Die defizitären Unternehmer
Es hat sich etwas getan in der politischen Perspektive auf Kulturschaffende. Vorbei sind die Zeiten, da Kulturschaffende als schutzbedürftige Sozialbürger galten. Verändert haben sich auch die politischen Ideen und Rezepte zur wohlfahrtsstaatlichen Regulierung künstlerisch-kreativer Arbeit. Heute geht es vornehmlich darum, einen wirtschaftspolitischen Rahmen zur Entfaltung künstlerisch-kreativer Potenziale zu schaffen. Anders als in der historischen Phase des sorgenden Wohlfahrtsstaates der sechziger bis achtziger Jahre werden Kulturschaffende als kulturelle Modernisierer des (westdeutsch geprägten) industriegesellschaftlichen Arbeits- und Sozialmodells betrachtet und ihre projektförmigen Arbeitsverhältnisse als die Zukunft ausgegeben, etwa im Bericht des Bundeswirtschaftsministeriums zu den volkswirtschaftlichen Potenzialen der Kreativwirtschaft.
Kreativen fehle eine Marktorientierung, so die häufige Einschätzung. Dass viele Kulturschaffende kein betriebswirtschaftliches Grundlagenwissen aufweisen, gibt offenbar Anlass zur politischen Sorge. Sie sollen zum unternehmerischen Selbst werden, das den kommerziellen Erfolg ins Zentrum der künstlerisch-kreativen Produktion stellt. Die Metamorphose vom Künstler zum Unternehmer soll sie dazu befähigen, ein stärker verwertungsorientiertes Verständnis von künstlerisch-kreativer Arbeit zu entwickeln und Wohlstand nicht nur für sich selbst, sondern für alle zu schaffen. So werden künstlerisch-kreative Akteure als zwar volkswirtschaftlich vielversprechende, doch zugleich „defizitäre“ Unternehmer inszeniert.
Nun ist es ganz gewiss nützlich, ja unabdingbar, die eigene wirtschaftliche Zukunft vernünftig planen zu können. Aber es kann bezweifelt werden, ob es angesichts des sozialpolitischen Reformstaus in künstlerisch-kreativen Erwerbsfeldern der beste Weg ist, die politischen Prioritäten auf die Schaffung eines wirtschaftspolitischen Rahmens zu legen, um den gesellschaftlichen Zukunftsmotor Kunst und Kultur wirklich in Schwung und um künstlerisch-kreative Potenziale zur Entfaltung zu bringen. Es ist erstaunlich, wie viel politische Energie in die Installierung eines wettbewerbspolitischen Rahmens fließt, etwa mit der im Jahr 2007 aus der Taufe gehobenen Initiative der Bundesregierung für Kultur- und Kreativwirtschaft. Demgegenüber steht die dringend notwendige Modernisierung der sozialen Sicherungsinstitutionen für Kulturschaffende förmlich still. Mehr noch: Die sozialpolitische Bewegungsstarre der Künstlersozialkasse – einer international einmaligen Errungenschaft aus dem Jahr 1981 – produziert wohlfahrtsstaatliche Exklusionsrisiken für eine steigende Anzahl an Menschen, die sich in der Kultur- und Kreativwirtschaft verdingen.
Die neue wohlfahrtsstaatliche Gouvernementalität von künstlerisch-kreativer Arbeit formiert sich seit den späten achtziger Jahren – und damit in etwa parallel zum allgemein beginnenden Umbau des deutschen Wohlfahrtsregimes. Drei Indikatoren sind hier zu nennen: die semantische Rekonstruktion von Künstlerarbeitsmärkten hin zur Kultur- und Kreativwirtschaft; die Tatsache, dass Kulturdienstleister zu Kreativen umdefiniert werden; eine Teil-Privatisierung sozialpolitischer Steuerung von künstlerisch-kreativer Arbeit.
Als Kultur und Wirtschaft noch zwei Welten waren
In den sechziger bis achtziger Jahren herrschte im politischen Raum die Auffassung vor, Kultur und Wirtschaft seien zwei Welten mit eigenen Gesetzmäßigkeiten. Wohlfahrtsstaatlich gesteuert wurde künstlerisch-kreative Arbeit daher im Spannungsfeld von Kultur- und Arbeits- sowie Sozialpolitik. Seit den späten achtziger Jahren hat sich dieser Schwerpunkt verschoben. Kultur- und Wirtschaftspolitik sind einen engen Bund eingegangen. In der politisch mittlerweile geläufigen Definition von künstlerisch-kreativer Arbeit wird zwar mittels der Differenzierung von elf Teilmärkten ein feiner Unterschied zwischen Kultur- und Kreativwirtschaft (KuK) gemacht. Dennoch wird sämtliche künstlerisch-kreative Arbeit unter dem Rubrum „Wirtschaft“ subsumiert. Tatsächlich ist die KuK ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Immer wieder wird in den politischen Diskussionen unterstrichen, dass die volkswirtschaftliche Wertschöpfung in der KuK nur knapp hinter jener der Automobilindustrie liege und damit zum drittwichtigsten nationalen Wirtschaftsfaktor aufgestiegen sei.
