Spätbiedermeier 2.0 - ein Ausklang
Es ist nicht mehr weit bis zum Herbst 2017. Schon geraten die nächsten Bundestagswahlen in Sichtweite und noch immer treiben die scheinbare Bewegungslosigkeit und die neobiedermeierliche Stimmung in Angela Merkels Deutschland viele zur Verzweiflung. Es mag besser gehen können, als es geht – aber der Aufbruch und der Weg dorthin bergen das Risiko jeder Veränderung: Es könnte auch schief gehen. Soll man das wollen?
„Der Mittelweg ist oft doppelt gefährlich“, mahnte Christian Dietrich Grabbe, deutscher Dichter des Vormärz, 1831 das seinerzeit biedermeierlich introvertierte Land. Grabbes Warnung gilt auch heute. Wer für Deutschland griechische oder auch nur französische Verhältnisse fürchtet, zugleich aber Bewegung hierzulande aus Angst vor dem Risiko scheut, der steht auf diesem Mittelweg in einer Sackgasse.
Für Deutschland geht eine Phase ökonomischer und sozialer Anpassungsprozesse zu Ende, die Helmut Kohl unter dem Motto „Standortwettbewerb“ begann und die Gerhard Schröder dann mit seiner Agenda-2010-Politik prägte. Deutschland reagierte dabei auf Globalisierung und Deregulierung mit Vergünstigungen vor allem für die großen, am Weltmarkt bestimmenden Unternehmen einerseits und mit teils schmerzlich reduzierten Sozialstandards andererseits. Die Unternehmen selbst verlagerten ihre Produktion zunehmend in Billiglohnländer, um auf den Weltmärkten konkurrenzfähig zu bleiben, und setzten – sofern sie der Binnenmarkt interessierte – darauf, dass sie die ärmer (weil zunächst arbeitsloser) werdende einheimische Bevölkerung mit den im Ausland zu noch geringeren Lohnkosten produzierten Waren hinreichend günstig versorgen konnten. Der Druck auf das Lohn- und Gehaltsniveau in Deutschland selbst und die Reduzierung der Sozialleistungen durchbrachen dann jedoch eine untere Grenze, weswegen auch hierzulande am gesetzlichen Mindestlohn kein Weg mehr vorbei führte. Mit wachsender Qualifizierung und Organisationskraft steigen allmählich die Arbeitskosten in der globalisierten Welt. Neue wirtschaftliche Akteure machen den deutschen Unternehmen mittlerweile nicht mehr nur bei den Arbeitskosten, sondern zunehmend bei Qualität, technologischem Standard und auch Innovationskraft Konkurrenz.
Was sind die umwälzenden »Basisinnovationen« unserer Epoche?
Hier entsteht neuer Anpassungsdruck. Im Kern bedarf das gesamte Verhältnis von Globalisierung, nationalem Rahmen und regionalen Herausforderungen endlich einer Regulierung. Hinter dieser Herausforderung ist die internationale Gemeinschaft, sind letztlich auch die G7- und G20-Gipfel bislang zurückgeblieben. Wo solche Fragen zur Debatte stehen – etwa bei den TTIP-Verhandlungen und den damit verbundenen Auseinandersetzungen um Freihandel oder Isolationismus –, ist diese Dimension bislang kaum eingeblendet, kaum erkennbar. Innenpolitisch blieb die Debatte auf Hartz IV fixiert, was den Blick auf die Notwendigkeit von Transformationsprozessen verstellte – und damit auch auf den gesellschaftlichen Rahmen und die sozialen Herausforderungen.
Über Deutschlands Grenzen hinaus stellen sich Fragen danach, was die für den aktuellen Entwicklungszyklus bestimmenden „Basisinnovationen“ im Schumpeterschen Sinne sind und was sie bewirken – jene Neuerungen also, die zur Umwälzung von Produktion und Organisation in Ökonomie und Gesellschaft führen. Für die gegenwärtige Etappe richtet sich der Blick auf digitale Kommunikation und ressourcenschonende Technologien.
