Aufwind oder Stagnation?
Die niedersächsische Landtagswahl vom 20. Januar 2013 ist denkbar knapp ausgegangen. Am Ende rangierten SPD und Grüne landesweit nur um rund 12 000 Stimmen vor CDU und FDP. Dieser Wahlausgang lässt breiten Raum für konträre Interpretationen. Befindet sich die SPD nun elektoral in fortgesetztem Aufwind? Oder sitzt sie weiter im Zustimmungstal fest?
Beide Ansichten lassen sich begründen. Einerseits haben sämtliche zehn Landtagswahlen, die nach der verheerenden Bundestagswahlniederlage von 2009 bis zur Niedersachsenwahl abgehalten worden sind, eine Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten nach sich gezogen. In fünf Bundesländern (Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin) haben sie ihre Regierungsposition behauptet, in fünf Bundesländern (Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Baden-Württemberg, Saarland und Schleswig-Holstein) gelang ihnen der Sprung von den Oppositionsbänken zurück in die Kabinettssessel. Dieser Trend setzte sich jetzt in Niedersachsen fort. Auch hier stellt die SPD zukünftig den Ministerpräsidenten. Während die christdemokratische Konkurrenz massiv Stimmenanteile verlor, gewannen die Sozialdemokraten 2,3 Prozentpunkte hinzu. Aus dieser Perspektive stellt sich die sozialdemokratische Wahlbilanz seit 2009 also höchst erfreulich dar.
Andererseits: Mit einer kräftigen Erweiterung der eigenen Wählerbasis hat der ansehnliche Zuwachs an regionaler Exekutivmacht wenig zu tun. Meist vermochten es die Sozialdemokraten bloß, das Niveau früherer Wahlen gerade noch zu halten, etwa in Sachsen-Anhalt und Bremen. Teilweise verbesserten sie sich leicht, jedoch von sehr niedrigen Ausgangswerten aus: Im Saarland und in Schleswig-Holstein fuhren sie ihre historisch drittschlechtesten Ergebnisse ein, in Niedersachsen sogar das zweitschlechteste, nur 2009 hatte die SPD dort schlechter abgeschnitten. Mancherorts setzte sich der Schwund weiter fort, so in Baden-Württemberg und Berlin. Dem stehen zwar die jüngsten Erfolgsgeschichten in Nordrhein-Westfalen und Hamburg gegenüber. Doch in mittlerweile neun Bundesländern findet sich die SPD nach der jüngsten Wahlrunde in jenem legendären 30-Prozent-Turm wieder, aus dem sie sich einst nach der Ära Ollenhauer in den fünfziger Jahren erfolgreich befreien konnte.
Wie der Unpopulärere gewinnen kann
Interessant ist die Frage nach der bundespolitischen Bedeutung der niedersächsischen Wahl vor allem mit Blick auf die Rolle des Faktors Persönlichkeit. Stephan Weil gewann, obwohl Amtsinhaber David McAllister beliebter war, als kompetenter galt und für das Amt geeigneter schien. Mehr noch: Kurz vor dem Wahltag kannten den SPD-Spitzenkandidaten überhaupt nur 67 Prozent der Niedersachsen. Doch am Wahltag scheint das kein entscheidender Malus gewesen zu sein. Insgesamt ist die Bedeutung des Personenfaktors offenbar begrenzt, Sachfragen sind wichtiger. Oder, wie es Stephan Weil treffend formulierte: „Eine Wahl ist kein Schönheitswettbewerb.“
Zugleich allerdings setzte sich das Siechtum der Volksparteien fort. Erstmals seit 1955 erhielten beide großen Parteien in Niedersachsen zusammen weniger als 70 Prozent der abgegebenen Stimmen. Nur noch vier von zehn wahlberechtigten Niedersachsen entschieden sich für CDU oder SPD. Auch in Niedersachsen sind die Volksparteien in altersstruktureller Perspektive längst Seniorenparteien, in erwerbsanalytischer Hinsicht politische Aktionsausschüsse der Rentner. In keiner Berufsgruppe sind sie gemeinsam auch nur annähernd so stark wie bei den Rentnern.
Problematisch ist diese Überalterung zum einen unmittelbar, weil beide Volksparteien durch den Tod älterer Anhänger kontinuierlich Stimmen verlieren. Zum anderen schrecken derartig alternde Parteien junge, moderne, gebildete, urbane Wähler und – erst recht – Wählerinnen aus den gesellschaftlichen Leitmilieus der Zukunft zunehmend ab. SPD und CDU drohen den Kontakt zu den Lebenswelten der nachwachsenden Generationen städtischer Akademiker zu verlieren, ja sie sind diesen zunehmend gleichgültig. Doch was jetzt verloren wird, kann später kaum nach Belieben zurückgewonnen werden, die Prägungen des Jugendalters bleiben im weiteren Lebensverlauf erhalten. Ihre besten Ergebnisse erzielten die linken Parteien nicht zufällig unter den 45- bis 59-Jährigen, die zumeist im „roten Jahrzehnt“ (Gerd Koenen) der siebziger Jahre politisch sozialisiert wurden. Immerhin haben SPD und Grüne bei dieser Wahl unter den Jung- und Erstwählern etwas Boden gut gemacht.