Als begriffstheoretischer Baukasten für die wirtschaftpolitische Aufladung von künstlerisch-kreativer Arbeit dient zum einen der anglizistische Diskurs um die creative industries, der vornehmlich aus dem Wahlprogramm von New Labour unter Tony Blair importiert wurde. Zum anderen hat Richard Florida mit seinem Konzept der creative class entscheidende Stichworte geliefert. Eingebettet in den sozialdemokratischen Reformdiskurs des dritten Weges und als kulturpolitischer Ausdruck der Hinwendung zum social investment state wollte die New Labour-Regierung der neunziger Jahre die steigende wirtschaftliche Bedeutung der Bereiche Kunst und Kultur hervorheben und sich von dem bis dahin gebräuchlichen Konzept der cultural industries absetzen. Damit war eine Orientierung auf Kulturpolitik und den öffentlich gesponserten Kultursektor verbunden gewesen. Kultur sollte als ökonomische Ressource im Rahmen der knowledge economy erschlossen werden.
Vom Sozialbürger zum Wirtschaftsbürger
Analog zur britischen Akzentuierung ökonomischer Effekte von künstlerisch-kreativer Arbeit verschiebt sich auch hierzulande der Fokus. Angesichts des steigenden volkswirtschaftlichen Anteils von künstlerisch-kreativer Arbeit sei eine rein kulturpolitische Perspektive nicht mehr zeitgemäß. Die deutschsprachige Definition von Kultur- und Kreativwirtschaft lehnt sich eng an die britische Fassung an. Gerahmt von diesen Debattensträngen wird der Terminus „Kultur- und Kreativwirtschaft“ zum semantischen Bezugsrahmen für künstlerisch-kreative Arbeit synthetisiert. Analytisch stellt die KuK daher eine empirisch erweiterte und wirtschaftspolitisch konnotierte Form der klassischen Künstlerarbeitsmärkte dar.
Kreative werden nun nicht mehr als schutzbedürftige Sozialbürger mit einem arbeitnehmerähnlichen, sozialpolitischen Sonderstatus betrachtet, sondern als kreative Protagonisten eines volkswirtschaftlich vielversprechenden, aber demografisch prekären Wirtschafts- und Arbeitsmarktsegments. Sie werden als „Kraftzentrum der Kultur- und Kreativwirtschaft“ und als Protagonisten einer „wissensintensiven Zukunftsbranche mit deutlichen Innovations-, Wachstums- und Beschäftigungspotenzialen angesehen“, wie es im Bericht der zuständigen Enquete-Kommission im Jahr 2007 hieß. Somit verschiebt sich die semantische Konstruktion vom Kulturdienstleister als Sozialbürger hin zum Kreativen als Wirtschaftsbürger.
Der politische Kurswechsel hin zu einem wettbewerbsorientierten, wohlfahrtsstaatlichen Regulierungsmodus ist nicht zuletzt deswegen brisant, weil er nicht mit einer Modernisierung sozialpolitischer Institutionen einhergeht. Dabei hätte die KSK dringend eine Modernisierung nötig, weil sie immer noch auf den kulturpolitischen und arbeitsgesellschaftlichen Annahmen der achtziger Jahre beruht. Diese besagen: Erwerbsformen halten ein Leben lang – und der Kulturarbeitsmarkt ist eine Erwerbsnische. Beides stimmt nicht mehr. Erwerbsbiografien pluralisieren und verzeitlichen sich. Und wie gesagt: In der Kultur- und Kreativwirtschaft arbeiten mehr Menschen als in der Automobilindustrie. Diese Entwicklungen setzen auch die spezifischen sozialen Sicherungsinstitutionen unter Druck. Wurden zu Beginn der achtziger Jahre langfristig nicht mehr als 30.000 bis 40.000 Versicherte in der KSK erwartet, waren dort im Jahr 2011 mehr als 170.000 Kulturschaffende sozial versichert.
Korrespondierend mit der Deregulierung des öffentlichen Kulturbetriebs und der Expansion privatwirtschaftlicher Erwerbsfelder im Kreativbereich haben sich zudem die Erwerbsstrategien der Akteure verändert. Neue Erwerbsstrategien von Kulturschaffenden kristallisieren sich heraus. Viele haben, anders als in den achtziger Jahren unterstellt wurde, keinen durchgängigen selbständigen Erwerbsstatus, sondern sind mal abhängig beschäftigt, mal selbständig tätig. Die Trennlinie zwischen freiberuflich und abhängig-sozialversicherungspflichtig Tätigen verschwimmt zusehends. Dies hat Folgen für deren sozialstaatliche Teilhabe. Denn Akteure mit unsteten Erwerbsformen bleibt der Zugang in die Sozialversicherung versperrt. Auf Basis des Künstlerkatalogs, in dem die derzeit 113 versicherungsfähigen „Berufe“ notiert sind, gilt als Aufnahmekriterium in die KSK neben dem eigenschöpferischen Anteil, dass nur diejenigen in die Versicherung aufgenommen werden, deren Haupteinnahmequelle eine dauerhaft künstlerische und selbständige Tätigkeit ist. Das ist aber immer öfter nicht der Fall. So lassen sich analog zur Ausweitung projektorientierter Arbeitsverhältnisse etwa im Bereich der Darstellenden Künste oder in der Designbranche 20 bis 30 Prozent der freiberuflich Tätigen nicht mehr einer eindeutigen Erwerbsform zuordnen. Doch wessen Nebenverdienst das aufs Jahr hochgerechnete Minijob-Salär übersteigt, dem bleibt der Zugang in die Sozialversicherung versperrt. Die KSK erkennt ihn nicht als eindeutig selbständigen Künstler an. Übrigens lag das Durchschnittseinkommen der KSK-Versicherten im Jahr 2011 bei 13.667 Euro und damit am Rand der Armutsgefahrenzone.