Mit dem Ende der fossilen Energieträger, wie es hierzulande mit dem Einstieg in die Energiewende näher rückt, verbindet man besonders bei der Linken die Erwartung an ein „Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen“ (Elmar Altvater). Die globale Ökonomie jedoch ist davon noch weit entfernt. Vor allem in den BRIC-Staaten ist noch lange nicht absehbar, wann und wie die erneuerbaren Energien zur Basis der Energieversorgung werden können.
Ganz anders die Dynamik der Digitalisierung. Sie ist bereits dabei, Wirtschaft und Arbeitswelt, Kommunikation und Wissenschaft grundlegend umzukrempeln. In der Finanzwirtschaft bringen Deregulierung und Digitalisierung einen kaum noch beherrschbaren Turbokapitalismus hervor, der die Welt im Jahr 2008 in eine anhaltend tiefe Krise stürzte. Bürgerrechte und -freiheiten müssen für die entstehende globale Informationsgesellschaft erst noch festgeschrieben und gesichert werden. Arbeitszeiten und Arbeitsinhalte, Freizeit und Familienzeiten – dies alles sortiert sich bereits neu. Altbekannte Berufe verschwinden, neue Berufe entstehen. Vertraute Debatten erweisen sich als merkwürdig altbacken. Was bewirken eng gefasste Ladenschlusszeiten, wenn es gleichzeitig Internethandel gibt? Wenn die Arbeit mehr und mehr an Laptop, Tablet und Cloud statt an stramme Bürozeiten gebunden ist – was nutzen dann rigide Urteile über die steuerliche Absetzbarkeit von häuslichen Arbeitszimmern?
Für Staaten, Gesellschaften und Individuen gilt: Wer sich verweigert, wer in der Vergangenheit hängen bleibt, verabschiedet sich aus Gegenwart und Zukunft. Es gilt nur eine Frage: Wie geht man mit diesem Umbruch um?
Die »schwarze Null« an sich ist noch kein politisches Zukunftsprojekt
In Zeiten der Hochkonjunktur hat der Bundesfinanzminister Anfang 2015 ein Investitionspaket von gerade einmal 10 Milliarden Euro bereitgestellt. Aber allein die Kommunen haben einen nicht gedeckten Investitionsbedarf von rund 100 Milliarden Euro. Investitionsstau? Wir tun so als ob – aber wir tun nichts. Warum? Hängen wirtschaftliche Stärke und Bonität langfristig wirklich nur davon ab, dass ab 2019 die Schuldenbremse greift? Wie viel ist ein gesunder Haushalt wert, wenn Deutschland Anfang der kommenden zwanziger Jahre ökonomisch und strukturell den Anschluss verloren hat? Wenn Straßen und Brücken brüchig sind, wenn die digitale Infrastruktur löchrig ist? Wenn die Unterschicht weiter nur auf niedrigstem Niveau alimentiert wird, aber keine Aufstiegschancen organisiert werden und kaum jemand aus diesen Milieus dort ankommt, wo gleichzeitig der Fachkräftemangel drückt? Wie stehen wir da, wenn wir weiter viel Geld ausgeben, um uns eines vermeintlichen Flüchtlingszustroms zu erwehren, anstatt eine moderne, offene Einwanderungspolitik zu organisieren und Menschen mit Migrationshintergrund, die schon bei uns leben, die Tür zur Integration in die sich herausbildende multiethnische und multikulturelle deutsche Gesellschaft zu öffnen?
Wir reden hier nicht fortgesetzter Schuldenmacherei das Wort. Aber wo die „schwarze Null“ an sich schon als politisches Projekt gilt, wird der kritische Blick darauf verstellt, dass zu viel Geld ausgegeben wird, das im Ergebnis Kreativität und Leistungskraft blockiert, anstatt sie zu entfalten. Das ist das Problem.
