Auslaufmodell Generationengerechtigkeit?
Die rentenpolitischen Vorhaben der Großen Koalition gehen zulasten der nachrückenden Generationen und jetzigen Beitragszahler und konterkarieren die Rentenreformen der jüngeren Vergangenheit. Hingegen sind die vor der Wahl in Aussicht gestellten Leistungen für Familien mit Kindern im Verlauf der Koalitionsverhandlungen schnell wieder in der Schublade verschwunden. Dazu passt, dass das Wort „generationengerecht“ im schwarz-roten Koalitionsvertrag nur dreimal vorkommt.
Sie sind viele. Und sie gehen wählen
Die inhaltliche Ausrichtung der Großen Koalition ist ein Beleg für das wachsende Stimmengewicht der Älteren: Bei der Bundestagswahl stellten die über 60-Jährigen 34 Prozent der 61,8 Millionen Wahlberechtigten, während der Anteil der unter 30-jährigen Wähler gerade einmal bei 17 Prozent lag. Im Jahr 2020 werden voraussichtlich 40 Prozent aller Wahlberechtigten über 60 Jahre alt sein. Diese Wählergruppe ist nicht nur quantitativ in der Überzahl, im Vergleich zu jüngeren Alterskohorten geht sie auch häufiger zur Wahlurne. Ihre Wahlbeteiligung war bei allen bisherigen Bundestagswahlen überdurchschnittlich hoch; sie lag stets über 80 Prozent. Erst bei den über 80-Jährigen nimmt die Wahlbeteiligung aufgrund körperlicher Beschwerden und Gebrechlichkeit wieder ab. Im Umkehrschluss auf ein generelles politisches Desinteresse der Jüngeren zu schließen, wäre jedoch falsch. Denn Wählengehen ist als habitueller Akt zu verstehen, der erlernt werden muss. Erst mit zunehmendem Alter stellt sich ein positiv besetztes Pflichtbewusstsein ein – vorausgesetzt, man hat in jungen Jahren entsprechende Erfahrungen mit dieser staatsbürgerlichen Aufgabe gemacht.
Abgesehen von ihrem zahlenmäßigen Gewicht, das durch den hohen Beteiligungsgrad noch verstärkt wird, zeigten die älteren Wähler bei der jüngsten Bundestagswahl auch eine klare Präferenz für die Große Koalition: Nahezu die Hälfte aller über 60-Jährigen wählte die Union und 28 Prozent die SPD. Beide Parteien erhielten in dieser wichtigen Wählergruppe ihr jeweils bestes Ergebnis.
Geraten die Jüngeren in die Defensive?
Den vermeintlichen Wünschen der wachsenden Wählergruppe „60 plus“ tragen nicht zuletzt die Sozialstaatsparteien CDU/CSU und SPD Rechnung und richten ihr Politikangebot besonders in Wahlkampfzeiten entsprechend aus. Gewiss ist die Mobilisierung von Wählersegmenten weit über den Kreis der älteren Wählerschaft erforderlich, um Mehrheiten zu erzielen. Die Diskussion um Mütterrente, „Rente mit 63“ und Erwerbsminderungsrente verdeutlicht aber, wie CDU und SPD ihre Wahlklientel bedienen, indem sie deren vermeintliche Wünsche und Erwartungen im Vorfeld aufgreifen.
Hinzu kommt ein zweiter Aspekt: die Überalterung der eigenen Mitgliederstruktur. In beiden Volksparteien ist die Hälfte aller Mitglieder älter als 60 Jahre, der Anteil der unter 35-Jährigen liegt bei Union wie SPD nicht einmal bei zehn Prozent. Als anwesende Mehrheit sind es die mittlerweile in die Jahre gekommenen Parteiaktiven der sechziger und siebziger Jahre, die zwar nicht durch eigenes Machtstreben, aber durch ihre große Zahl den Kurs ihrer Parteien entscheidend mitbestimmen. Um unkontrollierten Widerstand möglichst zu vermeiden, nehmen Funktionäre und Mandatsträger, die wiedergewählt werden wollen, nicht selten im Vorhinein bestimmte Wünsche und Präferenzen auf oder umschiffen vermutete Konfliktlagen. Zusammengefasst: In der alternden deutschen Gesellschaft ist keine breite Seniorenbewegung erforderlich – die Politik greift die Themen und Prioritäten der Älteren antizipatorisch auf.
Mit Blick auf diese Mehrheitsverhältnisse drängt sich die Frage auf, ob in der alternden Gesellschaft die Älteren stets Gewinner der politischen Auseinandersetzung sein und die Jüngeren das Nachsehen haben werden. Wird ein politischer Konservatismus dominieren, der eine einseitige Klientelpolitik zugunsten der Älteren betreibt? Geraten die Interessen der jüngeren Generation aufgrund ihres geringeren Stimmengewichts ins Hintertreffen? In Demokratien bedeutet Masse Macht. Durch den demografischen Wandel verändert sich sukzessive die Zusammensetzung der Wählerschaft: Rund 20 Millionen Personen im Ruhestand stehen einer kleiner werdenden Gruppe erwerbstätiger Jüngerer gegenüber. Auch wenn man nicht generell von einem zunehmenden Alterskonservatismus ausgehen sollte, belegen jüngste Studien die Existenz eines sogenannten Alterseffektes: Die Interessen von Jung und Alt können auseinander driften, etwa wenn es um den Bau von Kindergärten oder Schulen geht. Demnach sind vor allem kinderlose Ältere ohne Kontakt zu Kindern und Jugendlichen weniger bereit, solche Investitionen zu unterstützen.
