Ausstieg ohne Plan und Logik
Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima verfielen Deutschlands Politiker zunächst in eine Schockstarre. Dann wurden sie hyperaktiv. Binnen Stunden beschloss die Regierung, die sieben ältesten Meiler vom Netz zu nehmen. Seitdem überbieten sich selbst Unionspolitiker in Prognosen, bis wann der Atomausstieg zu schaffen sei. Im Jahr 2023? Doch schon 2020? Oder sogar 2017?
Fraglos zwingt Fukushima – mehr noch als die zwei großen Reaktorkatastrophen von Three Mile Island oder Tschernobyl – die zivilen Atommächte zum Innehalten. Der Unfall in den USA geschah 1979, da ging die Welt noch vergleichsweise schlampig mit Atommeilern um. Auch Tschernobyl lag eine haarsträubende Sorglosigkeit zugrunde, außerdem war der Reaktor nach damaligen westlichen Standards höchst unsicher. Fukushima ist anders. Hier hat ein Hochtechnologieland das Restrisiko des Zusammentreffens eines schweren Erdbebens und einer schweren Flutwelle falsch eingeschätzt. Und die Ingenieure des Betreibers Tepco vermitteln wahrlich nicht den Eindruck, sie hätten die Lage im Griff.
Nach der Kernkraft wird es teuer
Deshalb ist Fukushima, mit Stufe 7 als schwerstmöglicher Unfall eingestuft, bedenklich. Aber macht der Unfall in Japan die deutschen Kernkraftwerke unsicherer? Wenn Beben und Tsunami gleichzeitig zuschlagen – heißt das auch, dass morgen eine voll besetzte Passagiermaschine in eine Reaktorhalle stürzen wird, die dafür nicht ausgelegt ist? Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Wer bisher das Restrisiko deutscher Atommeiler für akzeptabel gehalten hat, müsste es logischerweise weiterhin tun. Doch Logik und Konsequenz scheinen derzeit nicht die Stärken der Bundesregierung zu sein. Man darf und sollte das Restrisiko durchaus neu berechnen, man darf auch zu dem Schluss kommen, dass das bisher akzeptierte Restrisiko zu hoch ist – aber Berlin hat nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Bauch entschieden. Erstens hat die Koalition sich praktisch darauf festgelegt, die sieben ältesten, vorläufig abgeschalteten Meiler nicht wieder ans Netz gehen zu lassen. Dass Energiekonzerne dagegen klagen, ist verständlich, schließlich kann man auch nicht über Nacht die Besitzer älterer Autos zwingen, diese abzumelden. Möglicherweise wird die Klage dazu führen, dass andere Kernkraftwerke länger laufen dürfen, vielleicht sogar bis 2050, weil Reststrommengen übertragen werden müssen.
Zweitens setzt ein schneller Ausstieg voraus, dass Deutschland erneuerbare Quellen massiv ausbaut – oder ist irgendjemand ernsthaft für neue Kohlekraftwerke? Je rascher wir uns von der Kernkraft lossagen, umso teurer wird der Strom werden: Solarstrom wird sich nur importieren lassen, es sei denn man will weiterhin Solarzellen auf heimischen Dächern mit Milliarden von Euro fördern. Der Ausbau der Windräder in der Nordsee geht nur schleppend voran, das Problem sind vor allem die Netze und Speicher. Sollen Rotoren, Biokraftwerke, Hochspannungsleitungen und Pumpspeicherkraftwerke rasch gebaut werden, drohen Naturschutz und Mitspracherechte auf der Strecke zu bleiben. Wer jetzt Ausstiegsszenarien propagiert, muss die Rechnung dafür aufstellen: Was wird der Netzausbau kosten? Wie viele Fördermittel müssen in erneuerbare Energien fließen? Welche ökologischen Folgen hat das alles?