Die deutsche Politik hat keine Strategie für die Zukunft. Viele Bürgerinnen und Bürger engagieren sich hingegen sehr wohl dafür – für das, was sie anpacken können: ihre Lebensumstände, ihre Lebensqualität in einer modernen, offenen Gesellschaft. Lassen wir uns nicht den Blick verstellen: Wir leben tatsächlich in einer Zeit, in der wesentliche Teile der Restbestände von Mief, Vorurteil und Piefigkeit entsorgt werden. Schauen wir auf die Selbstverständlichkeit, mit der nicht nur Genderfragen diskutiert und entschieden werden, sondern mit der auch ein neues Männer- und Väterbild gelebt wird. Auf die Aufgeschlossenheit, mit der schwule oder lesbische Partnerschaften und Lebensgemeinschaften begleitet werden. Auf die kreative Atmosphäre und die weit über Deutschlands Grenzen hinaus reichende Anziehungskraft unserer Städte und Unternehmen – vom Start-up bis zum Autobauer. Schauen wir auf die Stärke unserer Zivilgesellschaft, die den Pegida-Mummenschanz an der Ausbreitung gehindert und in Dresden selbst begrenzt hat. Und schauen wir auf die Stärke ethischer und ökologischer Argumente dort, wo sich Menschen in wirtschaftsnahen oder wirtschaftsrelevanten Angelegenheiten engagieren – von der Energieerzeugung über die Massentierhaltung bis zum Ausbau der Infrastruktur.
Einer Gesellschaft des ständigen »Ja, aber nicht so« gelingt keine Erneuerung
Sicher, diese Sicht ist einseitig positiv gewendet. Sie hat sogar zwei Schattenseiten. Die erste: Diejenigen, die nicht vom Wind des Aufschwungs, des Fortschritts und der Liberalität getragen werden, sind nicht vernehmbar, lassen nichts von sich hören, werden unwillentlich, aber teils auch willentlich übersehen: die Menschen aus der Hartz-IV-Welt, jene aus der benachbarten Welt der Mitbürger mit Migrationshintergrund. Ja, es ist zu oft die Politik, die hier wegschaut. Oder die sich Kindergelderhöhungen von vier Euro erlaubt.
Die zweite Schattenseite ist das, was Jeff Jarvis besorgt als „Eurotechnopanik“ beschreibt: eine „Kultur der Ablehnung und des Protektionismus“, die nicht zu Innovation führe. Was aus der Gesellschaft selbst kommt, ist bestenfalls ein „Ja, aber nicht so“: Ja zu erneuerbaren Energien – aber ohne Verspargelung der Landschaft vor meinem Haus. Ja zu weltweiter Kommunikation, zu offenem Zugang zu Wissen und Information – aber ohne NSA und ohne Datenverwertung durch Google oder Facebook. Ja zum Verkehr auf der Schiene – aber ohne Stuttgart 21. Ja zu unbegrenzter Mobilität – aber ohne Straßen- und Fluglärm. Ja zu preiswertem Essen und Kampf gegen den Hunger – aber nicht zulasten der Schlachttiere und nicht durch grüne Gentechnik. Ja zu guter Bildung für alle – aber nicht durch Verlust vertrauter Gegebenheiten für das eigene Kind.
Gesellschaften brauchen Ziele, und es ist Sache der Politik, deren Formulierung voranzutreiben, sie – demokratisch legitimiert – verbindlich zu machen, Wege dahin zu bestimmen und auszugestalten. „Schwarze Null“ und Schuldenbremse sind notwendige Mittel, aber noch lange nicht der Zweck nachhaltiger Politik. Hier eine stockende Energiewende, da ein bisschen SAP und etwas Pokern zwischen Mercedes und Apple um das Auto der Zukunft – das reicht nicht. Deutschland braucht ein Leitbild für die Zukunft.
Als Kopfgeburt wird es nicht zur Welt kommen. Wenn überhaupt, dann erwächst es aus den Debatten, die heute schon geführt und über ihre bisherigen Grenzen hinaus weitergeführt werden müssen. Also: Wie führen wir die Energiewende zum Erfolg? Wir brauchen nicht 16 Energiewenden, sondern die Koordination und politische Umsetzung eines gemeinsamen Projekts – in seinen technologischen, ökonomischen und natürlich auch sozialen Dimensionen.
Was bedeutet uns die beginnende Industrie 4.0? Wir brauchen dafür ein klares Signal: Dass wir sie wollen, was wir uns davon erwarten, und dass wir die nötigen infrastrukturellen Voraussetzungen schaffen werden – vom schnellen Internet über Bildung, Integration und gesellschaftliche Akzeptanz.
