Aufschwung durch Klinsinomics?
Können Sie sich noch an die Fußball-WM erinnern? Die ehrliche Antwortet lautet für die meisten wohl: Nein. Selten ist ein Rausch so schnell verflogen wie der Rausch des Sommers 2006. Deutschlandfahnen hängen nur noch vereinzelt herum, Jürgen „Klinsi“ Klinsmann sonnt sich längst wieder in Kalifornien. Und der wirtschaftliche Aufschwung, den uns die WM bringen sollte, ist zwar da – aber er wäre auch ohne das Fußballfest gekommen. Wirtschaftlich profitiert hat in erster Linie die FIFA. Dennoch war es richtig, die WM nach Deutschland zu holen. Solche Veranstaltungen werden wirtschaftlich eine immer größere Rolle spielen.
Schon nach der Vorrunde priesen Journalisten Jürgen Klinsmann aufgrund seiner zupackenden Art als vorbildlichen Reformer. Wissenschaftler lobten seinen „strategischen Ansatz“, der auch in der Wirtschaftspolitik wichtig sei; ein ordnungspolitischer Masterplan müsse her, der umzusetzen sei, ohne nach links und rechts zu gucken. Der Unternehmensberater Roland Berger dankte Klinsmann dafür, dass er sich weder vom Establishment noch von den Medien beeinflussen ließ und keine Rücksicht auf Besitzstände nahm. Selbst an Stammtischen, wo über Entwürfe am Reißbrett sonst gelacht wird, hat Klinsmanns planmäßiges und stures Vorgehen überzeugt. Doch leider taugt die Analogie von Fußball und Politik nicht viel.
Der große Unterschied zwischen Fußball und Politik besteht darin, dass es im Fußball nur ein Ziel gibt: das Tor des Gegners. Über den besten Weg dorthin lässt sich dann trefflich streiten. Altgediente DFB-Funktionäre mit anderen Vorstellungen als der Bundestrainer hatten in den vergangenen Monaten viel Diskussionsbedarf.
In der Politik kennt man den besten Weg zumeist auch nicht. Doch was Politik viel schwieriger macht als Fußball ist die Tatsache, dass sie eine fast unüberschaubare Anzahl von Zielen verfolgt. Hier reicht es nicht aus, offensiv zu spielen und möglichst viele Tore zu schießen. Vielmehr muss die Politik auf zahlreiche legitime Interessen Rücksicht nehmen. Ja, auch wenn viele Kommentatoren es nicht wahrhaben wollen: Interessen sind legitim. Nur Diktatoren – Fußballtrainer etwa – können auf Interessenausgleich verzichten.
Kluges Stellungsspiel statt wilde Fliegerei
Schaut man genau hin, kann man vom Fußballspielen trotzdem etwas lernen, und zwar für die Wirtschaftspolitik. Viel spricht dafür, dass das dynamische Angriffsspiel à la Klinsmann auch in der Wirtschaft zum Erfolg führt. Schaut man noch genauer hin, wird zudem die Bedeutung von Zusammenarbeit und klugem Stellungsspiel erkennbar. Grenzenlose Flexibilität hingegen, wie sie manche für den Arbeitsmarkt einfordern, führt im Fußball zu überflüssiger Rennerei und vorzeitiger Erschöpfung. Klinsmann wusste das. Bewusst hat er den klugen Stellungsspieler Lehmann ins Tor gestellt und nicht den übermotivierten Flieger Kahn. Dieses Rezept hat gewirkt: Deutschland wurde mit gut aufgestellten Belegschaften, ohne hire and fire, Exportweltmeister. Wirtschaftsbosse verweisen gern auf die höhere Flexibilität ausländischer Arbeitnehmer, verlagern die Produktion aber trotzdem nicht. Deutsche Facharbeiter haben nämlich ein besseres Stellungsspiel als Job-Hopper.