Freilich: Wenn schon die SPD unter Überalterung leidet, so treffen die angesprochenen Probleme die CDU noch weit stärker. Während die SPD in Niedersachsen aufgrund des Generationswechsels „nur“ 16 000 Stimmen einbüßte, betrug der Verlust der CDU stolze 73 000 Wähler. Und während die CDU bei älteren Wählern auf dem Land noch an der 50-Prozent-Marke kratzt, machen die Jungwählerinnen in den Städten ihr Kreuz nur noch zu 15 Prozent bei den Christdemokraten.
Die Traditionswähler sterben aus, Neuwähler rücken nur noch spärlich nach. Die Verluste zeigen sich markant in den alten ländlich-katholischen Hochburgen der CDU wie Osnabrück-Emsland und Oldenburg. Hier verliert die CDU mit bis zu zehn Prozentpunkten überproportional. Doch allem Schwund zum Trotz: Einige Kraftquellen besitzen die Christdemokraten noch. In etlichen von Katholizismus und Schützenvereinen geprägten ländlichen Gebieten ist ihre Hegemonie zwar angekratzt, doch bis heute nicht wirklich gebrochen. In immerhin vier Wahlkreisen (Cloppenburg, Vechta, Meppen, Lingen) erzielt die CDU noch zwischen 54 und 58 Prozent der Stimmen. Bei Katholiken und Landwirten ist sie weiterhin der Platzhirsch, auch wenn die Verluste unter den Katholiken mit minus 13 Punkten ebenfalls dramatisch ausfallen und die Landwirte auch nicht mehr wie zuvor zu 80 Prozent für die CDU votieren.
Vergleichbare Hochburgen besitzt die SPD gar nicht mehr. In keiner Alters- oder Berufsgruppe schafft sie noch 40 Prozent, selbst in ihrer Stammregion Friesland bleibt sie mit 39,3 Prozent unter dieser Marke. Die SPD in Niedersachsen weist bei Wahlen kaum noch Ausreißer nach oben oder unten auf, zwischen ihren Ergebnissen bei Arbeitern, Angestellten und Beamten liegen nur wenige Punkte. Dadurch ist die SPD zwar die Volkspartei par excellence in Niedersachsen, insofern Volkspartei zu sein bedeutet, die Gesellschaft im Kleinen abzubilden.
Was folgt daraus für Peer Steinbrück?
Zugleich aber ist die SPD zu einer 30-Prozent-Partei geschrumpft, weshalb bei ihr von einer Volkspartei im anspruchsvolleren Sinn – nicht bloß in Niedersachsen – kaum noch die Rede sein kann. Wieder einmal zeigt sich: Volksparteien leben von Voraussetzungen, die sie selbst nicht (wieder) herzustellen vermögen. Die heutigen Volksparteien stützen sich noch immer auf das Standbein intakter (Rest-)Milieus; erst diese sorgen für die nötige Stabilität, um mit dem Spielbein neue Wählergruppen umwerben zu können.
Und was folgt aus der Landtagswahl für Peer Steinbrück? Zunächst einmal deutet die Zusammensetzung der SPD-Wählerschaft in Niedersachsen wie bei den anderen Landtagswahlen seit 2009 darauf hin, dass die Anhänger der SPD mit ihm viel weniger fremdeln, als vielfach angenommen. In Niedersachsen verlor die SPD in einer ähnlichen Größenordnung Wähler an die Grünen (minus 49 000 Stimmen), wie sie von CDU und FDP (plus 57 000 Stimmen) gewann. Niedersachsen schreibt damit einen seit 2009 zu beobachtenden Trend fort: Die Grünen schöpfen am stärksten aus dem Reservoir vormaliger SPD-Wähler. Bei der Bundestagswahl 2009 zog noch die Linkspartei (mit 1,1 Millionen Stimmen) den größten Nutzen aus dem abtrünnigen Teil des SPD-Potenzials. Noch kräftiger fiel der sozialdemokratische Aderlass (minus 2 Millionen Stimmen) in Richtung Nichtwähler aus. Der Exodus zu den Nichtwählern ist seit 2009 gestoppt; die Konversion zu den Linken gedrosselt. Dafür ist inzwischen der Übergang zu den Grünen erheblich. Allerdings können die Sozialdemokraten – nicht nur in Niedersachsen – im Gegenzug umfangreiche Zugewinne aus der Anhängerschaft der CDU verbuchen. Und was an die Linkspartei abging, war durch frühere FDP-Wähler wettzumachen.
Die Wählerschaft der SPD scheint seit 2009 deutlich weniger links und grün orientiert zu sein. In Niedersachsen etwa gewann die Partei bei den Beamten (plus 6 Punkte) und den Selbständigen (plus 10 Punkte) überdurchschnittlich hinzu, verbuchte zugleich aber in der Gruppe der Arbeiter nur geringe Zuwächse. Im Ergebnis schneidet die SPD mittlerweile bei Beamten, Angestellten und Arbeitern nahezu gleichstark ab, bei den Arbeitslosen mit 28 Prozent hingegen unterdurchschnittlich. Zu einem solchen Wählerprofil passt ein Kandidat Steinbrück durchaus.
