Wir fangen erst richtig an (oder lieber doch nicht)

EDITORIAL

Die deutsche Sozialdemokratie ist schon ein besonders eigentümlicher Verein. Seit bald einem Jahrzehnt trägt die Partei Regierungsverantwortung für das Land. Gegen harte Widerstände hat die SPD mit ihrer Agenda 2010 zukunftsweisende Reformen durchgesetzt. Nicht zuletzt diese Reformen haben die Voraussetzungen für den nachhaltigen wirtschaftlichen Aufschwung geschaffen, den Deutschland jetzt erlebt: Die Wirtschaft wächst. Der Konsum boomt. Die Löhne und Gehälter steigen. Über 600.000 Menschen mehr als vor einem Jahr befinden sich im Vollbesitz sozialversicherungspflichtiger Normalarbeitsverhältnisse. Überall schmiedet man Pläne und gründet Unternehmen. Die Sonne lacht vom Himmel, die Biergärten sind randvoll mit fröhlichen Menschen. Deutschland geht es prächtig – und in der SPD sucht man nach Gründen zum Unglücklichsein.

Was würde eine selbstbewusste, wache, sich ihrer Verantwortung für dieses Land bewusste Sozialdemokratie angesichts so erfreulicher Verhältnisse zu den Bürgern dieses Landes sagen? In Kurzform dies: „Die vergangenen Jahre waren schwierig, unser Land war auf eine verdammt abschüssige Bahn geraten – ja, zugegeben: auch aufgrund unserer eigenen Versäumnisse. Aber dann haben wir mit Gerhard Schröder an der Spitze entschlossen gehandelt. Das war für viele im Land zunächst unbequem. Viele haben gezweifelt. Viele wollten den Kopf lieber weiter in den Sand stecken, auch bei uns. Hätten wir auf diese Leute gehört, würden wir in Deutschland heute genauso ratlos und jämmerlich dastehen wie die Franzosen. Also haben wir angepackt. Heute profitiert unsere gesamte Gesellschaft davon. Dieser Aufschwung ist das Ergebnis sozialdemokratischer Politik, und darauf sind wir stolz. Aber: Wir geben uns mit dem Erreichten noch lange nicht zufrieden. Lasst uns alle zusammen dafür arbeiten, dass Deutschland nie wieder so in die Krise rutscht wie in den vergangenen Jahren. Dafür brauchen wir eine vorsorgende Gesellschaftspolitik, bessere Bildung für alle, einen modernen Sozialstaat, der in die Menschen und ihre Fähigkeiten investiert, statt sie mit Sozialtranfers abzuspeisen und stillzulegen. Eine dynamische Gesellschaft der gleichen Chancen für alle, die gerade deshalb zur Gerechtigkeit fähig ist – das ist unser großes Projekt für das 21. Jahrhundert. Gemeinsam kriegen wir das hin. Und wir fangen gerade erst richtig an!“

So ungefähr würde es klingen. Die breite – übrigens mitnichten „abstürzende“ – Mitte dieser Gesellschaft wartet längst auf solch ein Signal zum Aufbruch. Und beträchtliche Teile der SPD versuchen sogar tapfer, die ebenso richtige wie Erfolg versprechende Botschaft offensiv im Land zu verbreiten. Doch sie dringen kaum durch, weil ihnen auf Schritt und Tritt andere Sozialdemokraten nörgelnd ins Wort fallen, die von den zum Nutzen der Menschen erreichten Erfolgen ihrer Partei nichts wissen wollen. Eben das ist das Eigentümliche, geradezu Gespenstische an dieser Partei. Lange geht es so nicht mehr gut. Bekommen in der SPD jene Oberwasser, für die selbst volle Gläser aus Prinzip mindestens halbleer zu sein haben, geht die Partei lausigen Zeiten entgegen.

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