Können wir mit der Wissenschaftslandschaft wirklich weiter so umgehen, wie wir es seit fast zwei Jahrzehnten tun? Projektforschung statt Strategie, Drittmittelabhängigkeit statt solider Finanzierung, Abdrängung des akademischen Mittelbaus und mittlerweile auch von Teilen der Professorenschaft in prekäre Arbeitsverhältnisse? Bund-Länder-Pakte statt Aufhebung des „Kooperationsverbotes“, das sich so offensichtlich als falsch erwiesen hat wie selten ein Fehler der Politik? Ist es nicht wieder einmal Zeit, den akademischen Raum kräftig durchzulüften? Die intransparenten Berufungsverfahren in dieser Form abzuschaffen? Die Studienbedingungen so zu gestalten, dass sie Familiengründung fördern, wenn das doch im späteren Berufsleben so schwer geworden ist?
Wie steht es heute um die Idee einer »vorsorgenden Sozialpolitik«?
Wie schaffen wir den Schritt heraus aus der düsteren Hartz-IV-Welt, aus der Welt ausgegrenzter Migrantenmilieus, aus der Welt zugeschlagener Türen und höchster Hürden für Einwanderer, um das zu überwinden, was die Wirtschaft als Fachkräftemangel bezeichnet? Wie erreichen wir einen Zustand einer stärker ausgeglichenen sozialen Balance, einer eher egalitären, durchlässigeren Gesellschaft, die, wie die empirischen Sozialwissenschaften mittlerweile gezeigt haben, im Übrigen auch leistungsfähiger, gesünder, glücklicher ist?
Wie steht es um die Idee vom „vorsorgenden Sozialstaat“? Ansätze für einen Paradigmenwechsel weg von einer nachsorgenden, alimentierenden Sozialpolitik hin zu einer vorsorgenden Gesellschaftspolitik gab es vor bald zehn Jahren sowohl bei der SPD als auch bei der sich auf dem Weg zur Linkspartei befindlichen PDS. Wie muss der Sozialstaat gebaut sein, damit er leisten kann, wozu er gebraucht wird, und nicht nur alimentiert, woran man gewöhnt ist? Damit Sozialpolitik wie eine Investition wirkt und nicht nur ein Kostenfaktor ist?
Wie gehen wir um mit dem Megatrend der Urbanisierung und seiner Kehrseite, den abgehängten Regionen? Wie gestalten wir unsere Städte, wie halten wir Ballungsräume menschenwürdig, wie überlassen wir ländliche Räume und strukturschwache Regionen nicht sich selbst, sondern finden mit ihnen Entwicklungspotenziale und setzen sie frei?
Wie finden wir zu einem neuen Zusammenhalt in Europa, der nicht nur von Macht und Ohnmacht, Gläubiger- und Schuldner-Verhältnissen, Frust und Enttäuschung auf der einen sowie Schuldzuweisungen und Re-Nationalisierung auf der anderen Seite bestimmt ist?
Zu tatsächlich politischen Ergebnissen werden diese Debatten nur dann führen, wenn sie auch die Verteilung von Einkommen und Vermögen und die Wertschöpfung einbeziehen. Worum es geht, das sind ein funktionierendes Steuersystem und die richtigen Instrumente – nicht wohlfeile Phrasen zur Beschwichtigung des einen oder zu Mobilisierung des anderen Klientels. Wie also wird mit dem, was an Steuern eingenommen wird, ein möglichst hoher Wirkungsgrad erreicht? Wie muss der öffentliche Dienst aufgebaut und eingesetzt werden? Was sind hoheitliche Aufgaben? Wo muss die öffentliche Hand selbst investieren, und wo schafft sie Anreize für Dritte? Durch Zuschüsse, Darlehen oder immaterielle Förderung? Wie wird der Solidarzuschlag auf die Lohn- und Einkommenssteuer an seiner eigentlichen Aufgabe gemessen und bemessen, nämlich strukturschwachen Regionen – mittlerweile im Westen wie im Osten – den Anschluss an die Zukunft zu sichern? Wie werden Leistungen der öffentlichen Hand aus dem Steueraufkommen mit anderen Systemen und deren Regularien sinnvoll vernetzt?
