Die neue Koalition des Fortschritts

EDITORIAL

Zehn Jahre Berliner Republik, das deckt sich ziemlich genau  mit dem politischen Zyklus, den 1998/1999 der Beginn der rot-grünen Ära sowie der Umzug von Bundesregierung und Bundestag nach Berlin einläuteten – und der im Herbst 2009 mit der schweren Wahlniederlage und Abwahl der SPD aus der Bundesregierung wieder zu Ende ging. Etwa 600 Autorinnen und Autoren sind in diesen Jahren in 60 Ausgaben auf 6.000 Seiten den sich in vieler Hinsicht  rapide verändernden Verhältnissen unseres Landes in einer sich rapide verändernden Welt auf den Grund gegangen. Sie taten das in suchender, in analytischer und interpretierender, aber ausdrücklich auch in präskriptiver, auf Veränderung und Erneuerung dringender Absicht.

Denn bei aller – ausdrücklich angestrebter – Meinungspluralität hat sich diese Zeitschrift stets als Plattform und Protagonistin eines nachdenklichen, aber entschiedenen Fortschrittsdiskurses begriffen. Manche halten den Begriff des Fortschritts nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts für verbrannt. Die Autoren der Berliner Republik sind – grosso modo – anderer Ansicht.  Die Welt, wie sie ist, ist eben nicht so gut, dass sie keiner Verbesserung mehr bedürfte: Diese Feststellung ist der Anfang jedes progressiven Nachdenkens und jeder progressiven Politik. Der Fortschrittsdiskurs, der in diesem Geist in der Berliner Republik geführt wird, strebt nicht nach irgendwelchen „geschlossenen Politikkonzepten“ (die, wie die Erfahrung lehrt, regelmäßig ins Verderben führen), sondern sucht mit Neugier und produktiver Ungeduld nach Möglichkeiten zur kontinuierlichen Selbst-Verbesserung unserer offenen Gesellschaft. Immer wieder ging es daher im vergangenen Jahrzehnt in der Berliner Republik um einen Fortschritt, der darauf zielt, dass immer mehr Menschen immer bessere Lebens- und Verwirklichungschancen besitzen sollen; um einen Fortschritt, der Menschen neue Handlungsoptionen und Aufstiegsmöglichkeiten erschließt. Das Konzept des vorsorgenden, in die Fähigkeiten der Menschen investierenden Sozialstaates, intensiv gefördert von den Herausgebern dieser Zeitschrift, weist in eben diese Richtung.  

Dass sich die neue schwarz-gelbe Regierungskoalition nicht als Kraft des Fortschritts erweisen würde, war so zu erwarten.  Weniger erwartbar war indes, dass quer zu den Parteien so etwas wie die Koalition eines neuen progressiven Denkens entstehen könnte. Doch genau diese informelle Koalition gibt es. Sie manifestiert sich in der vorliegenden Jubiläumsausgabe der Berliner Republik. Zu ihr zählen Wissenschaftler und Publizisten, viele Sozialdemokraten und Grüne, auch manche Mitglieder der Linkspartei – und womöglich sogar eine Handvoll Freidemokraten, die die große progressiv-liberale Tradition ihrer Partei nicht völlig vergessen haben.    

„Freiheit darf kein Privileg werden, und das heißt, dass es ein Gebot der Politik der Freiheit ist, mehr Menschen, prinzipiell allen Menschen die Anrechte und das Angebot zu verschaffen, die wir selber schon genießen“: Hinter diesem Leitmotiv des klugen Liberalen Ralf Dahrendorf können sich Progressive aller Parteien heute mühelos vereinigen. Die enormen ökonomischen, gesellschaftlichen und ökologischen Probleme der kommenden Jahre werden schwierige Bedingungen für eine Politik des Fortschritts schaffen – umso dringender wird diese gebraucht. In runderneuerter Optik wird die Berliner Republik ihren Beitrag zum Fortschritt des Fortschritts leisten. Der Politikzyklus des neuen Jahrzehnts kann beginnen.


TOBIAS DÜRR

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