Vorbild Türkei?

Die Türkische Republik wird zurzeit vielfach als Modell für die arabischen Staaten angepriesen. Doch wie vorbildlich ist die türkische Demokratie überhaupt? Und welche Rolle kann die EU spielen?

Vor den Ländern des Arabischen Frühlings liegt ein Winter der Selbstfindung. Wohin driften Nordafrika und der Nahe Osten? Sorgenvoll blickt der Westen auf Bewegungen wie die Muslimbrüder in Ägypten. Noch ist offen, ob die mehrheitlich sunnitischen Gesellschaften tatsächlich demokratische Strukturen etablieren werden. Gelungen ist das bisher nur in der Türkei, weshalb es naheliegt, sie als Vorbild zu betrachten. Doch ist der türkische Weg wirklich die Lösung?

Die Geschichte der türkischen Demokratie beginnt 1923, als General Mustafa Kemal Atatürk die Überbleibsel des Osmanischen Reiches zum Rumpfstaat Türkei vereinte. Die obersten Ziele des Staatsgründers waren Entwicklung und Modernisierung. Erreichen wollte Atatürk sie durch jene Ideologie, die man heute als Kemalismus bezeichnet. In der ethnisch und konfessionell heterogenen Türkei übernahmen Nationalismus und Laizismus eine identitätsstiftende Funktion und wurden mit der Verbannung des Islam aus dem öffentlichen Leben zu einer Art Ersatzreligion.

Dabei waren die Kemalisten von Anfang an in der Minderheit. Und bei einem großen Teil der Bevölkerung schlug der Kemalismus nie Wurzeln. Denn sein Nationalismus verneinte ethnische Diversität, sein Laizismus unterstellte Religionsausübung und -inhalte der staatlichen Kontrolle. Trotzdem erhielten die Kemalisten auch nach der Einführung des Mehrparteiensystems 1946 ihre hegemoniale Stellung aufrecht. Denn waren sie auch zahlenmäßig – und damit politisch – unterlegen, so besetzten die Kemalisten in einem staatszentrierten System die wichtigsten Schaltstellen der Macht: die gehobene Bürokratie, die hohe Richterschaft und die Führungspositionen der Streitkräfte.

Dieser kemalistischen, mehrheitlich städtischen Elite stand eine rurale, anatolische Schicht gegenüber, die weder politischen noch wirtschaftlichen Einfluss hatte. Aufkeimende islamistische, kurdische oder sozialistische Bewegungen wurden mit Verweis auf die kemalistischen Verfassungsprinzipien ausgeschaltet: In Phasen der wirtschaftlichen und politischen Instabilität griff das Militär ins politische Geschehen ein und verdrängte zwischen 1960 und 1997 vier gewählte Regierungen durch Putsch oder Putschdrohung von der Macht. Das Verfassungsgericht verbot seit 1960 mehr als 20 Parteien. Denn die bis heute gültige Verfassung von 1983, unter der Ägide des Militärs verfasst, konstituiert ein autoritäres System, das den Staat vor seinen Bürgern schützt. Dieses System und vor allem die Macht und Autonomie des Militärs standen einer echten Demokratisierung der Republik Türkei lang im Wege.

Entsprechend langwierig war auch der Machtwechsel. Was dem ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi im August 2012 offenbar auf einen Schlag gelang, nämlich das Militär unter zivile Kontrolle zu stellen, dauerte in der Türkei an die zehn Jahre. Den Beginn der Machtwende markierten der Kandidatenstatus für eine EU-Mitgliedschaft im Jahr 1999 und der Wahlsieg der AKP 2002. Auf den Druck der EU hin gelangen der Partei Erdoğans in den Folgejahren weitreichende demokratische und rechtsstaatliche Reformen und Verfassungsänderungen. Dabei betonten die Führungsfiguren der AKP trotz ihrer privaten Frömmigkeit zu jeder Zeit, die kemalistischen Grundsätze anzuerkennen und einzuhalten. Die AKP griff also – im Gegensatz zu islamistischen Strömungen in den neunziger Jahren – den Kemalismus nicht in seinen Grundfesten an, sie transformierte ihn.

