Europas hausgemachte Krise
„Europakritik wird schick“, diagnostizierte unlängst die Bertelsmann Stiftung. Ob die Libertas-Bewegung des irischen Milliardärs Declan Ganley, die tschechische Partei ODS, die Nouveau Parti Anticapitaliste, in dem sich Frankreichs Attac-Bewegung organisiert hat oder der CSU-Abgeordnete Peter Gauweiler, der vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Vertrag von Lissabon klagte – Europakritiker finden sich inzwischen in allen EU-Mitgliedsstaaten und in allen politischen Strömungen. Ihre Motive unterscheiden sich, doch fast immer arbeiten sie – mehr oder weniger offen – mit denselben Vorurteilen gegenüber der Brüsseler Eurokratie. Und sie stoßen bei den Bürgern Europas auf offene Ohren.
Was ist los in Europa? Warum ist die Glaubwürdigkeit der Union so angekratzt? Zunächst einmal: Viele Menschen haben das Vertrauen in die bindende Kraft der Union verloren. Der Zement, der das Fundament des europäischen Hauses lange zusammenhielt, war der Wunsch nach einem friedlichen und wohlhabenden Europa. Dafür waren die nationalen Regierungen bereit, Opfer zu bringen, indem sie die ärmeren Mitgliedsstaaten finanziell unterstützten. Am Anfang schien es noch leicht zu sein, Solidarität zu üben. Doch mit jeder Erweiterungsrunde wuchsen die Probleme, wie in einer Wohngemeinschaft, die immer größer wird. Die prinzipielle Frage des Gleichgewichts von Erweiterung und Vertiefung bleibt: Wie effizient kann ein Europa von 27 oder vielleicht noch mehr Mitgliedern die Probleme des Kontinents – Wirtschaftskrise, steigende Energiepreise oder Einwanderung – anpacken?
Eine Nation für sich allein kann diese Probleme gar nicht mehr lösen, es wäre die Aufgabe der EU. Und dennoch vertrauen viele Menschen nicht mehr der Kraft Europas. Dass ein Land wie Irland zunächst einmal den Vertrag von Lissabon ablehnt, obwohl die Iren wie fast kein anderes Volk von der Europäischen Gemeinschaft profitiert haben, muss als ernstes Warnsignal genommen werden. Und als die Iren letztlich zugestimmt haben, geschah das weniger aus Überzeugung als aus Angst, in der Finanz- und Wirtschaftskrise vollends abgehängt zu werden. In Zeiten der Unsicherheit klammern sich Menschen gerne an Tradiertes, und die Grenzen eines Nationalstaates scheinen ihnen da mehr Halt zu geben als das supranationale Gebilde Europa.
Die Glaubwürdigkeitskrise aber ist hausgemacht. Drei wesentliche Gründe sollen hier analysiert werden. Der erste Grund für den schwindenden Glauben in die Union liegt bei nationalen Politikern, die sich der europäischen Idee nicht mehr verpflichtet fühlen und sie – zumindest verbal – allzu oft verraten. Ein zweiter Grund ist in der widersprüchlichen Ausgabenpolitik der EU zu finden. Drittens sorgt der Brüsseler Apparat durch fehlende Transparenz und durch eine gewisse Anfälligkeit für Lobbyismus dafür, dass viele Menschen der EU-Politik misstrauen.
