Vom Ungeist der Parvenüs
Albrecht von Lucke hat ein in sich schlüssiges, faktenreiches und zügig lesbares Buch über die aktuelle Krise der politischen Linken geschrieben. Doch es ist zugleich auch ein ärgerliches Buch geworden – ein Buch, das zwar vor allem mit Personen hart umgeht, linke Mythen und Stereotype jedoch weiträumig umschifft, statt sie selbstkritisch zu untersuchen und daraus Neues zu erschließen.
Im Eingangskapitel lernen wir zunächst das Fürchten und erfahren, dass wir durch die Spaltung des Mitte-Links-Lagers wohl in eine ewige „schwarze Republik“ geraten sind. Und sogar, dass wir in einer „Ära Merkel“ leben. Doch all die Dinge, die man mit einer „schwarzen Republik“ assoziiert – autoritäre Herrschaft, soziale Kälte, aggressives Verhalten, Intoleranz und nationale Abschottung – sind genau nicht das, was die Ära Merkel prägt. Vielmehr kann man Angela Merkel seit der Bundestagswahl 2013 als Deutschlands durchsetzungsstärkste Sozialdemokratin bezeichnen. Und noch nie waren die wirklich „Schwarzen“ innerhalb der Union so schwach wie unter Merkel. Man kann von der Dame möglicherweise eine Menge lernen.
Sicher, man muss sie auch hart kritisieren, mal für ihre Härte, mal für ihre Unterlassungen – vor allem für ihre Zukunftsblockaden (von der Investitionsschwäche über die Erosion der Infrastruktur bis hin zur „Schuldenbremse“). Vielleicht muss man ihr auch ankreiden, dass sie die nationalkonservativen Kräfte inzwischen nicht mehr vollständig zähmen kann und dass sich die AfD etabliert hat – die wirkliche Partei der „Schwarzen“. Dann aber kommt man zu ganz anderen Linien der Auseinandersetzung als denen, die Albrecht von Lucke aufmacht.
Die beiden übermächtigen Dämonen
Doch zurück zum Buch. Lucke geht es um die Krise der linken Parteien, die daran scheitern, eine wirksame politische Alternative zu Merkel aufzubauen. Drei Schlüsselbegriffe durchziehen das Buch: Entsolidarisierung, Spaltung und die Rolle von Personen. Vor allem letzteres prägt Luckes Blick auf Ursachen und Entfaltung der tatsächlich desaströsen Lage der Linken in Deutschland. Zwei übermächtige Dämonen macht er verantwortlich: Gerhard Schröder einerseits, Oskar Lafontaine andererseits. Das funktioniert als publizistischer Kniff, verstellt aber den Blick auf wesentliche Fragen: Vor welchen politischen und ökonomischen Herausforderungen standen denn die beiden vor ihrem Wahlsieg 1998? Vor welchen Fragen hatte sich Lafontaine gedrückt, als er die SPD nicht programmatisch auf die Regierungsübernahme vorbereitete, sondern sie auf die Blockade der Kohl-Regierung reduzierte? Welche tatsächlichen gesellschaftspolitischen Fragen waren es, auf die Schröder zunächst keine überzeugenden und dann die falschen Antworten fand?
Lucke reduziert sich hier zu stark auf die teils denunziatorische Deutung eines bestimmten Politiker-Typs (des in der Politik reüssierenden sozialen Aufsteigers) – und will damit dem zutreffend beschriebenen Fehler linken politischen Denkens entgehen, „die politischen Strukturen von den beteiligten Personen entkoppeln zu wollen“. Dabei gerät ihm leider eine andere, sehr wesentliche Frage aus dem Blick: Wie war es möglich, dass die so finster beschriebenen Gestalten Schröder und Lafontaine in ihren Parteien Karriere machen und schließlich beträchtlichen Wählerzuspruch finden konnten? Haben nur sie ihre Partei und Wählerschaft getäuscht? Oder haben sich auch Parteimitglieder und -anhänger selbst in zentralen Fragen über bestimmte Entwicklungen und Veränderungen hinweggetäuscht?
