Ergreifen die Alten die Macht?

In allen Parteien wächst der Anteil der Älteren, die Arbeit an der Basis wäre ohne sie nicht möglich. Als Beteiligungsplattformen stehen Foren wie die Seniorenunion oder die AG 60 plus zur Verfügung. Von Machtübernahme kann dennoch keine Rede sein

Die deutschen Parteien altern stärker und schneller als die gesamte Gesellschaft. Bei politischen Veranstaltungen dominieren die grau melierten Häupter, unter 30-Jährige sind nur vereinzelt anzutreffen. Das Altern der Parteien gründet sich nicht allein auf dem gesellschaftlichen Alterungsprozess insgesamt, sondern auch auf der Schwächung ihrer sozialen Milieus und einen generellen Wertewandel. Ist mit der wachsenden Zahl der über 60-Jährigen in den Parteien auch eine Machtverschiebung zugunsten der Älteren erkennbar? Betreiben die alternden Parteien in einer alternden Gesellschaft Politik zugunsten der vielen Älteren – und zulasten der wenigen Jüngeren?


Für Parteien sind die über 60-Jährigen sowohl eine relevante Wählerklientel als auch eine wichtige Mitgliedergruppe. Und aufgrund des demografischen Wandels wird ihre wahlpolitische Bedeutung zweifelsohne zunehmen, denn diese Altersgruppe wächst stetig: Im Jahr 2040 werden voraussichtlich 40 Prozent aller Wähler 60 Jahre oder älter sein. Ihre Wahlbeteiligung ist konstant überdurchschnittlich hoch und beträgt bei Bundestagswahlen rund 80 Prozent. So machten bei der Bundestagswahl 2005 volle 80,7 Prozent der über 60-Jährigen von ihrem Wahlrecht gebrauch, aber nur 67,9 Prozent der 18- bis 24-Jährigen. Insgesamt lag die Wahlbeteiligung bei 78,3 Prozent.


Werden die Älteren also künftig als mächtige Wählergruppe das politische und gesellschaftliche Leben in Deutschland bestimmen? Als Erklärungen für das Wahlverhalten der über 60-Jährigen stehen sich in der Wahlforschung die Lebenszyklusthese und die Kohortenthese gegenüber. Vertreter der Lebenszyklusthese gehen davon aus, dass Menschen mit zunehmendem Alter bürgerlich-konservative Parteien bevorzugen („Alterskonservatismus“). Doch dagegen sprechen so genannte Kohorteneffekte, die auf politische Sozialisationsprozesse zurückgehen. Die entscheidende Rolle spielen dabei die individuellen Erfahrungen als Erstwähler. Beispielsweise werden die Angehörigen der „Willy-Brandt-Generation“, die Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre erstmals zur Wahl gingen, mit Vollendung des 60. Lebensjahres wohl kaum mehrheitlich rechts-konservativ wählen. Wenn sie es tun, hat das nichts mit ihrem Alter zu tun.

Ältere wollen, dass es allen gleich gut geht

Nein, die Älteren sind keine homogene Gruppe mit gleichen Interessen und Zielen, und sie interessieren sich auch nicht allein für die eigenen, altersspezifischen Belange. Vielmehr differenzieren sie sich nach Geschlecht, Einkommen, Schicht, Gesundheitszustand und biografischen Hintergründen – wie alle Altersgruppen. Jene Stimmen, die vor einem zunehmenden Alterskonservatismus in den Parteien warnen, unterstellen den älteren Parteimitgliedern partout ein ausschließlich an seniorenspezifischen Themen orientiertes Interesse. Auch diese Annahme beruht auf einem verzerrten Altersbild. Denn aufgrund von familiären Beziehungen haben die meisten Älteren auch ein Interesse daran, dass es ihren Kindern und Enkelkindern gut geht. Die Mehrheit der Älteren strebt eine Politik an, die allen Generationen gleichermaßen zugute kommt.


Der Alterungsprozess innerhalb der Parteien wird dadurch verstärkt, dass vor allem die Jüngeren mehrheitlich fernbleiben beziehungsweise häufiger austreten als ältere, langjährige Mitglieder. Parteien leiden somit neben der demografisch bedingten „Überalterung“ zugleich an „Unterjüngung“. Im Jahr 2007 waren 46,7 Prozent der SPD-Mitglieder 60 Jahre oder älter, in der CDU umfasste diese Personengruppe 48 Prozent der Gesamtmitgliedschaft. Die FDP verzeichnete 34,9 Prozent ältere Mitglieder. Bündnis 90/Die Grünen sind die „jüngste“ Partei: Im Jahr 2007 betrug der Anteil der Mitglieder, die 61 Jahre oder älter waren, 11,5 Prozent. Die „älteste“ Partei zum Jahresende 2006 war die Linkspartei, in der annährend drei von vier Parteimitgliedern 60 Jahre oder älter waren. Dass die Parteien altern, ist kein neues Phänomen. In wissenschaftlichen Untersuchungen der vergangenen Jahre wird die „Überalterung“ als ein Symptom der vermeintlichen Krise der Mitgliederparteien immer wieder benannt. Elmar Wiesendahl spricht gar vom „Altenheimcharme der Parteien“.

