Am Ende bleiben Verlierer
Was Armut ist, wird in der Europäischen Union im Wesentlichen über die relative Höhe des Einkommens definiert. Wer weniger als sechzig Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat, liegt unter der „Armutsrisikoquote“. In Deutschland sind laut Armutsbericht der Bundesregierung etwa 15 Prozent der Bevölkerung davon betroffen. Jedoch herrscht in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion Einigkeit darüber, dass Armut ein komplexes Phänomen ist, bei dem ein unterdurchschnittliches Einkommen einhergeht mit geringem Bildungsgrad, einem Mangel an sozialer Partizipation und schlechter Gesundheit. Wer arm ist, macht seltener Abitur. Wer arm ist, ist einsamer. Wer arm ist, ist kränker und stirbt früher. Armutsbekämpfung erfordert also sozialpolitisches Engagement auf verschiedenen Ebenen. Welche Möglichkeiten und Grenzen sich dabei auftun, zeigt sich auf einem Feld der Gesundheitsversorgung besonders deutlich: der zahnmedizinischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen.
Eigentlich ist die Entwicklung der Zahngesundheit in den vergangenen dreißig Jahren eine Erfolgsstory. Durch eine konsequente Präventionspolitik hat sich Deutschland im internationalen Vergleich vom Schmuddelkind zum Klassenprimus gemausert. Besonders zurückgegangen ist die Kariesverbreitung bei Kindern: Hatten 12-Jährige Anfang der achtziger Jahre im Schnitt sieben bleibende Zähne, die kariös oder gefüllt waren beziehungsweise aufgrund von Karies gezogen werden mussten, so lag der Wert 2005 nur noch bei 0,7 – ein Rückgang auf ein Zehntel und der niedrigste Wert weltweit. Das ist das zentrale Ergebnis der vierten Deutschen Mundgesundheitsstudie.
Doch die epidemiologischen Reihenuntersuchungen, die für diese Studie durchgeführt wurden, haben noch eine andere, durchaus beunruhigende Erkenntnis zutage gefördert. Von der Verbesserung der Zahngesundheit haben nicht alle Bevölkerungsgruppen im gleichen Maße profitiert. Zu beobachten ist eine zunehmende Schieflage in der Kariesverteilung. Im Jahr 1997 wiesen gut 20 Prozent der 12-Jährigen mehr als 60 Prozent aller Kariesfälle in der Altersgruppe auf. 2005 waren es nur noch gut 10 Prozent der Kinder, die 60 Prozent der Karieslast trugen. Es gibt also eine Risikogruppe, und die Kinder, die ihr zuzurechnen sind, entstammen typischerweise sozial schwachen, bildungsfernen Haushalten und Familien mit Migrationshintergrund. Diese Risikogruppe ist über die Jahre zwar kleiner geworden, aber innerhalb der Gruppe konzentriert sich die verbliebene Krankheitslast immer stärker. Die Karieshäufigkeit ist auch bei den Kindern dieser Gruppe über die Jahre signifikant zurückgegangen, aber eben weitaus weniger stark als beim Durchschnitt. Relativ betrachtet wird die Kluft zwischen ihnen und ihren Altersgenossen größer. Die Ungleichheit nimmt zu.
Fehlendes Wissen, mangelnde Motivation
Natürlich liegt die Frage nahe, ob es innerhalb des Gesundheitssystems Strukturen und Prozesse gibt, die diese Schieflage begünstigen, auch und vor allem durch finanzielle Hürden. Doch das scheint nicht der Fall zu sein. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind in Deutschland beachtliche 99,8 Prozent der Bevölkerung krankenversichert. In der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), über die neun von zehn Bundesbürger abgesichert sind, werden Kinder und Jugendliche beitragsfrei mitversichert und bezahlen keine Praxisgebühr. Sie haben Anspruch auf einen umfangreichen präventionsorientierten zahnmedizinischen Leistungskatalog, der bundesweit wohnortnah in 45.000 Zahnarztpraxen zur Verfügung steht. Er umfasst halbjährliche zahnärztliche Kontrollen und Kariestherapien ohne Zuzahlung. Zudem gibt es schon seit Ende der achtziger Jahre Strategien zur Krankheitsvorbeugung, die auf die zahnmedizinischen Entwicklungsstufen zwischen dem 30. Lebensmonat und dem 18. Lebensjahr abgestimmt sind. Diese erstrecken sich von der Aufklärung der Eltern und Kinder, gesunde Ernährung und Mundhygiene, der Feststellung des individuellen Kariesrisikos bis hin zu Vorsorgemaßnahmen wie der Härtung des Zahnschmelzes durch Fluoride und der Versiegelung von Zahnflächen zum Schutz vor Karies. Kurzum: Das GKV-System stellt als Sachleistung alles zur Verfügung, was für ein zahngesundes Kinderleben nötig ist. Für Eltern, die die Zähne ihrer Kinder gesund erhalten möchten, entstehen keine Kosten. Zusätzlich setzt das Bonusheft der Bundesvereinigung der Kassenzahnärzte durch Vergünstigungen beim Zahnersatz Anreize zum regelmäßigen präventiven Praxisbesuch.
