Auf die Institutionen kommt es an
Ziemlich genau zwanzig Jahre ist es her, seit der amerikanische Politologe Francis Fukuyama seine berühmte These vom Ende der Geschichte formuliert hat. Mit Beilegung des Kalten Krieges, so ihr hegelianischer Kern, seien die großen Gegensätze im Weltgeschehen an ein Ende gekommen. Die Prinzipien des Liberalismus in Gestalt von Demokratie und Marktwirtschaft hätten sich durchgesetzt und alternative Gesellschaftsmodelle ein für alle Mal beiseite geräumt. Auch wenn der Verdacht nahe liegt – man sollte Fukuyama nicht leichtfertig in die Ecke der Triumphalisten stellen. Dafür ist seine Argumentation zu differenziert, und in seinen späteren Büchern hat er sich durchaus auch kritisch zu den Entwicklungen im Westen geäußert. In der Summe jedoch – und auch Fukuyama selbst räumt dies mittlerweile in Teilen ein – hat sich seine Prognose als falsch herausgestellt.
Das Ende des Ost-West-Gegensatzes trug nicht zur generellen Befriedung des Weltgeschehens bei, sondern spülte eine Reihe neuer Konflikte an die Oberfläche, von denen in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten der Antagonismus zwischen westlicher und islamischer Welt im Mittelpunkt stand. Und obwohl die daraus resultierenden Konflikte alles andere als beigelegt sind, erleben wir derzeit, wie sich der Fokus erneut verschiebt. Der Aufstieg Chinas könnte eine neue Polarität in der internationalen Politik einleiten, von der noch nicht abzusehen ist, wie sie sich entwickeln wird. Zumal man in China – anders als in der Sowjetunion – auf den Wettbewerb und die enge wirtschaftliche Verflechtung mit dem Westen setzt. Die Kombination aus straff zentralistischer Politik einerseits und kapitalistischer Marktöffnung andererseits verschafft China seit einigen Jahren eine wirtschaftliche Dynamik, die Politiker und Unternehmenslenker gleichermaßen in Erstaunen versetzt. Und sie wirft die Frage auf, ob das westliche Demokratiemodell mit seinen komplexen, oft langwierigen Entscheidungsprozessen für den globalen Wettbewerb der Zukunft überhaupt geeignet ist.
An Geografie, Klima und Krankheiten kann es nicht liegen
Ja, meinen der Ökonom Daron Acemoglu vom Massachusetts Institute of Technology und der Politikwissenschaftler James A. Robinson von der Harvard University. In ihrem Buch Why Nations Fail gehen sie der Frage nach, warum manche Staaten wirtschaftlich so viel besser dastehen als andere. Die Antwort darauf glauben sie in den Institutionen entdeckt zu haben, die für Erfolg oder Scheitern eines Gemeinwesens maßgeblich verantwortlich seien. Die zentrale These: Nur wenn ein Land über funktionierende politische und wirtschaftliche Institutionen verfügt, die über den Tag und die aktuelle Regierung hinaus Bestand haben und den Menschen gleichberechtigte Teilhabe an politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen garantieren, sind Wirtschaftswachstum und Wohlstand in einer Gesellschaft langfristig möglich. Zur Untermalung dieser im Grunde recht simplen Theorie greifen die Verfasser auf zahlreiche Beispiele aus der Geschichte zurück.
Zunächst geht es den Autoren darum, bestehende Erklärungsmodelle über Wohlstand und Armut von Nationen zu widerlegen. So stellen sie die Geografie-These infrage, die unter anderem der Ökonom Jeffrey Sachs prominent vertritt. Demnach lässt sich die globale Ungleichheit auf die unterschiedlichen geografischen und klimatischen Bedingungen in den einzelnen Weltregionen zurückführen. Krankheiten wie die Malaria, aber auch die schlechte Qualität der Böden würden in tropischen Gegenden der Entwicklung einer prosperierenden Wirtschaft entgegenstehen. Aber Acemoglu und Robinson verweisen auf Länder wie Singapur oder Malaysia, die auf der Südhalbkugel liegen und dynamische Volkswirtschaften sind. Vom vormals geteilten Deutschland ganz zu schweigen, das trotz einheitlichen Klimas in Ost und West über Jahrzehnte höchst unterschiedliche Wohlstandsniveaus hervorgebracht hat.
