sozial-ökologischen Wandel wird es schließlich nicht geben ohne eine Demokratisierung der marktwirtschaftlichen Strukturen. Nur durch verbesserte Legitimations- und Kontrollinstanzen können künftig die Fehlverwendung von finanziellen Überschüssen vermieden, öffentliche Interventionen und Sanktionen durchgesetzt und unternehmensintern wieder funktionierende checks and balances eingeführt werden.
Vielleicht liegt der Vorteil für die Linken darin, dass programmatische Arbeit und praktisches Handeln jetzt Hand in Hand gehen müssen. So oder so: Die Regierenden haben fürs Erste die Lehren aus der Entwicklung der Jahre 1929 ff. gezogen und die gröbsten der damals gemachten Fehler nicht wiederholt. Jetzt kommt es darauf an, aufmerksam und präzise, mit Courage und Augenmaß darauf zu achten, wo nachgesteuert und nachgelegt werden muss. Nicht allein die Höhe der neu aufzulegenden Programme ist entscheidend, sondern die Frage, was an öffentlich zu finanzierenden Mitteln wann, in welchem Umfang und zu welchem Zweck aufgebracht und eingesetzt wird. Nicht blinder Rettungsaktionismus ist gefragt, sondern zukunftsweisende Intervention mit absehbarer Wirkung.