Das Problem liegt also nicht in finanziellen Barrieren oder fehlenden medizinischen Leistungsangeboten. Es liegt im schwach ausgeprägten Problembewusstsein, dem fehlenden Wissen über Gesundheitsangebote und der geringen Motivation und sozialen Kompetenz mancher Eltern und Jugendlichen, diese Angebote abzurufen. Die Schwierigkeit, unter solchen Voraussetzungen Risikogruppen überhaupt zu erreichen, ist aus anderen Bereichen der Sozialpolitik hinlänglich bekannt. Ein Beispiel ist die Diskussion um die Einführung von Bildungsgutscheinen anstelle direkter Transferzahlungen für Kinder. Nachdem das Bundesverfassungsgericht 2010 die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder als verfassungswidrig eingestuft hatte, wollte Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen über diese „Sachleistung“ einen Weg finden, um sozial benachteiligten Kindern Zugang zu Sportvereinen und Musikunterricht, zu Nachhilfe und Museumsbesuchen zu verschaffen. Doch der Wirkungsgrad solcher Instrumente ist enttäuschend. In Berlin wurde schon 2008 ein „Berlinpass“ eingeführt, der auf der gleichen Idee wie der Bildungsgutschein basiert. Doch von den 150.000 Kindern aus Hartz-IV-Familien, die damit kostenlos in einem Sportverein hätten mitmachen können, nutzten nach Recherchen des Spiegel im Herbst 2010 weniger als 2.000 das Angebot.
Ebenso wie der Bildungsgutschein basiert auch das zahnmedizinische Betreuungsangebot in den Praxen auf einer „Pull-Funktion“. Das bedeutet: Es muss von den Betroffenen nachgefragt werden. Wenn diese Nachfrage aber bei den Risikogruppen nur schwach ausgeprägt ist, muss es ergänzende Maßnahmen mit „Push-Funktion“ geben, die die Betroffenen unaufgefordert erreichen. Genau nach diesem Prinzip funktioniert die kollektive Vorbeugeuntersuchung der Zahnärzte. Zahnärztliche Organisationen, Vereine, Gesundheitsämter und Krankenkassen tragen die regional organisierte Gruppenuntersuchung gemeinsam. Zahnärzte und zahnmedizinische Fachkräfte gehen systematisch in Kindergärten und Grundschulen. Sie klären über zahngesunde Ernährung auf, motivieren zur richtigen Zahnpflege, untersuchen die Kinder und weisen darauf hin, wenn es Behandlungsbedarf gibt. Allein in Berlin wurden im Schuljahr 2010/11 über 200.000 Kinder im Rahmen der Gruppenvorbeugung untersucht. Auch Informationsveranstaltungen für Eltern, Fortbildungsangebote für Erzieher und Lehrer sowie Patienteninformationen in anderen Sprachen sind Teil der Bemühungen. Ergänzend gibt es jedes Jahr öffentliche Aktionen im Rahmen eines „Tages der Zahngesundheit“.
Der Aufwand für Gruppen- und Individualvorbeugung in den vergangenen zwanzig Jahren war erheblich. Er hat das Gesundheitsbewusstsein und die Zahngesundheit bei Kindern insgesamt enorm verbessert. Er hat die zahnmedizinische Risikogruppe verkleinert, aber die zunehmende Polarisation trotz einer intelligenten Mischung von Maßnahmen nicht verhindern können. Was aber tun, wenn Eltern ihre Kinder nicht zum Zahnarzt bringen und die Gruppenvorbeugung ins Leere geht, weil die Kinder keine Kita besuchen oder mit dem dort Erlernten in ein Zuhause zurückkehren, wo es nicht einmal für jedes Familienmitglied eine eigene Zahnbürste gibt? Ist die Grenze des sozialpolitisch Möglichen hier erreicht?