Auch die Kultur-These verweisen Acemoglu und Robinson ins Reich der Legenden. Ihr zufolge fehlt es armen Staaten an einem westlichen Arbeitsethos und an Offenheit gegenüber neuen Technologien. Doch das chinesische Wachstum der vergangenen dreißig Jahre, so die Autoren, lasse sich nicht mit traditionellen konfuzianischen Werten erklären. Sondern es sei das Ergebnis eines Transformationsprozesses, der von Deng Xiaoping Anfang der achtziger Jahre gezielt auf den Weg gebracht wurde – zunächst in der Landwirtschaft, später auch im Industriesektor. Davon abgesehen erkläre der Kultur-Ansatz nicht, warum zum Beispiel Botswana wirtschaftlich viel erfolgreicher ist als andere Staaten in Subsahara-Afrika.
Schließlich widersprechen Acemoglu und Robinson der Annahme, die Armut eines Landes beruhe vor allem auf der Unwissenheit seiner Eliten. Diese verfügten, so diese These, nicht über genügend volkswirtschaftliche Kenntnisse und wissenschaftliche Expertise. Das Gegenargument der Autoren: Selbst in den ärmsten Staaten der Welt mangele es den Eliten nicht an Zugang zu Bildung. Außerdem stelle die internationale Gemeinschaft bei schweren Wirtschaftskrisen entsprechendes Know-how zur Verfügung. In Wirklichkeit bestehe das Problem vielmehr darin, dass die politischen Strukturen in diesen Ländern gar nicht darauf angelegt sind, die Bevölkerungen am Wohlstand zu beteiligen. Und in den meisten Fällen hätten die politischen Führer kein Interesse, daran etwas zu ändern.
Warum es eine gute Sache ist, schlechte Politiker abwählen zu können
Ein Beispiel, auf das Acemoglu und Robinson wiederholt zurückkommen, ist das Städtchen Nogales. An der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko gelegen, besteht es aus einem amerikanischen und einem mexikanischen Teil. Auf amerikanischem Gebiet beträgt das durchschnittliche Haushaltseinkommen rund 30.000 Dollar im Jahr; auf der mexikanischen Seite sind es nur knapp 10.000 Dollar. Mehr noch: Die Einwohner von Nogales / Sonora machen statistisch gesehen seltener einen Schulabschluss als ihre Nachbarn in Arizona; dort herrscht mehr Korruption und eine höhere Kriminalitätsrate; sogar bei der Lebenserwartung haben die Bewohner des amerikanischen Teils klar die Nase vorne.
Die Ursachen dafür, argumentieren die Autoren, können weder der Geografie noch der Kultur noch der Unwissenheit der Stadtoberen geschuldet sein. Die Ursachen liegen in den Institutionen der beiden Länder. Im amerikanischen Teil existiert ein System „inklusiver Institutionen“, das es den Menschen ermöglicht, am wirtschaftlichen und politischen Leben aktiv teilzuhaben. Die Bewohner haben ausreichenden Zugang zu Bildung. Sie genießen Rechtssicherheit. Sie können sich wirtschaftlich frei entfalten. Und sie dürfen Politiker, die sie enttäuscht haben, aus dem Amt wählen. Hingegen bieten die mexikanischen Institutionen der Bevölkerung weder ein vergleichbares Angebot an Bildung noch die Rechtssicherheit, die nötig ist, um unternehmerisch frei tätig zu sein und – zum Beispiel – in neue Technologien zu investieren. Das politische System ist derart von Korruption und Machtmissbrauch geprägt, das Politiker, die sich den Spielregeln widersetzen, in Einzelfällen nicht nur um ihr Amt fürchten müssen, sondern auch um ihre Gesundheit.