Wie die AKP den Kemalismus herausforderte

So bereicherte sie die gesellschaftliche Diskussion über die Grundsätze des Staatsgründers – vor allem über den Laizismus – um eine alternative Deutung. Beispielsweise versuchte die AKP, obwohl sie die Trennung von Kirche und Staat grundsätzlich akzeptierte, das Kopftuchverbot an den Universitäten aufzuheben. Weite Teile der Gesellschaft teilten diese Auffassung, was die AKP zu einem ernst zu nehmenden Konkurrenten um die Deutungsmacht im Lande aufsteigen ließ. Daneben waren es vor allem der wirtschaftliche Erfolg sowie die innenpolitische Legitimation der angestrebten EU-Mitgliedschaft, die der AKP den Rücken stärkten. Gleichzeitig schwand mit den politischen und wirtschaftlichen Krisen auch die Autorität des Militärs, das sich stets als Hüter der Republik und einziger Garant der öffentlichen Ordnung inszeniert hatte. Auf diesem Weg gelang es der AKP, das Militär nach und nach durch demokratische Reformen der zivilen Politik unterzuordnen: Militärische Vertreter wurden aus politischen Gremien gedrängt, die Befehlsmacht des Verteidigungsministers hergestellt, die Militärgerichtsbarkeit (vor allem gegenüber Zivilen) stark eingeschränkt und das Budget der Streitkräfte (zumindest formal) der zivilen Kontrolle unterstellt. Erdoğan bewies, dass politische und wirtschaftliche Stabilität auch ohne das Monopol der Streitkräfte möglich sind und nahm dem Militär mit der Gelegenheit zur Intervention seine Macht.

Wohlwollende Stimmen meinen, die Türkei habe in den vergangenen zehn Jahren größere Schritte in Richtung Demokratie gemacht als in den sechzig Jahren zuvor. Und in der Tat kann die AKP nicht nur mit wirtschaftlichen, sondern auch mit gesellschaftlichen und rechtsstaatlichen Fortschritten aufwarten. Die Tabus der Militärhegemonie bröckeln. Über die Unterdrückung der Kurden wird heute viel offener gesprochen als früher; auch sind leichte Verbesserungen in Bezug auf die gesellschaftliche Öffnung gegenüber Minderheiten und die Meinungsfreiheit anzuerkennen. Kann man der AKP nach zehn Jahren an der Macht also eine positive Bilanz ausstellen? Gewiss hat die AKP auf den ersten Blick viel erreicht, was den Staaten des Arabischen Frühlings als Vorbild dienen könnte. Doch so sehr sie sich auch von ihren kemalistischen Widersachern unterscheidet – den Hang zum Autoritären hat sie von ihnen übernommen.

Die türkische Kunst- und Kulturszene beklagt den Druck der islamisch geprägten Verwaltung. Auffällig oft prozessieren die Staatsanwälte gegen Angeklagte aus dem militärischen, kurdischen oder liberalen Milieu. Von Pressefreiheit im westlichen Sinne kann nach wie vor keine Rede sein. Kurzum, Kritik ist auch im Lande Erdoğans nicht gern gehört. Das zeigt auch der Umgang der AKP mit der demokratischen Konkurrenz. Die Partei wolle die Gewaltenteilung abschaffen und die Unabhängigkeit der Justiz beenden, so lautete der Vorwurf, als im Jahr 2010 die Auswahl der Verfassungsrichter durch ein Referendum geändert wurde. Vormals wurden sie aus der hohen Richterschaft selbst heraus vorgeschlagen und dann vom – traditionell kemalistisch gesinnten – Präsidenten ernannt. Heute werden die Mitglieder des Verfassungsgerichts zu Teilen vom Parlament gewählt.