Die Antwort lautet: Nein, noch nicht! Es gibt Optionen und damit die Verpflichtung, das Instrumentarium künftig weiter zu verfeinern und mit dem Präventionsgedanken noch früher anzusetzen. Karieskarrieren beginnen im Kleinkindalter. Etwa die Hälfte aller Kariesfälle, die bei der Einschulung festgestellt werden, entstanden bereits in den ersten drei Lebensjahren. Zahnärzteorganisationen fordern deshalb, eine verbliebene Lücke in der Individualvorbeugung zu schließen und Babys schon mit dem Durchbruch des ersten Milchzahnes beim Zahnarzt vorzustellen. In etlichen Bundesländern werden Kinderzahnpässe eingeführt, die den zahnmedizinischen Status der Kinder dokumentieren und dem gelben Heft für die kindlichen Früherkennungsuntersuchungen beigelegt werden können. Ferner gibt es Ansätze, im Umfeld der Risikogruppen präsenter zu werden. So sollen Gynäkologen und Hebammen mit in die Pflicht genommen werden, wenn es um die Sensibilisierung der werdenden Eltern für die Mundgesundheit ihrer Kinder geht. In Berlin und etlichen anderen Regionen konzentriert der zahnärztliche Dienst des Gesundheitsamtes seine knappen Personalressourcen in der Gruppenvorbeugung stärker auf Problemkieze. Das zahnärztliche Personal versucht, vor allem zu den Abholzeiten in den Kitas präsent zu sein, um Kontakt zu den Eltern aufzubauen. Es gibt also noch Spielräume, um die Risikogruppe besser zu erreichen beziehungsweise sie weiter zu verkleinern.
Die Risikogruppe wird nicht verschwinden
Aber diese Spielräume sind begrenzt. Die Risikogruppe wird nicht verschwinden, und das Problem der Kariespolarisation wird bleiben. Denn eine Grundbedingung von Armut ist nicht auszuhebeln: die ungleiche Verteilung von Chancen auf Gesundheit in Abhängigkeit von Schichtzugehörigkeit und Lebensumgebung. Wie drastisch sich diese Chancenungleichheit auch nach Jahren und Jahrzehnten des medizinisch-sozialen Engagements auswirkt, zeigt ein aktueller Vergleich aus der Berliner Gesundheitsberichterstattung 2012 zur Zahngesundheit von Kleinkindern in verschiedenen Berliner Stadtbezirken. Im bürgerlichen Pankow haben dreijährige Kinder durchschnittlich 0,4 Zähne mit Karieserfahrung. In Neukölln liegt der Wert bei 1,4. Epidemiologisch betrachtet liegen zwischen diesen beiden Zahlen Welten.
Dass sich solche Unterschiede nicht vollends nivellieren lassen, hängt mit drei begrenzenden Faktoren zusammen:
Erstens stellt sich über kurz oder lang die Frage, ob in einer an sich schon sehr gut organisierten zahnmedizinischen Betreuung von Kindern der Einsatz weiterer Ressourcen für zusätzliche „Push-Angebote“ noch sinnvoll und vertretbar ist oder ob der Einsatz dieser Ressourcen nicht in anderen Bereichen der Armutsbekämpfung bessere Effekte erzielen könnte. Wirtschaftlich ausgedrückt trifft man auf das Problem wachsender Grenzkosten und entgangenen Grenznutzens.
Zweitens stellt sich die Frage, welche Handlungsoptionen verbleiben, wenn das mehr als ausreichende Gesundheitsangebot für Kinder trotz verfeinerter Instrumentarien von einem Teil der Risikoklientel einfach weiterhin nicht angenommen wird. Kann oder muss dann mit Sanktionen gearbeitet werden? Der Ruf nach sanktionsbewehrten Kontrollmechanismen ist mehr als verständlich, wenn es um die lebensbedrohliche Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern geht, für die es in den letzten Jahren immer wieder erschütternde Beispiele gab. Aber es ist wenig zielführend, Eltern das Kindergeld zu kürzen, wenn sie keinen Kinderzahnpass führen. Alle bisherigen Erfahrungen legen nahe, dass in der Zahnmedizin negative Bestrafungsmechanismen eine geringere Wirkung erzielen als positive Anreizmechanismen, schon weil ihre Durchsetzung wertvolle Ressourcen bindet.
Drittens zeigt sich sogar auf dem eher „harmlosen“ Gebiet der präventiven zahnmedizinischen Betreuung von Kindern ein klassischer Grundkonflikt moderner Gesellschaften zwischen den Freiheitsrechten der Bürger einerseits und der Sozialstaatsverpflichtung andererseits. Zugespitzt ausgedrückt muss man sich die Fragen stellen, ob eine Situation erstrebenswert ist, in der irgendwann die Mundhygieneprüfer vom Gesundheitsamt täglich an Wohnungstüren klopfen.
Es bleibt die Erkenntnis, dass die Förderung der Zahngesundheit von Kindern – wie andere Aspekte der Armutsbekämpfung auch – ihre Grenzen findet an knappen Ressourcen, der zweifelhaften Wirkung von Sanktionen und dem Konflikt zwischen Schutz- und Freiheitsrechten. Es ist noch offen, wie viele Kinder in Bezug auf Zahngesundheit benachteiligt bleiben, aber es ist klar, dass es diese Benachteiligung weiter geben wird. Am Ende bleiben Verlierer.