Europa braucht mehr Demokratie
D erzeit wird – wieder einmal weitgehend hinter verschlossenen Türen – die zukünftige Wirtschafts- und Finanzverfassung der Europäischen Union ausgearbeitet. Bei allem Nachdenken darüber, wie die EU in Zukunft organisiert sein sollte, wird zu oft vergessen, wer diese Frage eigentlich zu entscheiden hätte. Nach Auffassung des Vereins „Mehr Demokratie“ sind das die Bürgerinnen und Bürger beziehungsweise die von ihnen direkt dafür beauftragten Vertreter. Doch stattdessen verschiebt sich die Macht immer mehr – von Parlamenten hin zu Regierungen, von kleinen zu großen Ländern, von demokratisch legitimierten Akteuren zu Technokraten und Lobbyisten. Daher ist „Mehr Demokratie“ vor das Bundesverfassungsgericht gezogen, um eine Volksabstimmung über den Euro-Rettungsschirm und den Fiskalvertrag einzuklagen. Der Klage haben sich mehr als 37.000 Bürger angeschlossen. Damit handelt es sich um die bisher größte Verfassungsbeschwerde in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Mit diesen unkündbaren Verträgen werden Institutionen außerhalb der EU geschaffen, die einer deutlich schwächeren demokratischen Kontrolle unterliegen. Wir meinen auch, dass durch ESM- und Fiskalvertrag bestehende EU-Verträge umgangen werden, da die Pflicht, bei wesentlichen Vertragsänderungen einen Konvent einzuberufen, ignoriert wird (ordentliches Vertragsänderungsverfahren nach Art. 48 EUV). Dabei wäre eine breite öffentliche Diskussion über die Demokratie in Europa wünschenswerter denn je, schließlich krankt die EU bereits seit Jahrzehnten an einem Demokratiedefizit. „Mehr Demokratie“ fordert deshalb die Einsetzung eines Konvents, dessen Mitglieder aus den Ländern europaweit und am selben Tag direkt gewählt würden.
Ein direkt gewählter Konvent soll nach unseren Vorstellungen Vorschläge über die zukünftige Verfasstheit der Europäischen Union und die Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion ausarbeiten. Das Ergebnis würde allen Bürgern der EU in Referenden vorgelegt. Ein solches Verfahren gewährleistet, dass die zukünftige Gestaltung der EU von direkt gewählten Repräsentanten ausgeht und letztlich von der Zustimmung der europäischen Völker abhängt. Die Identifikation mit der Europäischen Union würde sich stark erhöhen. Und durch die bereits frühe und umfassende Bürgersouveränität vergrößert sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass ein mehrheitsfähiger Vorschlag entstehen kann.
Noch ist die EU ein Eldorado für Lobbyisten
Nach unseren Vorschlägen einer reformierten EU wäre die föderale Aufteilung von Zuständigkeiten von entscheidender Bedeutung. Es sollte klar geregelt werden, welche Kompetenzen auf europäischer Ebene ausgeübt werden müssen und welche in der Zuständigkeit der Staaten verbleiben. Die Festlegung der Kompetenzverteilung würde dem Konvent obliegen, der die zukünftige Verfasstheit der Union ausarbeitet. Es wäre aus unserer Sicht wichtig und sinnvoll, eine deutliche Dezentralisierung von Zuständigkeiten vorzunehmen und die Grenzen der EU klar zu definieren. So wäre ganz im Sinne des Subsidiaritätsgedankens sichergestellt, dass Kompetenzen immer von der kleinstmöglichen Einheit wahrgenommen werden und auch innerstaatliche föderale Ebenen weiter ausreichende Befugnisse hätten. Die Europäische Union sollte sich auf die Lösung wirklich wichtiger grenzüberschreitender Probleme beschränken.
Eine direkte Mitbestimmungsmöglichkeit für die Bürger Europas besteht derzeit nur in Form der Europäischen Bürgerinitiative (EBI). Mit ihr können eine Million Europäer die EU-Kommission auffordern, sich mit einem Thema zu befassen und eine Gesetzesinitiative zu ergreifen. Verbindliche direkt-demokratische Verfahren existieren in der EU jedoch nicht. Außerdem kann die EBI nicht auf Vertragsänderungen gerichtet sein. Da aber direktdemokratische Verfahren die Letztkontrolle der Bürger sichern, halten wir sie für unverzichtbar. Zumal die EU mittlerweile sehr viele Kompetenzen an sich gezogen hat und dementsprechend viele EU-Verordnungen und EU-Richtlinien erlässt. So gingen etwa 80 Prozent der Umweltbundesgesetze aus der 15. Wahlperiode des Bundestags auf die EU zurück.
Gerade auf Ebene der EU, wo es weiterhin an einer wirklichen europäischen Öffentlichkeit fehlt, wenig Transparenz herrscht und die ein Eldorado für Lobbyisten darstellt, spricht vieles für direktdemokratische Verfahren. Außerdem stellen die Wahlen zum Europäischen Parlament keine Richtungsentscheidung dar, weil aus der Wahl keine Regierung hervorgeht, die einen Politikwechsel vornehmen könnte. Deshalb schlagen wir die Einführung eines Initiativ- und Beschlussrechts sowie fakultativer und obligatorischer Referenden vor:
1. Die Volksgesetzgebung bezeichnet ein Initiativ- und Beschlussrecht, mit dem Gesetzesvorlagen und einzelne Vertragsänderungen direkt zur Abstimmung gestellt und verbindlich beschlossen werden können. Die Bürger treten als gesetzgebende Instanz gleichberechtigt neben die anderen gesetzgebenden Institutionen. Dieses Initiativrecht verläuft dreistufig, es beginnt also mit einer EU-Bürgerinitiative, auf die bei Nichteinigung im Parlament gegebenenfalls ein EU-Bürgerbegehren gestartet werden kann, welches in einen EU-Bürgerentscheid mündet. Die bestehende EBI sollte mittelfristig zu einem solchen Instrument ausgebaut werden.