Es dräut das diskursive Damoklesschwert
Dennoch sind die jüngeren politischen Reformbemühungen nicht auf die reflexive Deregulierung der KSK ausgelegt. Anstatt den zunehmend diskontinuierlichen Erwerbsverläufen von Kulturschaffenden Rechnung zu tragen, zeichnet sich die wohlfahrtsstaatliche Modernisierung der KSK durch eine primär fiskalpolitische Ausrichtung, durch verschärfte Kontrollmaßnahmen der Versicherten und Verwerter sowie durch einen Trend zur Selbstsorge und durch die Privatisierung sozialer Risiken aus. So hat das steigende Mitgliederaufkommen der KSK bei gleichbleibenden Ressourcen beziehungsweise einem sinkenden Zuschuss der Bundesregierung seit den neunziger Jahren dazu geführt, dass etwa 30 Prozent aller Versicherungsanträge abgelehnt werden.
Zudem zog die jüngste Reform der KSK im Jahr 2007 gesellschaftspolitische Konflikte nach sich. Bei diesen Konflikten ging es ums Ganze. Nachdem zunächst der Deutsche Industrie- und Handelskammertag „ordnungspolitische Bedenken“ gegen die KSK geäußert hatte, empfahl im Jahr 2008 der Wirtschaftsrat des Bundesrats gar deren Abschaffung. Der entsprechende Antrag, der einer faktischen Exklusion von Kulturschaffenden aus dem Sozialversicherungsstaat gleichgekommen wäre, wurde zwar abgewiesen. Dennoch artikulierte sich darin eine gesellschaftspolitische Bewertung, die eine sozialrechtliche Inklusion von Kulturschaffenden zum politischen Konfliktfall erklärt. Sie wirkt wie ein diskursives Damoklesschwert und sitzt jenen kulturpolitischen Akteuren, die eine institutionelle Anpassung des Künstlersozialversicherungsgesetzes an die sozialen Realitäten für erforderlich erachten, noch in den Knochen.
Three strikes and you’re out
So scheint die Erhöhung der Zuverdienstgrenzen oder die Abschaffung des Paragrafen, wonach sich die Superstars der Kulturproduktion von der Pflichtversicherung befreien lassen können, derzeit keinen sozialpolitischen Handlungsbedarf auszulösen. Auch die im Februar 2006 eingeführte freiwillige Arbeitslosenversicherung für Selbständige ist für Kulturschaffende kaum relevant, weil die Zugangsberechtigung an eine Rahmenfrist geknüpft ist, die sich an abhängiger Beschäftigung orientiert – sowie daran, sich aus der Erwerbslosigkeit heraus selbständig zu machen. Vor dem Hintergrund der unsteten Erwerbsverhältnisse von Kulturschaffenden ein Kriterium mit exkludierender Sprengkraft. Seit 2011 greift zudem die Regel, dass die Versicherung nur zweimal in Anspruch genommen werden kann. Beim dritten Mal erlischt der Versicherungsanspruch. Da Kulturschaffende überwiegend projektbezogen arbeiten und erwerbslose Phasen zum Alltag gehören, kommt diese Sozialversicherung für sie nur in Ausnahmefällen in Frage. Das zuständige Ministerium vertritt allerdings die Auffassung, dass Kulturschaffende heute keiner sozialpolitischen Sonderstellung bedürfen.
Die neue wohlfahrtsstaatliche Regierungslogik von künstlerisch-kreativer Arbeit läuft darauf hinaus, soziale und ökonomische Handlungsrationalitäten neu und anders zu verschränken als in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren. Gestützt auf die These eines defizitären Unternehmersinns wird den Akteuren ein Subjektivierungsangebot als unternehmerisches Selbst gemacht, das sowohl ökonomisch als auch moralisch, also zum Wohle der Gesellschaft handelt. De facto impliziert die wirtschaftspolitische Akzentuierung künstlerisch-kreativer Arbeit eine Einschränkung und Privatisierung wohlfahrtsstaatlicher Teilhabe. Wenn also Künstler und Kreative das Gesicht Deutschlands wirtschaftlich und kulturell modernisieren sollen, sollten sie dies sozialpolitisch abgesichert tun können.