Nachdenken oder Niedergang
Als vor einem halben Jahrhundert ein junger Inder sein Studium im englischen Cambridge aufnahm, erkundigte er sich neugierig, ob er an der weltberühmten Universität auch Vorlesungen zur Wirtschaftsgeschichte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas hören könne. Gewiss doch, erläuterte man ihm zuvorkommend, diese Themen seien Unterkapitel einer Lehrveranstaltung mit dem Titel „Europäische Expansion“. Der junge Inder war Amartya Sen. Für seine herausragenden Beiträge zur Wohlfahrts- und Entwicklungsökonomie wurde ihm Jahrzehnte später der Wirtschaftsnobelpreis verliehen. Heute macht sich Amartya Sen tiefe Sorgen um die Zukunft Europas. In seinem Essay „Was aus Europa geworden ist“, dem Herzstück dieser Herbstausgabe der Berliner Republik, legt er dar, aus welchen Gründen.
Dabei ist die Antwort, die Sen 1953 in Cambridge erhielt, ein Schlüssel zum Verständnis unserer Krise. Aus langer historischer Gewohnheit begreift sich Europa im Grunde noch immer als Dreh- und Angelpunkt des globalen Geschehens. Ebenso höflich wie historisch zutreffend konstatiert auch Sen: „Die Welt hat unendlich viel von diesem Kontinent gelernt.“ Aber heute? Der Hinweis auf den weltgeschichtlichen Rang Europas dient Sen als Referenzpunkt seiner schneidenden Kritik am gegenwärtigen Zustand unseres Kontinents: „Wirklich auffällig ist nicht die historische Machtverschiebung zwischen den Erdteilen. Erstaunlich ist vielmehr das Chaos, in das sich Europa im Laufe des vergangenen Jahrzehnts – und ganz besonders in den letzten paar Jahren – hineinmanövriert hat.“
Nur eines entsetzt Amartya Sen noch mehr als Europas aktuelle Notlage selbst: die seiner Ansicht nach vollkommen kontraproduktive Reaktion der politischen und ökonomischen Eliten auf die Krise. Die in der Eurozone betriebene Politik der Austerität vergifte nicht nur die Beziehungen zwischen den Völkern, sondern richte auch unter Wachstumsgesichtspunkten schwerste Schäden an. Mit scharfen Einschnitten vor allem bei den öffentlichen Dienstleistungen werde zudem ein nicht bloß in keynesianischer Perspektive, sondern vor allem auch unter den langfristigen Gesichtspunkten der Gerechtigkeit, der demokratischen Legitimität, der Entwicklung und der Lebenschancen zerstörerischer Kurs eingeschlagen. „So gesehen wird offenkundig, was für ein Desaster die europäische Finanzpolitik der jüngsten Zeit angerichtet hat“, schreibt Amartya Sen.
Es ist immer hilfreich, wenn eine Gesellschaft zur Kenntnis nimmt, welche Gedanken sich kluge Beobachter von außen über ihren Werdegang machen. Ein aktuelles Buch des Briten Edward Luce über die ebenfalls höchst bedenkliche innere Verfassung der Vereinigten Staaten trägt den knappen Titel Time to Start Thinking. Besser lässt sich nicht auf den Punkt bringen, was jetzt auch bei uns angezeigt ist. Europa muss dringend einen neuen Kurs einschlagen, sonst könnte es bald sein blaues Wunder erleben – das ist der eindringliche Rat, den Amartya Sen uns Europäern gibt. Wir sollten ihn sehr ernst nehmen.
Tobias Dürr, Chefredakteur