Bei der SPD ist jeder Zweite über 60

Seit Ende der achtziger beziehungsweise Anfang der neunziger Jahre stehen den älteren Mitgliedern in CDU und SPD die „Senioren-Union“ und die „Arbeitsgemeinschaft der Älteren“ (AG 60 plus) als Beteiligungsplattformen offen. Die Parteiführungen sahen sich vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Mitgliederentwicklung gezwungen, den Parteiangehörigen im Ruhestand Partizipationsmöglichkeiten in den eigenen Strukturen einzuräumen. Auch Bündnis 90/Die Grünen gründeten im Jahr 2004 die innerparteiliche Gruppe „Grüne Alte“, ebenso bietet die FDP ihren älteren Mitgliedern eigene Strukturen an. Selbst die Linkspartei hat eine Seniorenarbeitsgemeinschaft, obwohl deren Mitglieder im Alter über 60 Jahre immerhin 68,1 Prozent der Gesamtmitglieder ausmachen. Bleibt die zentrale Frage: Nehmen die Älteren in den Parteien auch in Machtfragen das Zepter in die Hände, um eine Politik zu ihren Gunsten zu gestalten? Ein Blick in die SPD soll exemplarisch Aufschluss geben.


Die SPD hatte Ende des Jahres 2007 insgesamt 539.861 Mitglieder, davon waren 46,7 Prozent (252.115) 60 Jahre oder älter. Die strukturelle Dominanz der Betagten ist somit nicht mehr zu übersehen. Vor allem fehlt es der Partei an jungen Leuten: Zum gleichen Zeitpunkt waren lediglich 5,8 Prozent der Mitglieder im Alter unter 29 Jahren. Da alle Parteimitglieder mit der Vollendung des sechzigsten Lebensjahres automatisch auch Mitglied der AG 60 plus werden, stellt die zuletzt gegründete aller Arbeitsgemeinschaften auch die mitgliederstärkste Gruppe in der SPD dar.

Vertreten Eppler und Vogel die AG 60 plus?

Die im Jahr 1994 unter ihrem ersten Vorsitzenden Hans-Ulrich Klose gegründete AG 60 plus wurde zunächst als formale Organisationseinheit innerhalb der Partei eingerichtet, um den Forderungen nach stärkerer innerparteilicher Beteiligung älterer Mitglieder Rechnung zu tragen und sich damit auch Neumitgliedern dieser Altersgruppe für den Quereinstieg in die aktive Politik zu öffnen. Auch wenn die AG 60 plus den Anspruch hat, ein breites Spektrum an gesellschaftlichen Themen anzusprechen, so stehen doch alterspezifische Interessen wie Fragen zur Gesundheit, Pflege oder Rente im Vordergrund. Die Arbeitsgemeinschaft ist finanziell und organisatorisch von der Mutterpartei abhängig. Sie besitzt zwar ein Antragsrecht und ist redeberechtigt, verfügt jedoch über keine Stimme im Parteivorstand. Ebenso stehen keine führungsstarken Persönlichkeiten an ihrer Spitze. Wenn sich Führungspersönlichkeiten wie beispielsweise der 82-jährige Erhard Eppler oder der gleichaltrige Hans-Jochen Vogel vernehmbar zu Wort melden, so werden sie nicht als Vertreter der AG 60 plus wahrgenommen. Sie agieren eher als eine Art nicht-institutionalisierter „Ältestenrat“. Die AG 60 plus stellt keine machtvolle, prägende Kraft der Älteren in der Partei dar, die in erheblichem Maße Einfluss auf die politischen Inhalte ausübt. Gegenwärtig engagieren sich etwa 40.000 SPD-Mitglieder aktiv in der AG 60 plus. Es sind vor allem die heute zwischen 70- und 80-Jährigen, die in den ersten Jahren nach der Gründung der Arbeitsgemeinschaft dazugestoßen und mit ihr gealtert sind.


Die Mehrheit der Aktiven will keine Mandate mehr erlangen, zumal viele von ihnen im Laufe ihres politischen Lebens überwiegend auf kommunaler Ebene Amts- und Mandatsträger waren. Vielmehr ist die Arbeitsgemeinschaft für diese Altersgruppe ein Ort der sozialen Begegnung, in dem die geteilten Gemeinschaftserlebnisse als soziales Kapital eine wichtige Bindungsfunktion erfüllen. Zugleich leidet die AG 60 plus an einem „Nachwuchsproblem“ bei den 60-Jährigen, die sich durch ihre kollektiven Sozialisationserfahrungen maßgeblich von der „Kriegsgeneration“ unterscheiden. Zu den Alten in der Arbeitsgemeinschaft wollen sie sich nicht gesellen. Ein Engagement, das sich allein durch das Alter definiert, wird von diesen „jungen Alten“ weitgehend abgelehnt; die Aktiven unter ihnen beteiligen sich nach wie vor in den Ortsvereinen.