Diese Maßnahme war besonders brisant, weil das Verfassungsgericht nach der Entmachtung des Militärs der AKP als letztes Bollwerk der Kemalisten die Stirn bot. Vor allem auch in den Jahren 2007 und 2008 hatte das Gericht die Regierungspolitik in diversen Entscheidungen zurückgewiesen. Der Machtkampf gipfelte 2008 in einem Verbotsverfahren gegen die Regierungspartei. Vor diesem Hintergrund erschien die Auswahl der Verfassungsrichter aus dem AKP-dominierten Parlament heraus vielen als Puzzlestück eines größeren Plans, Widersacher auszuschalten und sämtliche Staatsmacht unter Regierungskontrolle zu bringen. Denn obwohl gegen eine indirekte demokratische Legitimierung der Verfassungsrichter zunächst nichts einzuwenden ist, bleibt im Falle der Türkei ein unangenehmer Beigeschmack: Ein Richter kann im dritten Wahlgang mit einfacher Mehrheit gewählt werden, wenn er vorher die erforderliche Mehrheit verpasst.

Die Kritik an der AKP steht im engen Zusammenhang mit den Ängsten vor einer „Sunnitisierung“ der türkischen Gesellschaft. Zwar hat sich der noch immer grassierende Vorwurf, die AKP verfolge heimlich eine islamistische Agenda, als haltlos erwiesen. Jedoch ist die Führung der AKP gemäßigter als ihre Basis. Abseits der großen Städte werden Straßencafés zurückgedrängt und der Alkoholausschank beschränkt. Die Menschen bangen um ihren liberalen Lebensstil. Sie fürchten sich vor einer Mehrheitsdiktatur, die jegliche demokratische Kontrolle und gesellschaftliche Kritik ausschaltet.

Der Fall AKP zeigt also, dass das Einhalten demokratischer Spielregeln noch keine Demokratie ausmacht. Die stets verfassungstreue Regierung hat nur dort die Demokratie gestärkt, wo mit ihr auch die eigene Macht wuchs. Wenn die eigenen Kompetenzen und Einflussmöglichkeiten bedroht sind, verhält sich die Partei hingegen zögerlich. So ist die Absenkung der Zehn-Prozent-Klausel überfällig. Sie hat in einigen Wahlperioden dazu geführt, dass fast die Hälfte der abgegebenen Stimmen keinen Niederschlag im Parlament fanden – aber eben auch zu komfortablen Mehrheiten für die AKP. Auch die weitere Verbesserung der Pressefreiheit und der Meinungs- und Redefreiheit zählen nicht zu den dringlichsten Zielen der AKP.

Noch immer fehlt in der türkischen Republik ein freier gesellschaftlicher Diskurs ohne Tabus und Angst vor rechtlicher Verfolgung. Dies ist bis heute das größte Hindernis für die Konsolidierung der türkischen Demokratie. Die Zivilgesellschaft, die lange unterdrückt und im Antagonismus von Kemalisten und Islamisten gefangen war, muss sich von diesen Banden und Restriktionen befreien. Dringend notwendig ist ein Wettbewerb der Parteien, damit sich ernsthafte Alternativen zur AKP herausbilden. Minderheiten sollten echte Anerkennung erfahren und nicht nur gesellschaftlich, sondern auch politisch partizipieren. Insgesamt muss die AKP von ihrem Anspruch abrücken, aus dem Rückhalt einer stabilen Mehrheit der Wählerschaft – möge sie auch sehr heterogen sein – folge die Repräsentation der Nation als Ganzes. Nur über Dialog und Pluralismus kann die türkische Demokratie wachsen.