Jeder gute Manager eines Fußballvereins weiß, dass man es mit der Entlohnung von Einzelleistungen nicht übertreiben darf. Torjäger zum Beispiel sind auf gutes Zuspiel angewiesen, deshalb darf das Gehaltsgefälle in Profimannschaften nicht zu groß sein. Sonst rennen die Wasserträger nicht mehr ohne Eigennutz. Schon gar nicht dürfen Tore direkt honoriert werden: Das zerstört das Mannschaftsspiel. Empirische Untersuchungen zeigen, dass die Einkommensungleichheit in Fußballmannschaften überraschend gering ist. Auch mittelmäßige Spieler, die eigentlich leicht ersetzbar sind, bekommen gutes Geld, damit die Teamarbeit stimmt. Leistung muss sich lohnen, aber man darf die Unterschiede nicht auf die Spitze treiben:
Die Fußball-WM war eine Riesenparty, den Wirtschaftsstandort Deutschland hat sie dennoch nicht gerettet. Zwar geht es wieder aufwärts, aber in einer robusten Volkswirtschaft kommt der Aufschwung von ganz allein, wenn es vorher lange genug abwärts ging. Am Erfolg der „Strukturreformen“ von Hartz IV liegt der – bescheidende – Aufschwung zumindest nicht. Auch die WM hat keinen Beitrag geleistet, dafür war sie im Vergleich zur gesamten deutschen Volkswirtschaft zu klein: Über fünf Jahre verteilt wurden in die Stadien nur 1,5 Milliarden Euro investiert, das Bruttoinlandsprodukt beträgt aber mehr als 2.000 Milliarden Euro jährlich. Selbst die wirtschaftlichen Erwartungen hat die WM nicht verändert.
Auch das Konsumverhalten ist über einen längeren Zeitraum betrachtet gleich geblieben. Wer während des Fußballsommers viel Bier getrunken hat, trinkt jetzt weniger, schon des leeren Geldbeutels wegen. Wer vor der WM einen Flachbildschirm gekauft hat, wird so schnell keinen zweiten kaufen. Und im Bereich Tourismus haben Fußballfans einfach die normalen Besucher verdrängt. Die Zimmerauslastung ging im Vergleich zum Vorjahr sogar um 2,7 Prozent zurück. Nur dank höherer Preise stieg der Umsatz punktuell. Außerdem sollte man die anziehende Wirkung der Fußballeuphorie auf ausländische Investoren nicht überschätzen. Die vielen positiven Stimmen aus der internationalen Wirtschaft sind keine Überraschung, Deutschland wird eben bei ausländischen Investoren sehr geschätzt, nicht zuletzt aufgrund guter und stabiler Belegschaften. In einer zu Beginn der Weltmeisterschaft veröffentlichten Umfrage der Unternehmensberatung Ernst & Young kam Deutschland bei internationalen Entscheidungsträgern auf Platz drei der weltweit beliebtesten Investitionsstandorte. Wir überhören solche Nachrichten nur gerne – sie passen nicht zum Binnenlamento.
Dixi-Toiletten und Creative Class
Kurzum: Die WM war keine Konjunkturlokomotive. Wirtschaftlich betrachtet hat sie sich dennoch gelohnt – langfristig. Warum? Die Fußball-WM ist ein kleiner Baustein bei der Entwicklung der „Eventindustrie“ in Deutschland. Zunehmend gewinnen in reichen Volkswirtschaften neben dem Gesundheitswesen auch Kultur und Sport an Bedeutung. Viele, oft kleine Firmen haben rund um die WM geübt, wie man große Events erfolgreich organisiert. Dazu gehörten etwa private Sicherheitskräfte und Entsorgungsfirmen; ohne flexibel einsetzbare Sicherheitskräfte und Dixi-Toiletten könnten Großereignisse nicht stattfinden.
Hier wird deutlich, warum kaum nachhaltige Arbeitsmarkteffekte von der WM ausgingen: Eventmanager brauchen geübtes Personal und keine unerfahrenen Aushilfskräfte. Besonders in Großstädten mit regelmäßigen Großveranstaltungen wird die Arbeit an einen Stamm fester Aushilfskräfte vergeben. (Langzeit-) Arbeitslose, deren Leistungsfähigkeit den Arbeitgebern völlig unbekannt ist, haben auch hier keine Chance.
Die Event-Industrie hat Zukunft und ist für junge Leute durchaus attraktiv. Gebraucht werden beispielsweise Cateringunternehmen, in denen qualifizierte Köche, Kellner und Reinigungskräfte arbeiten. Zudem arbeiten auf solchen Veranstaltungen unzählige Betreuer, PR-Kräfte, Nachrichtentechniker, Handwerker, Beleuchter, Animateure et cetera. Das Sportfest hat, scheinbar paradox, ein Stück zur Entwicklung einer Creative Class beigetragen, die von Kreativität und nicht von Muskelkraft lebt.