Diese Rahmenbedingungen hätten dazu geführt, dass die Menschen in Nogales / Arizona – wie in den USA insgesamt – heute einen so viel größeren Wohlstand genießen als ihre mexikanischen Nachbarn. Dieses Prinzip gelte nicht nur für die USA und Mexiko, sondern für praktisch jedes weitere Land der Erde. Besonders extrem ist der Unterschied zwischen Nord- und Südkorea. Aber auch innerhalb der EU gibt es solche Beispiele. So haben Länder mit nur eingeschränkt „inklusiven Institutionen“ wie Bulgarien, Rumänien oder Ungarn beim Wohlstand der Bevölkerungen das Nachsehen gegenüber institutionell etablierten Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien.
Spätestens 2012 sollte die Sowjetunion den Westen überrundet haben
Aber warum verfügen einige Staaten über funktionierende Institutionen und andere nicht? Acemoglu und Robinson verweisen auf die grundlegende Bedeutung historischer und politischer Prozesse, die den Weg dorthin ebnen. Weil die Entwicklungspfade variieren, gebe es keine zwei Länder mit identischen Institutionen. Wie komplex diese Prozesse im Einzelnen sein können, zeigen die Entwicklungen in Großbritannien, Frankreich und Spanien. Alle drei Seemächte beteiligten sich im 16. und 17. Jahrhundert am lukrativen Atlantikhandel. Aber während in Frankreich und Spanien allein die Krone und eine kleine Elite die Gewinne einstrichen, profitierten in Großbritannien vor allem Kaufleute und Handeltreibende, die nicht selten in Opposition zu den monarchischen Zirkeln ihres Landes standen. Das war möglich, da der Bürgerkrieg sowie die „Glorious Revolution“ die Macht der Könige beschnitten, die Kompetenzen des Parlaments gestärkt und so den Grundstein für eine pluralistische Gesellschaft samt inklusiver Institutionen gelegt hatten. In Frankreich sollte es noch etliche Jahrzehnte dauern, bis sich eine vergleichbare Öffnung der Gesellschaft einstellte. In Spanien und anderen europäischen Staaten ließen diese Schritte sogar noch mehrere Jahrhunderte auf sich warten.
Ein eigenes Kapitel widmen die Autoren China. Wenngleich sie die dortigen Entwicklungen in den vergangenen drei Jahrzehnten anerkennen und auch einen gewissen Zuwachs in Bezug auf die Teilhabe der Menschen an den wirtschaftlichen Prozessen im Land einräumen, fällt ihre Prognose für die weitere Entwicklung des Riesenstaates skeptisch aus. Zu sehr werde die Wirtschaft nach wie vor vom Diktat der alles beherrschenden Kommunistischen Partei bestimmt. Dabei habe die Geschichte immer wieder gezeigt, dass Wachstum ohne ausreichende Teilhabe der Bevölkerung langfristig auf tönernen Füßen steht.
Als Vergleich nennen Acemoglu und Robinson die Sowjetunion, die zwischen 1928 und 1960 ebenfalls erstaunliche Wachstumszahlen erreicht hatte – im Jahresschnitt waren es sechs Prozent. Bis in die siebziger Jahre priesen viele Ökonomen China als ein Musterbeispiel für stabiles und nachhaltiges Wirtschaften. Darunter war unter anderem der im Jahr 1970 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnete Paul Samuelson. Dieser sagte noch 1980 voraus, die Sowjetunion werde den Westen spätestens 2012 bei den Einkommen überrundet haben.
