Die Reformpartei
Deutschland 2015 – das ist ein Land, das von den Reformen der Vergangenheit profitiert, ein Land, das die Massenarbeitslosigkeit erfolgreich bekämpft hat, ein Land mit Rekordbeschäftigung, in dem weit mehr als 40 Millionen Menschen Arbeit haben und mehr als 30 Millionen davon sozialversichert beschäftigt sind. Das muss auch die Opposition anerkennen, wenn sie denn nicht ewig die Schlachten von gestern nachstellen will.
Um Himmels willen jetzt keine deutsche Arroganz!
Deutschland 2015 – das ist aber zugleich ein Land, das sich davor hüten sollte, arrogant mit dem Finger auf andere Europäer zu zeigen, wenn es um aktuelle Probleme geht. Denn es ist dieses Land, wo die Energiepreise zu hoch und die Investitionen zu gering sind, in dem schon lange kein bedeutender neuer Produktionsstandort mehr errichtet wurde. Es ist dieses Land, das bei wichtigen Technologien der digitalen Revolution Mühe hat, mit dem Tempo des Fortschritts mitzuhalten, und das nicht überall das dafür notwendige schnelle Internet bereitstellt. Es ist dieses Land, das einen gespaltenen Arbeitsmarkt hat, auf dem Einwanderer, Frauen, Alleinerziehende und alle Menschen, die für ihre Familie da sein wollen, das Nachsehen haben, in dem der Niedriglohnsektor zu groß ist und der Wert geleisteter Arbeit nicht ausreichend gewürdigt wird. Es ist nicht zuletzt dieses Land, in dem die Bildungschancen nach wie vor so ungleich verteilt sind, dass nicht Talent und Leistung junger Menschen deren Zukunft bestimmen, sondern ihre soziale Herkunft. Diese Herausforderungen muss eine Regierung begreifen, die ihrer Verantwortung gerecht werden will.
Zufriedenheit ist also fehl am Platz. Das gilt in dramatischer Weise auch für die internationalen Krisen, die sich im vergangenen Jahr verschärft haben und uns verdeutlichen, dass Deutschland in einer Welt neuer Gefahren keine Insel der Seligen ist. Nicht nur die Konfliktherde im Nahen und Mittleren Osten reichen bis Europa. Millionen von Menschen sind auf der Flucht, und viele suchen in Deutschland Sicherheit, die wir garantieren müssen. Auch und vor allem ist es die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen, die in längst überwunden geglaubter Weise die europäische Friedensordnung infrage stellt. Die russische Führung hat mit der gewaltsamen Annexion der Krim und der militärischen Infiltration der Ostukraine das Völkerrecht gebrochen. Das fordert jeden heraus, der die Werte der Demokratie nicht preiszugeben bereit ist – ob Regierung oder Opposition.
Die im westlichen Bündnis einmütig beschlossenen Sanktionen sind eine angemessene und verantwortungsbewusste Reaktion. Bequem machen dürfen wir es uns in dieser Lage jedoch nicht, denn Konfrontation und Eskalation ziehen rasch weitere Kreise. Für eine Zukunft in Sicherheit und Frieden brauchen wir heute neue politische Initiativen der Entspannung. Wir brauchen nicht zuletzt neue Initiativen für den wirtschaftlichen Erfolg und den politischen Zusammenhalt Europas – besonders in seinem Kern, der Währungsunion, die noch längst nicht aus der Krise von Wachstumsschwäche und Massenarbeitslosigkeit herausgefunden hat.
Die nächsten Jahre werden die Welt mit Wucht verändern
Die politische Debatte in Deutschland benötigt deshalb neue Impulse. Die Regierung muss jeden Tag ihrer Verantwortung gerecht werden. Darüber hinaus braucht unser Land aber ein Zukunftsprogramm, das den eng gewordenen politischen Horizont wieder öffnet und Perspektiven dafür aufzeigt, wo wir in zehn Jahren sein wollen. Das ist die Aufgabe der Sozialdemokratie.
Die nächsten Jahre und Jahrzehnte werden die Welt, wie wir sie kennen, mit großer Wucht verändern. Die digitale Revolution wird unsere Gesellschaft in historischem Ausmaß prägen und sämtliche Lebensbereiche betreffen: Arbeit und Wirtschaft, Bildung und Mobilität, Kommunikation und Medizin. Das bietet für unser Land enorme Chancen. Gute neue Arbeitsplätze, eine zukunftsfähige Wirtschaft und mehr Demokratie sind möglich – wenn wir die Risiken für die digitale Selbstbestimmung erkennen und eine politisch legitimierte Ordnung der Datenökonomie entwerfen.
In unserer Gesellschaft mit ihrer niedrigen Geburtenrate und ihrer hohen Lebenserwartung müssen wir zudem die Menschen im Alter zwischen 30 und 50 Jahren stärken. Das wirtschafts- und gesellschaftspolitische Programm der Zukunft muss ein Programm für die breite Arbeitnehmermitte sein. Diese Menschen einer „Generation Hochleistung“ bringen vollen Einsatz im Beruf, erziehen ihre Kinder und pflegen nicht selten auch noch ihre Eltern. Sie halten dieses Land am Laufen, nicht zuletzt als Abgaben- und Steuerzahler. Gleichzeitig stehen sie unter dem Stress der Mehrfachbelastung aus Job, Familie, „Selbstoptimierung“ und Zeitmangel. Sie wollen, dass ihre Kinder gute Perspektiven für die Zukunft haben und dass ihr Wohlstand sicher ist. Die SPD muss dieser „gehetzten“ Generation eine politische Stimme geben.
Den Titel der »Reformpartei« tragen wir mit Stolz
Eine immer stärker globalisierte Welt braucht nicht weniger, sondern mehr Internationalismus. Die nationalen Reflexe sind auch bei uns wieder stärker geworden. Ängste beherrschen die Szene, rechte Populisten gehen auf Stimmenjagd. Als Reform- und Friedenskraft antworten wir Sozialdemokraten, indem wir für Sicherheit, für Gerechtigkeit und für soziale Chancen eintreten – und zwar nicht nur hierzulande, sondern auch international. Die Krisen der Welt lösen Sorgen aus, die wir ernstnehmen: Sozialdemokratische Entspannungspolitik setzt mit klarem Wertekompass auf Zusammenarbeit, Dialog und Frieden; sozialdemokratische Europapolitik erreicht mittels Integration mehr ökonomische Sicherheit, stärkere Wachstumsimpulse, stabile Staatshaushalte und größere Steuergerechtigkeit.
Die SPD hat in ihrer 151-jährigen Geschichte epochale Umbrüche erlebt und oft entscheidende Weichen gestellt: für eine moderne, gerechte, menschliche Gesellschaft, in der Freiheit kein Privileg der Wenigen und Frieden keine Utopie der Philosophen geblieben ist. „Reformpartei“ – dieses Wort haben unsere Gegner als Verunglimpfung gemeint. Wir selbst haben es mit Stolz ausgesprochen. Und das werden wir auch weiterhin tun, denn es enthält das sozialdemokratische Versprechen von Solidarität, Sicherheit und Aufstieg.