Deutschland handelt aber nicht nur aus dem Bauch heraus, sondern betreibt auch Bauchnabelpolitik. Viele andere Länder werden auf Kernenergie nicht verzichten. Etliche Nachbarländer werden auch in Zukunft auf Kernkraft setzen. Das kann uns nicht egal sein. Die Welt giert nach bezahlbarem Strom. Immer mehr Menschen bevölkern die Erde, und immer mehr wollen ein Leben in Wohlstand nach westlichem Vorbild. Wer würde es ihnen verwehren wollen? Hinzu kommt das Klimaproblem: Alle Kernkraft- durch Kohlekraftwerke zu ersetzen, wäre keine gute Lösung. Allein in chinesischen Kohlegruben sterben jährlich Tausende Arbeiter. Und die vom Treibhauseffekt verursachten Wirbelstürme und Überschwemmungen könnten im Prinzip sogar mehr Opfer fordern als eine Kernschmelze.
Temelin und Fessenheim laufen weiter
Welche Sicherheitsstandards man anlegt, hängt auch davon ab, welche Risiken man zu tragen bereit ist. Die Kernkraft-Länder müssen das Risiko jetzt tatsächlich neu bewerten. Warum hat Japan ein Kernkraftwerk betrieben, das nicht für noch stärkere Erdbeben ausgelegt war? Warum waren die Sicherheitssysteme der japanischen Meiler nur doppelt und nicht vierfach ausgelegt? Warum ließ Japan es zu, dass ehemalige Ministerialbeamte, die den Bau von Kernkraftwerken gefördert haben, später deren Aufsicht übernahmen? In keiner anderen Industrie sind Produktion und Aufsicht so offensichtlich verquickt wie in der Kernenergie. Und nirgendwo wirkt es sich so verheerend aus, wenn Sicherheitsregeln missachtet werden. In Fukushima ist das geschehen: Vielleicht hat der Tsunami die Notpumpen zerstört, aber vielleicht waren sie auch schon vorher nicht funktionsfähig.
Japans Katastrophe muss den Anstoß für strenge, weltweite Sicherheitsstandards geben. Die existieren bisher nicht. Wenn ein Staat ein Kernkraftwerk bauen will, darf er das, auch wenn ihm das Know-how fehlt. Wenn der russische Konzern Rosatom in Namibia für einen schwimmenden Atommeiler wirbt, ist das nicht verboten. Und niemand kann Frankreichs Präsidenten daran hindern, in die Krisenregionen des Nahen Osten Kraftwerke zu verkaufen. Zwar gibt es seit 1994 ein Abkommen für die nukleare Sicherheit, das die meisten Länder mit Kernkraftwerken unterzeichnet haben. Doch ohne unabhängige Aufsicht und ohne Kontrollen bleibt es wirkungslos. Europa versagt als Vorbild: Die Kommission hat es nicht geschafft, EU-Länder zu gemeinsamen Sicherheitsregeln zu verpflichten. Und der Stresstest, dem Europas Kernkraftwerke unterzogen werden sollen, ist freiwillig.
Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA hatte bisher zwei Aufgaben: die Menge an spaltbarem Material zu kontrollieren, was ihr in den vergangenen Jahren einigermaßen gelungen ist; und die Kernkraft voranzutreiben. Jetzt müsste sie eine dritte Aufgabe übernehmen und die bestmögliche Sicherheit garantieren. Dafür müssen die Kernkraftländer mehr Geld und Personal bereitstellen – und sich freiwillig einer internationalen Kontrolle unterwerfen. Die IAEA-Inspektoren müssten im Zweifel Baupläne revidieren können, sie sollten jederzeit Atommeiler kontrollieren und Atomexporte verhindern dürfen.
Dafür sollte Deutschland werben, anstatt ohne Rücksicht auf die Kosten nur möglichst rasch Meiler vom Netz zu nehmen. Zugegeben, es ist eine schwierige Aufgabe, mehr Sicherheit zu fordern, wenn man selbst aussteigt. Aber weltweite Sicherheitsstandards wären im eigenen Interesse. Noch sind viele Kernkraftwerke in Betrieb, auch direkt hinter den deutschen Grenzen, etwa im tschechischen Temelin oder im französischen Fessenheim. «