Aus Sibirien verbannt
Bevor der Medienhype um das Sarrazin-Buch dieses auf Platz eins der deutschen Bestsellerlisten schoss, stand dort ein anderes, bescheideneres Bändchen zum gleichen Themenkomplex, ein Wachrüttel-Werk der Berliner Richterin Kirsten Heisig: Das Ende der Geduld: Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter. Es ist der seriöse Versuch, Problemmilieus zu analysieren, vielversprechende wie auch bereits gescheiterte Gegenstrategien zu erörtern, eigene Vorschläge zu machen. Heisig kannte die delinquente Praxis im schwierigsten Gerichtsbezirk Deutschlands, in Neukölln, sie beschrieb ihren Fall-Alltag mit „rechter“ und „linker“ Gewalt, deutschen und migrantischen Gewalttätern.
Trotz des großen Publikumsinteresses ist dieses Buch kein Katalysator für eine nationale Debatte über Integrationspolitik und konsequente Justiz geworden. Heisig hatte sich vor Erscheinen von Das Ende der Geduld umgebracht, sie war depressiv, privat verzweifelt, wie die Medien berichteten. In den Talkshows sitzt seitdem der ehemalige Finanzsenator und Bundesbanker Thilo Sarrazin und schwadroniert über die gefährliche Welt da draußen, wie er sie sich vorstellt.
Es gibt in Deutschland und wahrscheinlich auch in anderen Gesellschaften eine heimliche Angst, hilflos zu sein gegenüber der Gewalt von meist jugendlichen Tätern, die selbst kaum ein Risiko scheuen, oft aber auch gar kein besonderes Risiko für sich eingehen, wenn sie andere, meist Gleichaltrige, bedrohen, nötigen, „abziehen“, verletzen und – selten – totschlagen. Während das Opfer im Krankenhaus liegt (und mit sich ringt, ob es klug ist, überhaupt eine Aussage zu machen), sind die Täter allzu oft am nächsten Tag oder noch in derselben Nacht wieder auf freiem Fuß, wegen „fehlender Haftgründe“. Jedenfalls liest man es so beinah täglich in der Zeitung, nicht nur in München, Hamburg oder Berlin.
Was tun, wenn Clans ausschließlich ihre eigenen Gesetze befolgen?
Für dieses Gefühl der Hilflosigkeit, das auch bei Heisig durchscheint, mögen Menschen sich selbst vielleicht nicht besonders gern, es macht wütend und irrational. Wo der Staat nicht wirksam zu helfen scheint und man selbst sich nicht helfen kann, wachsen Rassismus und Chauvinismus. Wer sich schwach fühlt, mag starke Sprüche. Deshalb hat Richterin Heisig damit recht, dass die Justiz Handlungsfähigkeit demonstrieren muss gegenüber den Tätern, den Opfern und der Gesellschaft – und zwar nicht durch „härtere“ Sanktionen, sondern durch schnellere und intelligentere Sanktionen. Ihr Buch gibt dazu eine Menge sachdienlicher Hinweise.
Heisig beschreibt allerdings auch ein spezielles Milieu, das für solche Bemühungen ziemlich unzugänglich ist. Unter dem Schlagwort „libanesische Großfamilien“ machte es in den Medien einige Schlagzeilen: „Die besagten Familien haben sich auf bestimmte Regionen in Deutschland verteilt. … Sie sind miteinander verwandt und leben ausschließlich nach ihren Gesetzen. Nach den mir vorliegenden Erkenntnissen gibt es in Deutschland zehn bis zwölf dieser Clans, die einige tausend Menschen umfassen. Sie agieren sowohl im Innen- wie im Außenverhältnis kriminell.“
Der Kriminelle muss sich verhalten, als ob die Polizisten gar nicht da wären
Darüber wüsste man gern mehr: über kriminelle Clans, deren Regeln höher stehen als die der übrigen Gesellschaft – und wo Regelverletzungen mit weitaus tödlicherer Sicherheit von dieser Gemeinschaft sanktioniert werden. Ein Buch genau darüber ist ziemlich parallel zu Heisig und Sarrazin erschienen: Nicolai Lilins Sibirische Erziehung. Lilin ist laut Klappentext ein 30-jähriger Tattoo-Studiobesitzer im italienischen Piemont, aufgewachsen in der Sowjetunion, genauer gesagt in Transnistrien (das heute mehr oder weniger zu Moldawien gehört), in einem Viertel der Stadt Bender, „wo sich in den dreißiger Jahren die Kriminellen angesiedelt hatten, die aus Sibirien verbannt worden waren“. Lilins sibirische Erziehung ist die Erziehung zu einem „ehrbaren“ orthodox-gläubigen Verbrecher, der schießt und sticht, raubt und stiehlt, Polizisten angreift und stolz der archaischen Strafjustiz innerhalb seiner sibirischen Verbrechergemeinschaft dient. Es ist eine Sozialisation in einem vollständig und ausschließlich kriminellen Milieu. Auch die sowjetischen, später russischen Gefängnisse werden von kriminellen Clans beherrscht, die einander zum Teil schwere Kämpfe leisten.
Auf mehr als 400 Seiten zieht Nicolai Lilin seine Leser hinein in die Normalität der kriminellen Lebensweise, wie ein Ethnologe durch teilnehmende Beobachtung. Aus sicherer Entfernung wirkt nichts bedrohlich, alles skurril. Aber zum Verständnis von Parallelgesellschaften trägt die Lektüre unbedingt bei. „Der kriminelle Verhaltenskodex“, heißt es da, „verbietet es Sibiriern, mit Polizisten zu reden. Es ist verboten, sie anzusprechen, auf ihre Fragen zu antworten oder sonst irgendwie auf sie einzugehen. Der Kriminelle muss sich verhalten, als ob die Polizisten gar nicht da wären, und die Vermittlung einer Familienangehörigen oder einer Nachbarin in Anspruch nehmen, sofern sie ebenfalls aus Sibirien stammt. … Der Kriminelle darf dem Polizisten nicht ins Gesicht sehen, und falls er ihn in seiner Rede erwähnt, muss er ihn mit abfälligen Wörtern wie ‚Dreck‘, ‚Hund‘, ,Kaninchen‘, ‚Lump‘, ‚Bastard‘, ‚Missgeburt‘ und so weiter bezeichnen.“
Auf die Pistole kommt ein Kruzifix, wie ein Siegel
Die Waffen der Kriminellen werden im Haus bei den Ikonen aufbewahrt, auf die Pistole kommt ein Kruzifix, wie ein Siegel. Wer die Regeln nicht kennt und achtet, in Freiheit oder im Gefängnis, ist verloren. Sie sind stärker als die Gesetze der Außenwelt. Der Autor, der sich Nicolai Lilin nennt, hat irgendwann selbst mit diesem Leben gebrochen – und Transnistrien verlassen. Wie er wirklich heißt und ob er noch lebt, wer weiß. «
Kirsten Heisig, Das Ende der Geduld: Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter, Freiburg: Verlag Herder2010,
208 Seiten, 14,95 Euro
Nicolai Lilin, Sibirische Erziehung, Berlin: Suhrkamp Verlag 2010, 453 Seiten 14,90 Euro