Ein Beispiel dafür, wie letzteres gerade nicht gelingt: Wenn, wie jüngst geschehen, das Kindergeld erhöht, dann aber auf Hartz IV angerechnet wird. Diejenigen, die es am meisten brauchen, erhalten von dieser staatlichen Leistung fast nichts. Das Anliegen der Leistung wird konterkariert, läuft gesamtgesellschaftlich ins Leere. Man gibt viel Geld aus, aber es bleibt weitgehend wirkungslos. So ist das in der deutschen Familienförderung oft. Vergleicht man die skandinavischen Länder mit Deutschland, so sieht man: Nicht die aufgewendete Gesamtsumme ist das Problem, sondern die real erzeugte Wirkung.
Im sozialen Bereich muss man die Lenkungswirkung nicht bloß hinterfragen, sondern sie tatsächlich neu justieren. Vielfältige Strukturen und Institutionen befassen sich damit, soziale Gerechtigkeit, sozialen Ausgleich herzustellen: Die Bundesanstalt für Arbeit, die Sozialversicherungen, die Krankenkassen ganz besonders. Welche Wechselwirkungen gibt es in ihrer Tätigkeit, welchen Stellenwert haben sie für die Gesellschaft insgesamt und untereinander? Ist beispielsweise das System der Krankenkassen wirklich auf der Höhe der Zeit? Gibt es mittlerweile wirklich einen Wettbewerb unter den gesetzlichen Kassen – und ist er auf bessere Leistungen ausgerichtet? Für den Sicherstellungsauftrag in ländlichen Räumen wohl eher nicht. Wo der Arzt ein freier Beruf ist, ist eine Praxis in einem dünn besiedelten Raum immer seltener ökonomisch tragfähig. Und die Möglichkeiten, das Versorgungsproblem mit angestellten Ärzten in medizinischen Versorgungszentren oder direkt bei den Krankenhäusern zu lösen, halten mit der Dynamik der Unterversorgung einfach nicht Schritt.
Beispiel Brandenburg: Neue Wege in der Wirtschaftspolitik
Der Wettbewerb der gesetzlichen Kassen bringt wenig, solange die Preise im Gesundheitswesen weiter zwischen den Kassen einerseits sowie der Pharma- und Medizintechnikindustrie andererseits ausgekungelt werden. Zwar wurde die Verhandlungs(über)macht der Pharmaindustrie 2011 geschwächt durch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (Amnog) mit der Pflicht zum Nachweis des tatsächlichen Nutzens neuer Medikamente, doch Preismoratorium und Zwangsrabatt wurden damit nicht überflüssig, und die Ärzte verordneten in großem Stil auch die Medikamente, deren Nutzen nicht nachgewiesen war. Für neue Medizinprodukte steht ein solcher Nutzennachweis noch immer aus.
Bleibt ein Blick auf die privaten Kassen. In jahrzehntelangen Glaubenskriegen sind hier fast alle Argumente ausgetauscht. Übersehen wird dabei leicht dies: Private Krankenversicherungen mit ihren Anreizen, möglichst selten zum Arzt zu gehen, und ihrer gleitenden Risikobewertung, die zu steigenden Kosten im Alter und bei Krankheit führt, sind womöglich einer Gesellschaft im demografischen Wandel, einer immer älter werdenden Bevölkerung gar nicht mehr gewachsen. Was dann?
Wir haben vor gut zwei Jahren ein regional- und strukturpolitisches Konzept für gefährdete Regionen in West und Ost vorgelegt und darin unsere politischen Erfahrungen in Ostdeutschland und besonders mit den ersten vier Jahren von Rot-Rot in Brandenburg aufgearbeitet.