Wie Familien benachteiligt werden
In einem Beitrag für die Zeitschrift für Parlamentsfragen sieht Gerhart Meixner eine Mitverantwortlichkeit des Wahlrechts für die wiederholte Benachteiligung von Familien durch die Politik. Diese führt zu einer anhaltend niedrigen Geburtenrate und wirkt sich damit auf die sozialen Sicherungssysteme aus. Um Alterseffekten im demokratischen Entscheidungsprozess entgegenzuwirken, hat Österreich 2007 das aktive Wahlalter für die Wahlen zum Nationalrat von 18 auf 16 Jahren gesenkt. In Deutschland dürfen 16-Jährige mittlerweile in zehn Bundesländern bei den Kommunalwahlen teilnehmen. Bei Wahlen auf Landesebene sind 16-Jährige nur in Hamburg, Bremen und im kommenden September auch in Brandenburg als Erstwähler zugelassen. Schleswig-Holstein diskutiert ebenfalls eine entsprechende Verfassungsreform.
Die größten Gegner eines Wahlrechts ab 16 auf Bundesebene finden sich im bürgerlichen Lager. Kritiker aus CDU und FDP argumentieren, Jugendliche seien in diesem Alter noch nicht in der Lage, komplexe politische Zusammenhänge zu verstehen. Sie könnten die Rechtsfolgen ihrer Handlungen nicht abschätzen und seien anfälliger für den Einfluss von Extremisten. Dem Argument der fehlenden geistigen Reife – welches empirisch nicht bestätigt ist – kann man entgegenhalten, dass es in der Bundesrepublik glücklicherweise weder eine Altersobergrenze noch eine Wahlbeschränkung bei geistiger oder körperlicher Beeinträchtigung gibt. Einige Christdemokraten scheinen vielmehr die Sorge zu haben, dass Erstwähler ihre Stimme überproportional häufig dem linken Lager geben. Dass dies nicht immer zutrifft, zeigt das Ergebnis der Bundestagswahl: Ein Drittel der 18- bis 21-Jährigen wählte die Unionsparteien.
Um die Machtarithmetik zwischen Jung und Alt auszubalancieren, wird neben der Senkung des Wahlalters das Stellvertreter- beziehungsweise Elternwahlrecht diskutiert. Beim Stellvertreterwahlrecht besteht das aktive Wahlrecht von Geburt an, die Eltern üben es treuhänderisch bis zur Volljährigkeit ihrer Kinder aus. Beim Elternwahlrecht erhalten Eltern eine Stimme pro Kind. Ein anderer Vorschlag sieht vor, dass Minderjährige ihr staatliches Grundrecht ausüben können, sobald sie dazu in der Lage sind und ihren Wunsch nach politischer Partizipation allein in einem Wahlregister eintragen können („Wahlrecht durch Eintragung“). Voraussetzung für das Wahlrecht wäre also die eigenständige, ernst gemeinte Willensbekundung.
Wahlen in den Zeiten der Alterung
Ab dem Alter von 14 Jahren ist man strafmündig. Warum spricht man Jugendlichen andererseits das Interesse an der Politik und Entscheidungsfähigkeit ab? Diejenigen, die noch ihr ganzes Leben lang die Folgen politischer Entscheidungen zu tragen haben werden, verfügen über keine Stimme. Die genannten Modelle mögen auf den ersten Blick unorthodox oder schwer um- und durchsetzbar erscheinen, aber eine breite, parteiübergreifende Debatte über demokratische Wahlen unter dem Signum der gesellschaftlichen Alterung ist längst überfällig.
Union und SPD sehen die Energiewende und den demografischen Wandel als größte politische Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte. Mit ihrer Demografiestrategie will die Bundesregierung vor allem auch den Zusammenhalt zwischen den Generationen stärken. Um Generationengerechtigkeit als verbindliches Leitprinzip im politischen Prozess zu etablieren, sieht der Koalitionsvertrag zudem vor, einen so genannten Demografiecheck einzuführen: Gesetzesvorhaben, Richtlinien und Investitionen sollen in Zukunft daraufhin überprüft werden, wie sie sich auf die kommenden Generationen auswirken können. Wie eine solche Überprüfung in der Praxis aussehen wird, bleibt abzuwarten. Der jüngeren Generation ist nur zu wünschen, dass der Begriff der Generationengerechtigkeit nicht zur politischen Plattitüde verkommt.