Die reichste Rentnerpopulation aller Zeiten

Mit 23 Prozent sind die 55- bis 69-Jährigen heute die größte Altergruppe in der SPD. Die in die Jahre gekommene „Achtundsechziger“-Generation, die im Nachkriegsdeutschland politisch sozialisiert wurde und in den sechziger und siebziger Jahren in Massen in die SPD strömte, prägt auch im fortschreitenden Alter das Bild der Partei vor Ort. Als Jugendliche und junge Erwachsene formten sie damals die Partei, gaben ihr ein neues Profil. Heute, als Rentner mit Zeit und Muße, tun sie das nicht minder. So verändert ihre Kohorte gesamtgesellschaftlich das Bild vom Altern. Dominierten früher negative Stereotype von gebrechlichen, grauhaarigen Greisen, erscheinen die heute über 60-Jährigen alles andere als das zu sein: Im Vergleich zu früheren Rentnergenerationen gelten sie in der Mehrzahl als gesundheitlich fit und aktiv, haben eine höhere Bildung und ein höheres Einkommen, engagieren sich bürgerschaftlich und gehören zur kaufkräftigsten Konsumentengruppe. Die gegenwärtige Generation im Ruhestand ist die reichste Rentnerpopulation, die es je in Deutschland gab (und geben wird). Die „Silberfüchse“, wie sie von manchen Marketing-Experten genannt werden, empfinden ihr Rentnerdasein keineswegs als eine „Zeit auf dem Abstellgleis“. Vor allem aber wollen sie nicht als alt gelten.

Seniorengruppen sind nicht mehr zeitgemäß

Zweifellos hat diese Altersgruppe allein schon zahlenmäßig ein gewisses Einflusspotenzial innerhalb der Partei. Überdies stellt sie wichtige Ressourcen in Form von Zeit und Erfahrungswissen zur Verfügung. Die Arbeit in den Ortsvereinen wäre ohne sie nicht vorstellbar, ihr Engagement ist für das Parteileben unerlässlich. Auch Straßenwahlkämpfe vor Ort wären ohne ihre Unterstützung und Mitarbeit nicht mehr möglich. Dennoch haben viele Mitglieder in den mittleren Altersgruppen im Alter zwischen 31 und 59 Jahren die Vorstellung, dass die Älteren in den Vorständen Platz für die Jüngeren machen sollten. In Wirklichkeit kann sich dies jedoch keine Mitgliederpartei leisten, zumal sich nur noch wenige Jüngere für die kontinuierliche örtliche Parteiarbeit interessieren beziehungsweise aufgrund der Doppelbelastung von Beruf und Familie nicht ausreichend Zeit dafür haben. Gleichzeitig stehen die Parteien vor dem Dilemma, dass sie für ihr Überleben als Mitgliederparteien auf Impulse durch die jüngere Generation angewiesen sind. Das Image als „Seniorenstammtisch“ wirkt dabei eher abschreckend.


Eine Machtverschiebung zugunsten der Älteren und einer altersspezifischen Politik ist nicht feststellbar. Die konkrete Ausgestaltung von Politik wird weiterhin im Machtzentrum der Partei-Eliten erarbeitet, die sich vor allem aus den mittleren Altersgruppen zusammensetzen. Anstatt also Szenarien einer bevorstehenden Gerontokratie heraufzubeschwören, sollte die SPD – wie alle anderen Parteien auch – die Älteren künftig besser einbinden. Das Angebot der Seniorengruppen allein hat sich als wenig effektiv erwiesen. Vielmehr stehen sie für das weiter vorherrschende Bild der Rollen- und Funktionslosigkeit der Älteren innerhalb der Parteien, das überwiegend in den Köpfen der Parteieliten der mittleren Altersgruppen zu finden ist. In einer alternden Gesellschaft und in alternden Parteien sind Strukturen, die sich ausschließlich an einem bestimmten Alter der Menschen festmachen, immer weniger zeitgemäß. Die Aufgabe besteht darin, ein zeitgemäßes, modernes und differenziertes Altersbild zu etablieren und das Engagement der Älteren in den Parteien als Chance zu begreifen. Dazu gehört eine Kultur der Anerkennung, die Wertschätzung der Potenziale in Form von Erfahrungswissen und vor allem das Bewusstsein darüber, dass Altern ein individueller, heterogener Prozess ist. Um dieses Ziel zu erreichen, ist ein generationenübergreifender Dialog innerhalb der Parteien notwendig. Nur so kann eine zukunftsorientierte Politik erreicht werden, die auch die Errungenschaften und das Altbewährte der Vergangenheit in neuen Zeiten kritisch in Frage stellt und sowohl von den Älteren als auch von den Jüngeren getragen wird.

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