Gut und Böse? So einfach ist die Sache nicht
Tomáš Sedláecks Anfang 2012 erschienenes Buch Die Ökonomie von Gut und Böse wurde in allen Feuilletons zu einem Ereignis gemacht. Aber liest man das Buch als Wirtschaftswissenschaftler, bleibt man etwas ratlos zurück. Was genau will Sedlácek uns mitteilen? Vermutlich dies: Ökonomen wollten den Anschein erwecken, werturteilsfrei zu analysieren. In Wahrheit stünden sie aber entweder auf der Seite des Guten (Sedlácek) oder des Bösen (Chicago Boys). Freilich versuchten die Wirtschaftswissenschaftler ihre Voreingenommenheit hinter möglichst viel Mathematik zu verstecken, um als Wissenschaftler anerkannt und in Akademien der Wissenschaft und anderen ehrwürdigen Einrichtungen aufgenommen zu werden. Reine Geschichtenerzähler – und das sind Ökonomen laut Sedlácek in Wirklichkeit – würden in die Tempel der Wissenschaft niemals hineinkommen.
Ziemlich banal ist seine Behauptung gleich am Anfang des Buches: „Aus unseren Mythen und Religionen, von unseren Philosophen und Dichtern können wir ebenso viel Weisheit lernen wie aus exakten, strikten mathematischen Modellen für das ökonomische Verhalten.“ Wer wollte das in einer Welt voller Unsicherheiten und unbekannter Gefahren bestreiten? Wenn wir unter unsicheren Bedingungen handeln, müssen wir Risiken eingehen, und bei gefährlichen und unsicheren Entscheidungen können die Philosophie und erst recht die Religion handlungsleitend sein. Wirtschaftswissenschaftler behaupten zwar oft das Gegenteil, aber man muss nicht auf sie hören. Und in der Tat hören viele Entscheidungsträger auch nicht auf Ökonomen. Die Öffentlichkeit mag zwar den Eindruck haben, dass Ökonomen viele Politiker fernsteuern. Aber in Wirklichkeit passiert dies keineswegs oft. Man bedenke nur das seit Jahrzehnten übliche Lamento der Wirtschaftswissenschaftler, auf sie werde nicht genügend gehört!
Was sind die Werte der Ökonomie?
Viel weniger nachvollziehbar ist eine andere Forderung Sedláceks: „Die Ökonomie sollte daher nach ihren eigenen Werten suchen, sie entdecken und über sie sprechen, auch wenn sie uns gelehrt hat, sie sei eine wertfreie Wissenschaft.“ Warum sollte „die“ Ökonomie dies tun? Wem wäre damit geholfen? Würde die Wirtschaftswissenschaft den Anspruch aufgeben, werturteilsfrei zu analysieren, würde sie auf ihre große Stärke verzichten. Über Werte debattieren und für Weltanschauungen zu kämpfen, das können Feuilletonisten und Politiker besser. Wie bei jeder Wissenschaft besteht die Stärke der Ökonomie darin, den Dingen auf den Grund zu gehen und sich nicht von Werturteilen Denkverbote auferlegen zu lassen oder durch Mogelei bei der Analyse eigene politische Ziele zu verfolgen. Auf den naheliegenden Einwand des Lesers, dies seien nur wohlfeile Worte und in den Wirtschaftswissenschaften herrschten sehr wohl Denkverbote, werde ich später eingehen.
Zunächst aber sei festgehalten (und da stimmt auch Sedlácek zu): Um die Dinge gründlich zu durchdenken, ist – wie in vielen anderen Wissenschaften auch – die Mathematik hilfreich. Sie schärft die Gedanken und macht leichte Auswege unmöglich. Dies gilt besonders bei der Interpretation der Wirklichkeit mithilfe empirischer Analysen und statistischer Daten. Statistische Daten sprechen nicht für sich selbst, sondern man muss mit statistischen Modellvorstellungen an sie herangehen. Um Statistiken zum Sprechen zu bringen, sind mathematische Verfahren nun einmal hilfreich.