Brandenburg hat vor allem neue Wege in der Wirtschaftspolitik beschritten: Unsere Strategie rückt Transformation von Unternehmens- und Produktstrukturen ins Zentrum, belohnt nachhaltige Ressourcennutzung, fördert Innovationen in Produktion, Wissenschaft und im Dienstleistungssektor, führt regionale sowie sektorale Förderung zusammen und verbindet sie zugleich mit sozialen Kriterien wie Tariftreue, Weiterbildung oder Familienfreundlichkeit. Öffentliche Aufträge wurden an einen existenzsichernden Mindestlohn gekoppelt, noch ehe daran bundesweit zu denken war. Für die Finanzausstattung der Kommunen wurden die Möglichkeiten des Landes maximal ausgeschöpft und auch für überschuldete Kommunen Voraussetzungen für rentierliche Investitionen geschaffen. Mit der Neueinstellung von Lehrern und Erzieherinnen finden junge Menschen Arbeit und Lebensperspektiven in Brandenburg – zugleich kommt ihre Tätigkeit anderen zugute, die durch bessere Bildungsmöglichkeiten größere Lebenschancen gewinnen. Im öffentlich geförderten Beschäftigungssektor erhielten Erwerbslose hier wie auch in Berlin zu rot-roten Koalitionszeiten wieder einen existenzsichernden Job und einen Teil ihrer Würde zurück. Abiturienten aus einkommensschwachen Familien erhalten ein Schüler-Bafög. Am Ende der ersten rot-roten Legislaturperiode hatte Brandenburg nicht nur keine neuen Kredite mehr aufgenommen, sondern war auch erstmals in die Schuldentilgung eingestiegen. Hier zeigt sich also, worauf es ankommt: Mit den richtigen Ideen an der richtigen Stelle das Notwendige tun – und die richtigen Instrumente dafür anzuwenden.
Freilich: Die komplexen Herausforderungen unserer Zeit – infrastrukturell, ökonomisch, sozial, kulturell – lassen sich nicht binnen einer Legislaturperiode dauerhaft und konsequent bewältigen. Es muss eine längerfristige politische Linie etabliert werden – stabil, getragen von einem gesellschaftlichen und politischen Konsens, von Bund und Ländern. Problembewusstsein und den notwendigen Fortschritt in einem hoch verflochtenen föderalen System zu organisieren – das ist die Herausforderung.
Das große Thema unserer Zeit: Zusammenhalt und Sicherheit im Wandel
Unverkennbar sind schon seit längerem Probleme von Demokratie, Staat und Verwaltung. Zur Dynamik der wissenschaftlichen und technologischen Innovation, die schon seit geraumer Zeit die Zyklen der politischen Aufarbeitung überholt haben, gesellte sich seit der Finanzkrise 2008 die Dynamik der Finanzmärkte. Deren Erwartungsdruck und deren Reaktionsmuster kollidierten mit den Fristen demokratischer Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse. Zugleich übersteigt der Problem- und Regelungsdruck die Möglichkeiten der Nationalstaaten und überfordert die bestehenden Institutionen multilateralen Handelns, im staatlichen wie im nicht-staatlichen Bereich. Im Inneren entfernen sich die Zeitpunkte der Bürgerbeteiligung in Planungs- und Genehmigungsverfahren aufgrund der Langwierigkeit dieser Prozesse immer mehr vom Zeitpunkt der tatsächlichen Bürgerbetroffenheit. Entscheidungen werden so immer mehr auf administrative, bürgerferne Ebenen gehoben, in entsprechende Strukturen verlagert – oder zumindest wird es so empfunden.
Soll unsere Demokratie nicht zur „Postdemokratie“ verfallen, muss die Politik auf allen Ebenen dazu beitragen, dass eine neue Kultur der Auseinandersetzung zwischen Regierenden und Regierten entsteht. Die unvermeidlichen und notwendigen Widersprüche des Lebens, Auseinandersetzungen, Reibungen, Interessenkonflikte können nicht einfach von oben beigelegt werden – Politik muss helfen, sie transparent zu machen und auszutragen. Und zugleich kann sich Politik nicht auf jene beschränken, die für ihre Anliegen auf die Straße gehen, Unterschriften sammeln und Forderungen erheben. Ein großer Teil der Gesellschaft ist derzeit inaktiv, artikuliert sich nicht, hat resigniert, fühlt sich nicht zugehörig oder bleibt von vornherein außen vor.
