Welches Wachstum wollen wir?
Die wollen wir überwinden. Einfach gestrickte Gemüter stellen sich die Sache etwa so vor wie unsere Bundeskanzlerin. Die sagt: „Wir brauchen dringend wieder Wachstum.“ Denn: „Wachstum schafft Arbeit.“ Und wo mehr gearbeitet wird, da purzelt nicht bloß die Erwerbslosenquote, da wird auch neues Wachstum geschaffen, so dass die Steuern sinken können. Das schafft noch mehr Arbeit, und ermöglicht höhere Einkommen. Dies wiederum lässt die Nachfrage steigen, was selbstverständlich zu noch mehr Wachstum und noch mehr Arbeit führt – und schon ist das schönste ökonomische Perpetuum Mobile in Gang gekommen.
Denn die sprudelnden Überschüsse setzen Bund, Länder und Gemeinden unverzüglich dafür ein, in Riesenschritten ihre 1.700 Milliarden Euro Schulden zu begleichen. Auch das ist gut für das Wachstum, weil die Regierung nun schon bald viel mehr Geld zur Verfügung hat, um – natürlich „strategisch“ – in Bildung und Innovation zu investieren, was unsere Wirtschaft noch produktiver und unsere Ausfuhren noch wettbewerbsfähiger macht. So steigt Deutschland wieder zum unangefochtenen Exportweltmeister auf. Das eröffnet weitere Verteilungs spielräume, mit denen sich zusätzliche Steuersen kungen sowie, rechtzeitig zum Wahljahr 2013, endlich auch wieder höhere Sozialleistungen finanzieren lassen. Den Wahlkampf prägt ein hitziger Überbietungswettlauf um die Frage, ob das Renten eintritts alter auf 63 auf 60 oder auf 58 Jahre gesenkt werden sollte. Unter dem Druck der CSU schwenkt die Bundeskanzlerin eilig auf 58 Jahre ein und erklärt, dies sei ohnehin ihre „ur sprüng liche Zielmarke“ gewesen. Das Volk ist glücklich und dankbar. Angela Merkel wird mit triumphaler Mehrheit wiedergewählt.
So wird es nicht kommen, das ahnt sogar die schwäbische Hausfrau. Viel zu bizarr, weit übertrieben! Das stimmt natürlich. Doch überzeichnet werden hier im Grunde nur die Annahmen und Fiktionen des altbundesrepublikanischen Wirtschaftswunderglaubens, den beileibe nicht nur die Bundeskanzlerin noch
immer öffentlich vertritt. Sogar Angela Merkel selbst dürfte indes klar sein, dass die „Erfolgslogik des alten Modells“ (Henrik Enderlein) ganz einfach nicht mehr trägt. Dafür spricht immerhin ihre vorsichtig tastend bekundete Bereitschaft, auch über „neue Formen des Wohlstands“ mit sich reden zu lassen. Was könnte hinter dieser Formulierung wohl anderes stecken als die Einsicht, dass unsere wirtschaftliche und soziale Zukunft völlig
anders funktionieren wird als unsere Vergangenheit? Damit sie allerdings wirklich funktioniert, damit wir also nicht bloß „irgendwie in die Zukunft schlittern“ (Dominik Cziesche), müssen wir auch in Deutschland mit Neugier und Ernst (aber ohne jeden Kulturpessimismus) darüber ins Gespräch kommen, was unsere visionslose Fixierung auf das BIP ersetzen könnte: Wie wollen wir leben? Was genau soll eigentlich wachsen?
Die Chancen dafür, dass diese Debatte auch auf der politischen Ebene jetzt endlich in Gang kommt, stehen gar nicht so schlecht. Sozialdemokraten und Grüne im Bundestag setzen sich bereits für eine „Fortschritts-Enquete“ zum Thema ein. Und spätestens seit Meinhard Miegel (in diesem Heft interviewt von Piotr Buras) die Frage nach dem Verhältnis von Wirtschafts - wachstum und Lebensqualität bis weit hinein in bürgerlich-konservative
Milieus trägt, dürfte es auch für Union und FDP immer schwieriger werden, dem längst fälligen Diskurs weiter auszuweichen. Dieses Heft liefert jede Menge Ideen dafür.