Auch wenn das chinesische Wachstum mittlerweile facettenreicher sei als jenes der Sowjetunion in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts (technologisch fortschrittlich war die Sowjetunion lediglich in der Raumfahrt- und Rüstungsindustrie), fehle es China weiter an nennenswerten innovativen Produkten. Nach wie vor basiere die wirtschaftliche Entwicklung in erster Linie auf dem Import und der Adaption ausländischer Technologien.
Derzeit gibt es Anzeichen dafür, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern könnte. Gemäß dem aktuellen Fünfjahresplan strebt China an, bis 2015 vom Innovationsfolger zum Innovationsführer aufzusteigen und die USA bis 2020 als weltweit führender Innovationsstandort abzulösen. Voraussetzung dafür, so die Autoren, sei jedoch die institutionalisierte Teilhabe der Bevölkerung an den Prozessen im Land. Genau danach sehe es in Peking jedoch nicht aus. Sollte die Schaffung inklusiver Institutionen ausbleiben, drohe China das gleiche Schicksal wie all den anderen Regimen in der Geschichte, die dem Irrglauben aufgesessen seien, sie könnten mittels autoritärer Strukturen und einer staatlich gelenkten Wirtschaft dauerhaft nachhaltiges Wachstum und Wohlstand etablieren.
Was wird, wenn gute Institutionen nur auf Pump zu finanzieren sind?
Anders als Fukuyama sind Acemoglu und Robinson weit davon entfernt, das Ende der Geschichte einzuläuten. Stattdessen weisen sie durchaus überzeugend darauf hin, dass ohne funktionierende Institutionen die gerechte Verteilung von Wohlstand in einer Gesellschaft nicht möglich ist. Daraus lässt sich freilich nicht die Schlussfolgerung ableiten, dass fortan alle despotischen und autoritären Systeme auf inklusive Institutionen setzen werden, zumal in diesen Fällen mehr Wohlstand in der Bevölkerung fast immer mit weniger Reichtum für die Machthaber verbunden ist.
Als spannend dürfte sich vor diesem Hintergrund die weitere Entwicklung in China erweisen: Einerseits scheint man in Peking Lehren aus dem Untergang der Sowjetunion gezogen haben. Die Chinesen setzen zunehmend auch auf nicht-staatliches Unternehmertum und auf innovative Produkte statt bloße Kopien. Andererseits hat sich, was die Möglichkeiten der politischen und gesellschaftlichen Partizipation betrifft, seit der grausamen Niederschlagung der Demokratiebewegung im Jahr 1989 kaum etwas verändert. Im Zentrum der innenpolitischen Logik steht unverändert der Machterhalt der Kommunistischen Partei – koste es, was es wolle. Ob das chinesische Wirtschaftswachstum tatsächlich zu mehr Teilhabe der Menschen führt oder an seine Grenzen stößt, ist noch nicht abzusehen. Hinzu kommt, dass die Volksrepublik nicht die Sowjetunion ist und man mit Lehren aus der Geschichte, was künftige Entwicklungen anbelangt, generell vorsichtig sein sollte.
Einen Aspekt sucht man in Why Nations Fail indes leider vergeblich: Mit welchen Kosten sind inklusive Institutionen für Staaten eigentlich verbunden? Mit dieser Frage soll nicht der Wert inklusiver Institutionen infrage gestellt werden. Doch hätte das Buch damit um eine Dimension erweitert werden können, die es angesichts der Staatsschuldenkrise in zahlreichen westlichen Demokratien verdient hätte, genauer und vor allem auch jenseits des parteienpolitischen Hickhacks erörtert zu werden. Anders formuliert: Wie nachhaltig sind eigentlich Systeme, deren Funktionieren in weiten Teilen über immer neue Schulden gewährleistet wird?
Daron Acemoglu und James A. Robinson, Why Nations Fail: The Origins of Power, Prosperity, and Poverty, New York: Crown Business 2012, 529 Seiten, 30 Dollar