Eifersüchtig wachen Regierungen über ihre nationalen Kompetenzen und achten darauf, dass gemeinsame Institutionen, die sie selbst mit beschlossen haben, nicht allzu einflussreich werden. „Ein Europa wollen, ihm aber nichts gewähren – das ist nicht nur absurd, sondern gar kindisch“, stellt die französische EU-Abgeordnete Sylvie Goulard fest. Die Union, die doch mehr sein sollte als die Summe ihrer Nationalstaaten, ist zur Geißel ihrer Mitglieder geworden. Brüssel gibt den idealen Sündenbock ab. Eine Vorschrift wird erlassen, die bayerische Bauern zwingt, neue Traktorsitze anzuschaffen? Sie sei von regelungswütigen Beamten erfunden worden, heißt es dann. In Wirklichkeit aber drängte Deutschland die Kommission zu der entsprechenden Richtlinie, weil ein bayerischer Traktorenhersteller seine Marktposition festigen wollte. Manche Politiker beherrschen meisterhaft das Spiel, alles auf die EU zu schieben und Europa zu diskreditieren. Der frühere bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber gehörte zu dieser Spezies. Doch zuletzt musste auch Stoiber eingestehen, dass eine sinnvolle europäische Politik oft an den Mitgliedern scheitert – etwa im Fall der Verordnung über die Gurkenkrümmung. Als Stoiber, der inzwischen als oberster Bürokratiejäger den angeblichen Paragrafendschungel lichten soll, diese Verordnung auf die Streichliste gesetzt hatte, handelte er sich wütenden Protest nicht zuletzt von Parteifreunden in Deutschland ein.
Der Streit um die Gurkenkrümmung entbehrt nicht einer gewissen Komik, die jedoch den tragischen Kern des Konflikts kaschiert. Die schizophrene Haltung nationaler Politiker, die an dem einen Tag im Ministerrat ihre Unterschrift unter eine EU-Verordnung setzen, um am nächsten Tag zu behaupten, man selbst habe das alles nicht so gewollt, unterminiert die Glaubwürdigkeit der Gemeinschaft. Wenn in Brüssel unfähige Kommissare walten, deren regelungswütige Beamte ihnen ständig Gesetze unterjubeln, wie ist es dann mit der Legitimität der Kommission bestellt? Eine EU-„Regierung“, die ständig diskreditiert wird, genießt keinen Respekt. Das gilt auch für ein europäisches Gericht, an dessen Rechtsprechung gezweifelt wird. Als die Richter des Europäischen Gerichtshofs 2005 entschieden, dass Österreich Ausländern nicht den Zugang zu seinen Universitäten verwehren darf, schimpfte Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel laut: Das Gericht überschreite seine Kompetenzen, urteile zu zentralistisch, müsse besser kontrolliert werden. Dabei war der Richterspruch nur konsequent, weil er gleiches Recht für alle jungen Europäer forderte.
Generalangriff mit der Gurke
Die berühmt-berüchtigte Gurke taugt sogar als Anlass für einen Generalangriff auf Europa. Die EU sei eine „intransparente, komplexe Mammut-Institution“, die eine „immer stärkere, oft sachwidrige Zentralisierung von Zuständigkeiten“ betreibe, wetterte der frühere Bundespräsident Roman Herzog. Zu viele Gesetze entstünden in Brüssel, weshalb man die Bundesrepublik Deutschland „nur eingeschränkt als eine parlamentarische Demokratie bezeichnen“ könne. Herzog belegte seine Kritik mit einer Zahl, die von EU-Skeptikern seit Jahren herumgereicht wird: Mehr als vier Fünftel der in Deutschland gültigen Gesetze – darunter die Gurkenverordnung – seien inzwischen von Brüssel diktiert. Gibt es einen besseren Beweis dafür, dass die EU den Ländern die Macht entreißt? So argumentierte auch der CSU-Mann Gauweiler: Berlin und Karlsruhe müssten sich dem Joch Brüssels und Luxemburgs unterordnen.
Doch die besagte Zahl hat sich längst – mit Ausnahme des Agrarbereichs – als Chimäre erwiesen. Milchkühe, Legehennen und Maisfelder sind weitgehend EU-reguliert, vier Fünftel der Gesetze im Agrarbereich werden tatsächlich von Eurokraten geschrieben, hat der amerikanische Europaexperte Andrew Moravcsik von der Universität Princeton gezeigt. Doch in anderen Politikfeldern wie der Innen-, Arbeits- und Sozialpolitik entscheiden weitgehend die nationalen Parlamente. „Von europäischer Maßlosigkeit auf Kosten nationaler Gesetzgebung kann keine Rede sein“, sagt Moravcsik, der die Statistiken genau studiert hat. Er schätzt, dass Brüssel bei einem guten Drittel der nationalen Gesetzbücher mitredet.