Dass man mit Statistiken „alles beweisen kann“, stimmt schlicht und einfach nicht. Man mag Statistiken falsch interpretieren können. Aber die Statistiker haben in den vergangenen zwanzig Jahren immer besser verstanden, unter welchen Umständen sinnvolle Aussagen überhaupt möglich sind. Vor allem auch haben Statistiker systematisch herausgearbeitet, unter welchen Umständen kausale Aussagen zulässig sind, also Aussagen nach dem Motto „Wenn ich dies tue, dann folgt jenes daraus“. Das Ergebnis der immer besseren statistischen Methoden lautet: Derartige Kausalaussagen sind nur ganz selten möglich. Denn in den Wirtschaftswissenschaften können Experimente nur sehr eingeschränkt durchgeführt werden.
Trotzdem ist die Statistik keineswegs überflüssig: Die neue Methodenlehre zeigt uns, dass die Primitiv-Statistiken, die uns täglich in den Massenmedien präsentiert werden, meist mit größter Vorsicht zu genießen sind. So sagen die beliebten internationalen Rankings bei Verschuldungsquoten oder Schulleistungen wenig bis nichts darüber aus, wie es um eine nationale Volkswirtschaft oder ein Schulsystem bestellt ist. Dennoch werden solche Statistiken ständig in suggestiver Weise benutzt. Dagegen helfen kein Schweigen und auch keine feuilletonistische Kritik. Dagegen helfen nur Aufklärung und eine möglichst gute statistische Methodenlehre. Also: noch mehr Statistik. Reine Werturteile, wie Sedláek sie liebt, bringen rein gar nichts, um statistische Fehlinterpretationen aus der Welt zu schaffen.
Das Paradigma als Denkverbot
Ferner argumentiert Sedlácek, Statistiken würden gewissermaßen das Falsche messen. Wünsche und Wertvorstellungen, unsere Biologie und Psychologie, seien mindestens ebenso wichtig, wenn nicht noch wichtiger als die üblichen harten Fakten. Sedlácek hat recht. Aber solcherlei Forschung ist ja längst im Gange und gewinnt in dem Fachgebiet immer größeren Einfluss. Auch Statistiken erfassen Wünsche und Wertvorstellungen, ja sogar Persönlichkeitsstrukturen. Und Ökonomen berücksichtigen dies alles auch – mithilfe der so genannten „Verhaltensökonomik“. Auf diesem Gebiet ist der deutsche Sprachraum international führend. Genannt seien beispielhaft die Namen Ernst Fehr (Universität Zürich) und Armin Falk (Universität Bonn). Sedlácek zitiert aber weder diese beiden, noch andere Verhaltensökonomen. Entweder, weil er sich die Hauptthese seines Buches nicht kaputt machen lassen will. Oder – und das wäre schlimmer – weil er die neuen Entwicklungen nicht kennt.
Noch ein Wort zu den viel zitierten Denkverboten in der Ökonomie. Ja, auch die gibt es. Aber sie sind nichts besonderes, Denkverbote gibt es in jeder erfolgreichen Wissenschaft. Seit Thomas S. Kuhn wissen wir, dass die Wissenschaft sich die meiste Zeit im Rahmen eines vorherrschenden Paradigmas fortentwickelt, also auf der Basis allgemein akzeptierter Annahmen. Diese sind nichts anderes als „Denkverbote“ in Bezug auf alternative Annahmen.
Erst wenn es gar nicht mehr anders geht, weil zu viele Fakten einem herrschenden Paradigma widersprechen (etwa astronomische Beobachtungen der Annahme, dass die Erde eine Scheibe sei) wird ein Paradigma abgelöst. Und genau das lässt sich in der Ökonomie derzeit beobachten: Das ultrarationale Paradigma der „Neoklassik“, also das Paradigma der „Chicago Boys“, wird von einem verhaltenswissenschaftlichen Paradigma abgelöst. Dabei helfen junge Professoren aus Chicago übrigens mit, während dicke Bücher wie das von Sedlácek nicht zur Weiterentwicklung der Wissenschaft beitragen. Interessant zu lesen ist das Buch trotzdem – oder gerade deswegen?
Tomáš Sedlácek, Die Ökonomie von Gut und Böse, München: Carl Hanser Verlag 2012, 448 Seiten, 24,90 Euro