Das beginnt sehr wohl schon in der breiten Mitte der Gesellschaft. Auch und gerade bei denen, die den Verlust ihres – oft bescheidenen – Wohlstands fürchten, den Verlust von Arbeitsplatz und Geborgenheit der eigenen Wohnung oder des Eigenheimes. Denen der soziale Stress schwer zu schaffen macht, denen ein ewig angespanntes Haushaltsbudget, steigende Preise, höhere Herausforderungen im Job oder die Zukunft der eigenen Kinder permanent Sorgen bereitet. Und die am meisten die Risiken fürchten, die ein Ende der deutschen Neobiedermeierlichkeit mit sich bringen könnte. Es ist keine Petitesse, dass sich gerade in den stramm neoliberalen Zeiten, die wir durchlebt haben, ein ganz anderes gesellschaftliches Grundbedürfnis herausgebildet hat: Sozialer Zusammenhalt in einer sich wandelnden, krisenbeladenen Welt. Den Wandel sozial zu gestalten, allen einen würdigen Platz in der Gesellschaft zu ermöglichen, soziale Polarisierung zu verhindern – dieser Wunsch, so zeigen Bürgerbefragungen wie sozialwissenschaftliche Befunde, eint große Teile der Gesellschaft.
»Wir brauchen euch« – das muss unsere Botschaft sein
Das ermutigt, darf aber den Blick nicht verstellen: Es gibt nicht nur die bedrohten Mittelschichten, es gibt auch die Welt der sozialen Enge, der eingeschränkten Lebensperspektiven, des sozialen, ökonomischen und kulturellen Abgehängtseins vom Mainstream – und diese Welt entfernt sich aus der demokratischen Willensbildung der Gesellschaft. Mehr noch: Sie prägt ganz eigene Wertvorstellungen und Selbstverständlichkeiten aus, die sich mittlerweile in der zweiten und dritten Generation verfestigen. Gerade diesen Menschen müssen Angebote gemacht werden. Angebote, die sie überhaupt erreichen und die sie auch wahrnehmen können.
Und: Niemand soll länger als fünf Jahre in Hartz IV verbleiben müssen – das wäre doch eine Idee! Aber zugleich sollte Hartz IV nicht Hartz IV bleiben. Vielmehr sollte es in eine solide ausgestatte soziale Grundsicherung umgebaut werden, nicht allein als Alimentierung, sondern als Wiederaufstiegs-Programm. Das ist keine Sozialromantik, sondern realer gesellschaftlicher Bedarf. Wir brauchen euch – das muss unsere Botschaft sein. Und auch die Einsicht jener, die „oben“ und „drin“ sind: Eine schrumpfende Gesellschaft im demografischen Wandel kann es sich gar nicht leisten, Menschen dauerhaft auf Distanz zu halten.
Das gilt auch für jene, die – aus welchen Gründen auch immer – Zuflucht oder ihr Glück in unserem Land suchen. Das Recht auf Asyl ist nach den quälenden Debatten vor rund zwei Jahrzehnten streng geregelt und für die Mehrheit der Menschen in unserem Land auch ein wichtiges, akzeptiertes Gut. Einwanderung findet statt, aber weder Politik noch Gesellschaft haben dazu ein pragmatisches, klares Verhältnis gefunden. Es ist an der Zeit, nun auch das ordentlich zu regeln. Und zwar nicht, ob jemand kommen darf, sondern wie er seinen Platz finden kann, wenn er oder sie hergekommen ist. Natürlich wird und kann Einwanderung nicht konfliktfrei verlaufen. Und natürlich werden Kräfte wie die AfD, Pegida oder Schlimmere versuchen, diese Konflikte zu instrumentalisieren. Aber diese Konflikte schafft man nicht aus der Welt, indem man Quoten oder Punktesysteme aufstellt, sondern indem man es ermöglicht, dass Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft in Deutschland miteinander leben und arbeiten, sich kennen und schätzen lernen können. Wer den Weg zurück in die Heimat geht, soll dies nicht tun müssen, weil es für ihn oder sie keine Chance zur Integration gab, sondern höchstens deswegen, weil es mit dieser Chance dann doch (noch) nicht geklappt hat.
Es gibt keinen dauerhaften Fortschritt nur in den Grenzen und mit den Möglichkeiten eines einzelnen europäischen Landes. Was auf der Tagesordnung steht, ist die Regulierung des Verhältnisses von Globalisierung, nationalem Rahmen und regionalen Herausforderungen. Die EU ist die geeignete Plattform sowohl dafür, in eine solche Regulierung einzusteigen, als auch dafür, entsprechende Impulse gegenüber der internationalen Gemeinschaft geltend zu machen. Einem bloßen Sammelsurium europäischer Länder mit einem potenten Deutschland in der Mitte wird dies allerdings nicht gelingen – einem europäischen Staatenverbund, der auf einer starken Achse Paris-Berlin-Warschau beruht, dagegen schon.