Die Verleugnung europäischer Ideale und das Bloßstellen der EU-Institutionen erzeugen eine Stimmung des Misstrauens gegenüber Brüssel, die Ressentiments und Vorurteile gedeihen lässt. Dass die Union eine weltweit einmalige politische Konstruktion ist, die nur mit einer delikaten Balance zwischen Kommission, Parlament und Rat funktioniert, macht die Sache nicht einfacher. Politik in der EU ist komplizierter als in einem Nationalstaat, der eine Regierung und ein Parlament hat. Europa ist in der Krise, weil viele Bürger nicht mehr den Mehrwert der Europäischen Union erkennen. Europa ist auch in der Krise, weil Politiker sich aus ihrer Verantwortung stehlen. Am Sonntag predigen sie Europa, am Montag schmähen sie die Union.
Der aufkeimende Nationalismus zeigt sich auch beim Geld – Grund Nummer zwei für die Glaubwürdigkeitskrise. Denn so sparsam die Regierungen das gemeinsame Budget alimentieren, so großzügig sind sie beim Abrufen der Mittel. Peinlich genau achten die Mitgliedsstaaten darauf, dass sie auch – entsprechend ihren Beiträgen – genügend aus der Brüsseler Kasse zurücküberwiesen bekommen. „Juste retour“ heißt das in der Sprache der Europäer, der gerechte Rückfluss von Mitteln. Maggie Thatcher, die mit der Handtasche wedelt und einen Rabatt auf die britischen Beitragszahlungen einfordert – sie war lange Jahre die Personifizierung des nationalen Egoismus. Heute ist Thatcher überall. Auch Deutschland hat mit der Tradition gebrochen, als wirtschaftsstärkstes Land Europas nicht immer nur stur auf seine Kontoauszüge zu schauen, sondern großzügig den ärmeren Staaten unter die Arme zu greifen.
Brüssel verteilt Jahr für Jahr etwa 130 Milliarden Euro. Absolut gesehen ist das sehr viel Geld, immerhin fast halb so viel wie in Deutschland der Bund ausgibt. Gemessen an der Größe der Union mit ihren fast 500 Millionen Menschen ist die Summe – sie entspricht einem Prozent des Gesamtetats der Mitgliedsstaaten – jedoch bescheiden, bedenkt man die großen Aufgaben der Union: Die Lebensverhältnisse in Europa sollen sich angleichen, den Rumänen und Bulgaren soll es einmal so gut gehen wie den Deutschen und Franzosen. Zudem will die EU sich mit den großen Volkswirtschaften wie USA und China messen. So gesehen ist das eine Prozent, das die Mitgliedsstaaten aus ihren Etats für Brüssel abzweigen, nicht rasend viel.
Doch selbst dieses eine Prozent scheint oft genug schlecht angelegt zu sein, Europa wirtschaftet falsch. 55 Milliarden Euro jährlich fließen noch immer in den Agrarbereich. Doch davon profitiert nicht der Almbauer in den Alpen, der seine Wiesen mäht und so die hübsche Landschaft pflegt. Absahnen tun ganz andere, auch in Deutschland, wie die nach langer Geheimniskrämerei im Jahr 2009 endlich veröffentlichten Subventionen zeigen: Lebensmittelkonzerne, die Beihilfen erhalten, damit sie überschüssige Produkte aufkaufen; reiche Großgrundbesitzer, die sich häufig zum Spaß ein Landgut halten und die Brüsseler Beihilfen nicht nötig hätten; Großbetriebe, die die flachen Felder in Ostdeutschland gewinnbringend bewirtschaften. Ein Drittel der Landwirtschaftshilfen für Deutschland fließt an gerade einmal ein Prozent der bäuerlichen Betriebe, vier Fünftel der Bauernschaft muss sich ein weiteres Drittel der Subventionen teilen. Diese kleinen Landwirte kratzen am Existenzminimum.