Die EU hat Glaubwürdigkeit eingebüßt

Vor diesen Problemen werden auch die Staaten des Arabischen Frühlings stehen, die den Schritt von autoritärer Herrschaft zu demokratischen Strukturen versuchen. Der arabische Raum hat ein Defizit in Sachen Meinungsfreiheit aufzuholen, an dem die Türkei nach fast neunzig Jahren der Republik noch heute arbeitet. Die fehlende demokratische Kultur und die geschwächte Zivilgesellschaft müssen Zeit und Raum haben, sich zu entwickeln und zu entfalten.

Der türkische Weg, den demokratischen Wählerwillen mit säkularen Grundsätzen zu vereinen, ist also kein einwandfreies Vorbild. Symbolisiert werden die Defizite der türkischen Demokratie durch die Schwierigkeiten im aktuellen Prozess der Verfassungsfindung. Deutlich treten hier die Konfliktlinien zwischen konträren Ideologien, Minderheiten und Mehrheitsgesellschaft, Religiösen und Säkularen hervor. Und die Gräben sind tief. So hat die Türkei eine der wichtigsten und zugleich schwierigsten Aufgaben, die vor den revolutionären arabischen Ländern liegen, selbst noch nicht bewältigt: die Schaffung einer zivilen Verfassung, die integrative Kraft entfaltet, indem sie die gemeinsamen Werte der Bevölkerung symbolisiert.

Eine wichtige Triebfeder der demokratischen Entwicklung ist in dem Maße erlahmt, wie die EU-Beitrittsverhandlungen zum Erliegen gekommen sind. Der Reformprozess in der Türkei stockt, in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit sind sogar Rückschritte zu beobachten. Kein Zweifel: Der Druck der EU ist weiterhin notwendig. Von selbst wird die AKP ihre bequeme Machtstellung kaum aufgeben.

Die Sogwirkung der EU auf die Türken aber hat nachgelassen, auch wenn noch heute eine Mehrheit der Türken den Beitritt zur EU befürwortet. Allein es fehlt der Glaube daran: Nur noch ein Viertel der Bevölkerung geht davon aus, dass das Land in den kommenden zehn Jahren EU-Mitglied wird. Schließlich hat die EU signalisiert, dass Partikularinteressen und die Gretchenfrage der Religionszugehörigkeit wichtiger sind als konkrete Ergebnisse. So büßt die EU an Glaubwürdigkeit ein und verliert ihr einziges Druckmittel. Die Türken reagieren auf die ständige, unterschwellige Ablehnung, die ihnen aus der EU entgegenschlägt, mit (gekränktem) nationalem Stolz. Zugleich hat die wachsende wirtschaftliche und politische Bedeutung in der Region sowie der Zuspruch aus den arabischen Ländern zu einem wachsenden Selbstbewusstsein der neuen Regionalmacht Türkei geführt. Oft profiliert sich diese durch Kritik an Israel oder den Vereinigten Staaten, in geringerem Maße auch an Europa.

Mit ihrer zögerlichen und uneindeutigen Haltung gefährdet die EU nicht nur ihren Einfluss auf die türkische Innenpolitik, sondern auch eigene Interessen. Denn die Weltpolitik ist multipolar geworden. Das wachsende wirtschaftliche Gewicht der ehemaligen Schwellenländer schlägt sich auch politisch nieder. In diesem neuen internationalen Pluralismus ist Europa auf Verbündete angewiesen, gerade in den Ländern der arabischen Welt, in denen die Skepsis gegenüber dem Westen noch immer groß ist. Die neue Stärke der Türkei und ihre Ankerfunktion in der Region sind für die EU deshalb von großer Bedeutung. Strebt sie eine enge Zusammenarbeit mit der Regierung Erdoğan an, sollte sie ihr ehrlich und auf Augenhöhe begegnen. Sie macht es sich jedenfalls zu einfach, wenn sie den türkischen Weg als Vorbild propagiert, bei der Unterstützung der arabischen Selbstfindung aber anderen die Bühne überlässt.


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