Frank-Walter Steinmeier drängte in seiner Rede zum 15. Geburtstag dieser Zeitschrift auf eine „Debatte, die Innen und Außen verbindet“. Die eigentlichen Aufgaben Deutschlands und Europas in der Welt scheinen derzeit in der Tat noch gar nicht voll erkannt zu sein. Wie wenig Gutes europäisches Militär beispielsweise in Afrika ausrichten kann, hat der Libyen-Einsatz klargemacht. Es war eine kluge Entscheidung der schwarz-gelben Bundesregierung, sich daran nicht zu beteiligen – allen gängigen Debattenmustern zum Trotz. Wie viel an Stabilität in Afrika erreicht werden kann, zeigen hingegen Chinas Investitionen. In dieser Hinsicht kann man wohl vom Reich der Mitte einiges lernen – und manches tun, was besser funktioniert und weitsichtiger ist.
Sicher ist: Change will come. Wir sollten ihn gestalten wollen
Aber auch mit dem Blick auf das Innere Europas ist ein Neuansatz nötig – raus aus der krisenbedingten Defensive eines Projekts schrumpfender Eliten und hin zu einer Offensive für die Bürgerinnen und Bürger der Union. Von deutscher Seite sollte jetzt eine scheinbar utopisch anmutende Idee angepackt werden: der Aufbau einer Europäischen Arbeitslosenversicherung. Aus Brüsseler Sicht ist diese Idee gar nicht so utopisch. Im Dezember 2012 hatten die seinerzeitigen EU-Spitzen – Ratspräsident Herman Van Rompuy, Kommissionspräsident José Manuel Barroso und Eurogruppen-Chef Jean-Claude Juncker – gemeinsam mit EZB-Chef Mario Draghi in einem Mehrjahresplan für die Entwicklung der Europäischen Union ein entsprechendes „Versicherungssystem auf zentraler Ebene“ beschrieben. Die Basissicherung bei Arbeitslosigkeit käme dann aus dem europäischen Topf; die einzelnen Staaten hätten die Freiheit, gemäß ihrer bisherigen Regeln etwas drauf zu legen – aber nicht mehr die Möglichkeit, unter diese Basissicherung zu gehen. Was für ein Fortschritt wäre das für die Bürger in den schwächeren EU-Ländern – und was für ein Stück erlebte europäische Solidarität für alle!
Barrosos Sozialkommissar László Andor verwies auch auf den ökonomischen Effekt einer solchen Versicherung: Zahlungen an Arbeitslose seien einer der wichtigsten „automatischen Stabilisatoren, über die Geld in die Wirtschaft fließt, wenn die Konjunktur einbricht“ – und genau so etwas sei nötig, weil immer mehr Staaten nicht mehr die finanziellen Mittel besäßen, bei Wirtschaftskrisen wirksam gegenzusteuern. Im Übrigen ist diese Denkrichtung auch aus deutscher Sicht gar nicht so utopisch: Ende 2013 setzten sich die Europaminister der Bundesländer fast einhellig (nur Bayern enthielt sich) dafür ein, die so genannte soziale Querschnittsklausel der Europäischen Verträge zu einer „sozialen Fortschrittsklausel“ weiterzuentwickeln. Was bedeutet das? Aus einer bloßen Zielbestimmung würde ein verpflichtendes Ziel – und zwar nicht in dem Sinn, dass jedes schon bestehende Förderprogramm daraufhin überprüft wird, sondern dass das Tor zu einer europäischen Arbeitslosen- und Krankenversicherung aufgestoßen wird.
Vieles ist also zu tun, vieles kann aber auch getan werden. Wie lange wird es trotzdem weitergehen mit dem deutschen Neobiedermeier? „Alles in der Welt endet durch Zufall und Ermüdung“, sagte Heinrich Heine, auch er ein Dichter des Vormärz, der Alternative zum Biedermeier des 19. Jahrhunderts. Und: „Die Handlungen eines Furchtsamen, wie die eines Genies, liegen außerhalb aller Berechnungen.“ Eines ist also sicher: Change will come.«