Bloße Ablehnung ist zu wenig
Auch wenn der Autor die SPD-„Netzwerker“ zur „reformerischen Avantgarde“ einer bösen Dekonstruktion von Gerechtigkeit erklärt, so hat gerade hier, in der von ihnen getragenen Berliner Republik, die oft auch schmerzhafte Verständigung zwischen Progressiven aus SPD und Linkspartei stattgefunden: über Gründe eigenen Scheiterns, vor allem aber über Inhalte, Grundlinien und Details einer Alternative zur aktuellen Regierungspolitik. Und die aktuelle internationale Debatte über den Wert von Gleichheit, wie ihn Tony Judt begründete, hat maßgeblich die Berliner Republik nach Deutschland gebracht.
Angesichts dieser Diskurs-Erfahrungen verwundert die selbstgewisse Behauptung Luckes, „von einer Krise linken Denkens“ könne „keine Rede sein“. Schließlich habe „intellektuelle Kapitalismuskritik … durchaus Konjunktur“. Es ist fraglich, ob die bloße Kapitalismus- und Globalisierungskritik ein hinreichender Beitrag linken Denkens zur Überwindung der Krise ist. Und da sind wir bei der eigentlichen Grenze dieses Buches. Es kommt nämlich über eine durchaus faktenreich unterlegte Ablehnung eingetretener Entwicklungen nicht hinaus. Vor allem weil zu oft ausgeblendet wird, was eigentlich auf Veränderung gedrängt hat, und weil Veränderung selbst dann nur noch als Abrücken von eigentlich Bewährtem und weiterhin Tauglichem verstanden wird.
Wo Lucke dann doch mal praktisch wird, geht es eher schlicht zu. Beispiel: Um die EU wieder in die Balance zu bringen, müssten nur mal eben in Deutschland die Löhne erhöht werden – was freilich dazu führen würde und soll, dass die Bundesrepublik „von einem Teil ihrer Exportüberschüsse Abstand nehmen“ müsste. Leicht gedacht – so einfach aber, ohne jeden Hinweis auf eine andere sozialökonomische Perspektive der größten EU-Volkswirtschaft wohl kaum zu machen.
Unbedingt zu begrüßen ist hingegen Luckes eindringliches Schlusskapitel zum „Kampf um Europa“. Sein Appell: „Diese fatale Renationalisierung zu bekämpfen, ist die historische Aufgabe einer liberalen, freiheitlichen Linken.“ Was dafür, so Lucke, „nottut – gerade aus linker Sicht –, ist eine Reaktivierung des europäischen Gedankens im Zeichen einer echten, politischen Einheit Europas“. Leider schwebt der Gedankengang dann hinüber zu Aspekten europäischer Identität und es fehlen konkrete Schritte, etwa der Kampf um eine Europäische Sozialversicherung als ein Stück solidarischen Zusammenwachsens jenseits von Austerität und Bankenrettung.
Warum es 2017 kein Rot-Grün-Rot gibt
Aber die Policy-Ebene ist auch nicht das, was der Autor anstrebt. Im vorletzten Kapitel diskutiert er eine mögliche Vereinigung von SPD und Linkspartei oder zumindest einen „historischen Kompromiss“ beider Parteien. Das ist seit 1990 ein wohlfeiles Thema mit einer aus meiner Sicht wünschenswerten Perspektive – aber 25 Jahre haben nicht ausgereicht, dieser Vision ein Stück näher zu kommen. Denn, da hat Lucke völlig recht, „ohne eine überzeugende Idee sozialdemokratischer Politik und ihre glaubhafte Verkörperung wird die Krise der deutschen Linken … nicht zu überwinden sein“. Leider findet sich aber auch bei ihm keine Blaupause für eine solche Idee.
Dennoch: Wenn man sie mit wachem kritischen Verstand liest, ist Luckes Schrift ein erhellender Beitrag zu der Frage, warum es 2017 keine rot-rot-grüne Alternative zu Merkel geben wird, warum eine solche politische Alternative andererseits gar nicht so weltenfern ist, wie sie erscheinen mag, und welche strukturellen, personellen parteiinternen und ideologischen Barrieren einer solchen Alternative im Wege stehen.
Albrecht von Lucke, Die schwarze Republik und das Versagen der deutschen Linken, München: Droemer Knaur 2015, 232 Seiten, 18 Euro