Parteiensystem und wirkliche Welt
Manfred G. Schmidt, Politikwissenschaftler (2007)
Die Konflikte innerhalb des sich verändernden deutschen Parteiensystems haben in den vergangenen Monaten zuweilen bizarre Züge angenommen. Das ist einerseits verständlich. Die Akteure sind oftmals noch aufgewachsen in der „heilen Welt“ des guten alten Zweieinhalb-Parteien-Systems mit der FDP als Zünglein an der Waage. Und sie waren gewöhnt an das politische Lagerdenken der vergangenen zwei Jahrzehnte. Rot-Grün versus Schwarz-Gelb, so war das, so hatte es zu sein. Kein Wunder also, dass die Begegnung mit veränderten Verhältnissen nach dem Verfahren von trial and error erfolgt. Andererseits erschüttert es schon, wie sehr das Erfordernis, entweder funktionstüchtige Große Koalitionen zu organisieren oder taugliche Drei-Parteien-Regierungen in Gang zu setzen, nahezu alle Beteiligten zu überfordern scheint. Bislang überwiegt dabei allemal der error. Vorgeführt wird der zunehmend frustrierten Öffentlichkeit ein Schauspiel vollendeter Selbstreferenzialität in einem binnenfixierten Politikbetrieb. Wer kann vielleicht mit wem? Wer mag mit wem gar nicht? Wer empfindet sich als Wahlsieger, obgleich er gar nicht gewonnen hat? Welche erbitterten Gegner von gestern erscheinen über Nacht als geradezu ideale Partner für morgen? Das sind die ganz und gar taktischen Fragen des hochtourig leerlaufenden politischen Routinebetriebs und seines auf Personalien und Finessen fixierten journalistischen Anhangs.
Aber es sind die falschen Fragen. Parteien und Parteiensysteme sind niemals Selbstzweck. Das letztlich entscheidende Testkriterium für alle Koalitionen wird immer sein, welchen Beitrag sie zur Lösung tatsächlicher Probleme des Landes leisten. Die großen Herausforderungen unseres Landes sind bekannt. Sie heißen Globalisierung und ökonomischer Strukturwandel, Bildungskrise und demografische Misere, vergangenheitslastiger Sozialstaat und staatliche Überschuldung, scheiternde Integration und terroristische Bedrohung. Getting things done – weil sich die geschäftigen Manager des politischen Hochbetriebs darauf verlassen können, am Ende an genau diesem Anspruch gemessen zu werden, sollte dies auch die Messlatte ihrer koalitionspolitischen Entscheidungen sein. In diesem Licht hat die Berliner Republik die Generalsekretäre der Parteien gebeten, ihre Überlegungen zum neuen deutschen Parteiensystem zu Papier zu bringen. Ihre Ausführungen sollten daraufhin abgeklopft werden, welchen Beitrag zu handfesten Lösungen für konkrete Probleme sie versprechen. Dass sich der Generalsekretär der CDU trotz wiederholter Bitten nicht im Stande sah, eine eigene Deutung beizutragen, bedauern wir besonders.