Noch eine weitere Ermutigung kann Steinbrück aus der Niedersachsenwahl ziehen. Mit dem Kandidaten Stephan Weil gewann die Landtagswahl ein Politikertypus, der ihm in manchem ähnlich ist. Schon zur Göttinger Studentenzeit in den siebziger Jahren von Kommilitonen als „Helmut Schmidt“ verspottet, trat Weil 1980 des Hanseaten wegen und nicht aus Verehrung für Willy Brandt in die SPD ein. Das Wort „Genosse“ nimmt er nur ungern in den Mund, und im Vorfeld der Landtagswahl galt er als „bürgerlicher“ Kandidat, dem man zutraute, Wechselwähler anzusprechen. Weil richtete seinen Wahlkampf daher konsequent auf tüchtige, gemeinwohlorientierte und an einem handlungsfähigen Staat interessierte Wähler der Mitte aus.
Der selbstbewusste Stadtbürger
Überhaupt tritt mit Weil ein weiterer Vertreter jenes Oberbürgermeisterflügels ins Rampenlicht, der in der SPD zurzeit eine bemerkenswerte Renaissance erlebt. Neben dem Hannoveraner sind ihm auch der Kieler Torsten Albig und der Münchener Christian Ude zuzurechnen. Die Oberbürgermeister-Politiker weisen Stilmerkmale auf, die der Adenauer-Biograf Hans-Peter Schwarz einmal am Beispiel des ersten deutschen Bundeskanzlers und vormaligen Oberbürgermeisters von Köln als jene des „selbstbewussten Stadtbürgers“ beschrieb. Der selbstbewusste Stadtbürger sei ein „Konkretist und Pragmatiker“, kundig in administrativen Details, tatkräftig, immun gegen visionäre Schwärmerei. Er liebe Ordnung und Disziplin, lehne alles Systemumstürzende ab, sei deshalb aber keineswegs unambitioniert, sondern verbinde realistische Vorsicht mit Wagemut und unbürokratischem Gestaltungswillen. Zupackend und flexibel, dynamisch und gleichzeitig listig richte er seine Politik zwar nicht an gegebenen gesellschaftlichen Mehrheiten aus, versuche aber auch nicht, Mentalitäten seinerseits dauerhaft zu prägen.
Administratives Politikverständnis und Pragmatismus, in sich selbst ruhendes Selbstbewusstsein und koalitionspolitische Flexibilität zeichnen Stephan Weil aus – und dies gilt ebenso für Peer Steinbrück. Weils Selbstbild als Hannoveraner Oberbürgermeister ist das eines Gemeinwohlverwalters. Er will gestalten, seine Arbeit machen und Lösungen liefern – Recht zu behalten ist ihm nicht so wichtig. Selbstbewusst ist er dagegen sehr wohl, seine Zuständigkeiten legt er weit aus, letztlich fühlt er sich in erster Linie seinem Amt und seiner Urteilskraft verpflichtet. Bis heute trifft Weil wichtige Beschlüsse allein. Von seiner koalitionspolitischen Offenheit schließlich zeugen seine Weigerung im Wahlkampf, eine Große Koalition auszuschließen, sowie seine eher lauen Bekenntnisse zu den Grünen – mit denen er gleichwohl in Hannover harmonisch zusammenarbeitet.
Und was wird aus der FDP? Völlig anders als die zur eigenständigen Partei gereiften Grünen ist sie momentan ohne Leihstimmen überhaupt nicht überlebensfähig. Niedersächsische Nachwahlbefragungen ergaben, dass nicht einmal jeder zehnte FDP-Wähler die Liberalen als Lieblingspartei angab, 80 Prozent dagegen die CDU. Damit kann sich die FDP Öffnungsversuche in Richtung SPD überhaupt nicht mehr erlauben und sieht sich bis auf Weiteres gefangen in der Rolle einer Mehrheitsbeschafferin der Union.
Dies ist durchaus ein Treppenwitz der Geschichte. Die heute Mächtigen der Partei um Philipp Rösler, Christian Lindner und Daniel Bahr traten einst ja gerade in die Partei ein, um sie zum eigenständigen Machtfaktor zu machen. Ihr Trauma war der Wahlkampf 1994, in dem die FDP plakatierte: „FDP wählen, damit Kohl Kanzler bleibt“. Bei der Niedersachsenwahl 2013 warb der FDP-Abgeordnete für Northeim mit demselben Argument: „Wer David McAllister als Ministerpräsidenten behalten will, der muss mit der Zweitstimme die FDP wählen!“ Von der Stelle gekommen ist der organisierte Liberalismus in Deutschland während der letzten zwanzig Jahre also nicht – ein Befund mit Konsequenzen auch für die SPD.