Attraktiver werden und in der Gesellschaft verankert sein
1 Wenn nach der parlamentarischen Sommerpause im September die Tage wieder kürzer werden und der Parlamentsbetrieb wieder in Gang kommt, beginnt die zweite Halbzeit dieser Legislaturperiode. Die amtierende Koalition feiert „Bergfest“, aber zu feiern gibt es nichts, denn eine Verlängerung dieser politischen Mesalliance über 2013 hinaus scheint nach Meinung aller ernst zu nehmenden Beobachter ausgeschlossen.
Doch wie steht die SPD zwei Jahre nach der dramatischen Wahlniederlage vom September 2009 und dem darauf folgenden Aufbruch in Dresden da? Die größte Gefahr nach der verlorenen Bundestagswahl 2009 bestand darin, in Dauerstreit über die Ursachen der Niederlage und den künftigen Kurs zu verfallen und damit politischen Gestaltungswillen dauerhaft zu verlieren.
2 Wir haben uns nicht in internen Streitereien aufgezehrt, sondern gemeinsam die Wahlniederlage aufgearbeitet, ohne einander zu verletzen. Zugleich haben wir unsere Politik in zentralen Feldern überprüft: beim Afghanistan-Einsatz, in der Arbeitsmarktpolitik und bei Hartz IV, in Bezug auf die Rente und die Rentenübergänge und was die Lehren aus der Krise und Zügel für die Finanzmärkte angeht. Wir haben inhaltliche Alternativen aufgezeigt und zugleich in wesentlichen Fragen wie beim Afghanistan-Einsatz mit unserer klaren Abzugsperspektive den Kurs vorgegeben, auf den die Bundesregierung eingeschwenkt ist.
Wir haben die Zusage von Dresden mit Leben erfüllt, eine neue Debatten- und Entscheidungskultur zu beginnen. Wir haben die Partei mitgenommen und zu Wort kommen lassen, mit der Ortsvereinsbefragung, mit Unterbezirks-Vorsitzendenkonferenzen, einem jährlichen Arbeitsparteitag und dem Kommunalbeirat. Und wir haben begonnen, die SPD zu erneuern. Eine lebendige und offene Partei braucht engagierte und überzeugte Mitglieder, deren Rechte wir stärken wollen. Wir müssen attraktiver werden, damit mehr Menschen bei uns einsteigen: Durch mehr und neue Angebote, mitzureden und mitzuentscheiden. Und dazu müssen wir in der Gesellschaft verankert sein. Darum wollen wir auch die, die sich ein festes Engagement in der SPD nicht oder noch nicht vorstellen können, ansprechen und an uns binden. Damit aus Interessierten Mitglieder werden!
Es ist uns auch gelungen, neue Bündnisse mit den Bürgerinnen und Bürgern zu schließen: in den Zukunftswerkstätten oder bei gesellschaftlichen Bündnissen für eine Atompolitik und Finanztransaktionssteuer. Wir haben die Alltagstauglichkeit unserer Politik immer wieder neu geprüft, zum Beispiel bei unseren Kampagnen wie den Praxistagen der Abgeordneten, bei neuen Debattenforen im Internet oder bei einer neuen Besucherarbeit im Willy-Brandt-Haus.
Die auf diese Weise neu gewachsenen „Nervenenden“ in die Gesellschaft haben wir genutzt, um die Lebensrealität unserer Mitbürger wieder besser kennenzulernen. Wir wissen um die Probleme unseres Landes und darum, wie die Menschen sie wahrnehmen: Der Wirtschaftsaufschwung nutzt vor allem den Besserverdienenden – den Geringverdienern bringt er weder mehr Geld noch mehr Sicherheit. Die Entwertung von Arbeit durch Dumpinglöhne hält unvermindert an. Gäbe es wirklich einen Facharbeitermangel, müssten die Löhne drastisch steigen. Auch deshalb brauchen wir endlich den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Die Armut in unserem Land nimmt zu, vor allem die Altersarmut. Die Unterfinanzierung der Bildung ist eines der größten Probleme. Bund, Länder und Kommunen brauchen mehr Geld, wenn wir bei der Bildung Weltspitze werden wollen. Die Gesundheitskosten steigen ungebremst, aber die Qualität der Leistungen für gesetzlich Versicherte nimmt nicht im gleichen Umfang zu. Mehr und mehr Versicherte sorgen sich, ob Gesundheit für sie bezahlbar bleibt. Und unser Staat ist zu hoch verschuldet. Wir dürfen die Handlungsspielräume künftiger Generationen nicht weiter einengen.
Auf all diesen Problemfeldern sind sozialdemokratische Antworten gefordert. Wir wollen dafür kämpfen, dass allen Menschen wieder die Chance eröffnet wird, einen höheren Lebensstandard, mehr soziale Sicherheit und individuelle Selbstbestimmung zu erreichen. Gesellschaftlicher Fortschritt muss also einen „gefühlten“ Mehrwert für alle haben: nämlich in Form von mehr Selbstbestimmung, mehr Sicherheit, mehr Gerechtigkeit, mehr Solidarität, mehr demokratischer Teilhabe und damit mehr Lebensqualität. Das setzt einen Gestaltungsanspruch der Politik und zugleich Gestaltungsmut durch uns voraus. Millionen Menschen wollen eine Gesellschaft, in der das Wir mehr zählt als das Ich. Diese Menschen sind auf der Suche nach Gemeinschaft, und sie sind dabei unsere natürlichen Verbündeten. Es lohnt, sie anzusprechen und für unsere Arbeit zu gewinnen. Das muss auch unser Ziel für die zweite Hälfte der Legislaturperiode sein. Damit dürfen wir nicht erst 2013 beginnen.
3 Gewiss: Anlass zu falscher Zufriedenheit besteht nicht. Die SPD hat – zumindest demoskopisch – noch nicht zu alter Stärke zurückgefunden. Aber die gute Nachricht ist: Keine der zwei Jahre alten Prognosen der Presse und des politischen Gegners ist eingetreten: Die SPD ist nicht in alte Oppositionsreflexe zurückgefallen, sondern hat verantwortliche und innovative Konzepte vorgelegt. Wir stellen heute mit Hannelore Kraft und Olaf Scholz zwei Länderchefs mehr als 2009, regieren in Baden-Württemberg mit und haben unsere Regierungsposition in Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Bremen behauptet. Und: Rot-Grün hat derzeit – anders als 2009 – wieder eine echte Mehrheitsoption auf Bundesebene. Seit mehr als einem Jahr liegen SPD und Grüne weit vor Union und FDP.
Natürlich liegt vor uns noch viel Arbeit. Aber wir sind erheblich weitergekommen, als wir selbst und sämtliche Beobachter es für möglich gehalten haben. Und vor allem: Wir haben erfahren, dass sich beharrliche Arbeit lohnt, dass die Offenheit für sozialdemokratische Antworten zunimmt. Mehr und mehr Bürger trauen uns zu, unser Land 2013 besser zu regieren: solider, aber vor allem nachhaltiger und gerechter. Das ist eine gute Ausgangslage für die zweite Halbzeit. Und die wollen wir nutzen. «