2. Das Fakultative Referendum ist ein Widerspruchsrecht, mit dem gegebenenfalls die Bürger innerhalb einer Einspruchsfrist eine Volksabstimmung über ein verabschiedetes EU- Gesetz einfordern können.
3. Ein Obligatorisches Referendum bezeichnet eine verpflichtend vorgesehene Volksabstimmung bei Änderungen der Gemeinschaftsverträge. Um die Gefahr einzuschränken, dass Minderheiten und kleinere EU-Staaten überstimmt werden, schlagen wir vor, ein föderales Element in die Abstimmungen aufzunehmen. Demnach muss für einen Erfolg in der Abstimmung nicht nur die Mehrheit der Bürger erreicht werden, sondern auch die Mehrheit der Abstimmenden in der Mehrheit aller EU-Staaten („doppelte Mehrheit“).
Für ein parlamentarisches Zweikammersystem
Das Demokratiedefizit der EU kann durch direktdemokratische Elemente gelindert, wenngleich nicht geheilt werden. Dazu bedarf es weiterer institutioneller Reformen, die im Folgenden vorgestellt werden. Sie stellen bislang aber noch keine beschlossenen Positionen des Vereins dar. Neben der Einführung verbindlicher direktdemokratischer Mitbestimmungsmöglichkeiten schlagen wir eine Weiterentwicklung der bestehenden EU-Institutionen vor, in dessen Zentrum ein parlamentarisches Zweikammersystem steht. Die eine Kammer wäre das Europäische Parlament, die andere Kammer eine Staatenkammer.
Das Europaparlament (erste Kammer) verträte die Interessen der Bürger auf der zentralen Ebene. Es nähme ihre Interessen und die Interessen der gesamten EU wahr und sollte das demokratische Prinzip der Gleichheit aller Bürger verkörpern. Das Europaparlament würde direkt von den Bürgern gewählt. Die Wahl sollte auf Basis eines Verhältniswahlrechts stattfinden, für das in allen Staaten die gleichen Verfahrensregeln gelten. Gleiche Verfahrensregeln sind wichtig, da die Gleichheit der Stimme nur bei einem gleichen Wahlverfahren faktisch gewährleistet ist.
Das Europaparlament sollte ein Initiativrecht für alle Gesetzesvorlagen haben und gemeinsam mit der zweiten Kammer, der Staatenkammer, alle Gesetze der EU erlassen. Das bisher herrschende Inititiativmonopol der EU-Kommission – ein vordemokratischer Zustand – würde damit abgeschafft. Das Europaparlament würde weiterhin über das volle Haushaltsrecht verfügen und den Haushalt, der von der Kommission erstellt wird, beschließen.
Eine Kammer der nationalen Parlamente
Die Staatenkammer (zweite Kammer) verträte die Interessen der Mitgliedsstaaten der Union und würde den bisherigen Ministerrat ersetzen. Anders als der Ministerrat sollte die Kammer aber nicht aus Vertretern der nationalen Regierungen bestehen. Denn dies führt zu einer Dominanz der exekutiven Institutionen in der EU und zu einem Verlust an demokratischer Kontrolle. Die Regierungsvertreter der Mitgliedsstaaten sollten ihren nationalen Parlamenten nicht auf dem Umweg über die EU-Gesetzgebung Kompetenzen entziehen können. Die Staatenkammer wäre daher eine Kammer der nationalen Parlamente. Die Vertreter dieser Kammer würden von den nationalen Parlamenten aus ihrer Mitte durch qualifizierte Mehrheit gewählt. Die Staatenkammer sollte gemeinsam mit dem Parlament die gesetzgebende Gewalt ausüben. Eine wichtige Aufgabe der Staatenkammer wäre die Kontrolle der Kompetenzverteilung zwischen der Ebene der Nationalstaaten und der Unionsebene. Sie sollte Gesetze verhindern, die das Prinzip der Subsidiarität und der Dezentralität zu verletzen drohen und damit die Zuständigkeiten der nationalen Parlamente einschränken würden.
Für die Europäische Kommission schlagen wir eine klare Aufgabenbegrenzung vor. Die Kommission sollte als das durchführende Verwaltungsorgan der EU fungieren und für die Umsetzung der EU-Maßnahmen sowie für die Verwaltung des Haushalts zuständig sein.
Durch die Umwandlung des Ministerrats in eine Staatenkammer verlören die staatlichen Regierungen ihren unmittelbaren Einfluss auf die Gesetzgebung und die Verträge. Trotzdem würde der Europäische Rat ein wichtiges Forum für die Koordination der nationalen Politik und der Politikentwicklung auf EU-Ebene bleiben. Auf europäischer Ebene sollte er etwa über ein Initiativrecht für Gesetzesvorlagen die Möglichkeit zur Politikgestaltung haben.
Als outputorientiertes Elitenprojekt bleibt der EU der Weg zu einer politischen Identität Europas und zum Aufbau einer europäischen Öffentlichkeit versperrt. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte: „Stirbt der Euro, stirbt Europa.“ Wir meinen: Stirbt die Demokratie, stirbt die Einbindung der Bürgerinnen und Bürger, hat auch Europa keine Zukunft.