Spaßbäder und Skatingbahnen mit EU-Geld
Stattdessen kommen nun zahlreiche Golfplätze, Freizeitclubs und Reitvereine, Eisenbahngesellschaften und Gemeinden in den Genuss der Beihilfen. Sie erhalten Agrarzahlungen dafür, dass sie Parks und Grünflächen pflegen. Darüber hinaus werden so absurde Dinge unterstützt wie spanische Baumwolle, die Unmengen an Wasser braucht und auf dem Weltmarkt ohnehin nicht gewinnbringend verkauft werden kann, oder der Export von Schweinefleisch nach Westafrika, wo die heimischen Viehzüchter unter der Konkurrenz aus Europa leiden.
Der andere große Topf des EU-Haushalts heißt „Regionalförderung“. Mit 53 Milliarden Euro jährlich greifen die reichen Ländern den bedürftigen unter die Arme, nach dem Prinzip „Integration durch Solidarität“: Europa soll zusammenwachsen. Was in der Theorie gut klingt, hat sich in der Praxis zu einem zuweilen absurden Geldkreislauf entwickelt. Denn die Mitgliedsstaaten achten peinlichst auf „juste retour“. Auch reiche Länder wie Deutschland schaffen es, sich einen Teil des Geldes zu sichern – für Nordrhein-Westfalen etwa, das sich nur zögernd von der Kohleförderung trennt, oder für die neuen Bundesländer. Dort werden mit EU-Geld Straßen repariert, Spaßbäder hochgezogen und Skatingbahnen gebaut. Viele Volkswirte zweifeln daran, dass die Subventionen tatsächlich ihren Zweck erfüllen und den Lebensstandard erhöhen, indem sie Jobs schaffen. Es handelt sich wohl eher um eine „optimale Ausschöpfung als um eine gut durchdachte Entwicklungsstrategie“, kritisierte auch der EU-Rechnungshof. Viele Regionen Europas sind trotz milliardenschwerer Unterstützung durch Brüssel arm geblieben, die Subventionen sind größtenteils verpufft. Wo allerdings in die Ausbildung von Menschen investiert wird statt in Beton, geht es voran – wie das Beispiel Irlands zeigt, das die üppigen Regionalmittel eben nicht in den Straßenbau, sondern in seine Schulen und Universitäten gesteckt hat.
Jahr für Jahr kritisieren Europas oberste Rechnungsprüfer den Haushalt der EU. Viel zu viel Geld wird unrechtmäßig verwendet, im Bereich der Regionalförderung dürften sogar zwölf Prozent der Mittel nicht ausbezahlt werden. Der Gemeinschaftshaushalt ist in hohem Maße betrugsanfällig, was mehrere Gründe hat. Erstens werden die Mittel aus der Brüsseler Kasse größtenteils als Subventionen ausbezahlt, und Subventionen verleiten nun einmal zum Betrug. Zweitens ist die Kommission dafür verantwortlich, dass der Haushalt korrekt ausgeführt wird, obwohl die Mitgliedsstaaten vier Fünftel des Geldes ausgeben. Diese geteilte Verantwortung führt letztlich dazu, dass niemand sich richtig verantwortlich fühlt – das fördert Missbrauch. Drittens macht die EU es Betrügern leicht, indem sie die Grenzen für Waren öffnet, zugleich aber die Verfolgung von Straftätern erschwert: Kontrollen und Ermittlung sind nach wie vor in nationaler Hand.
Wem gehört das Geld in der Brüsseler Kasse?
Von Reformen spricht die Kommission viel, die Ergebnisse sind jedoch mager. Längst ist offensichtlich, dass die derzeitige Ausgabenpolitik hoffnungslos anachronistisch ist. Nach dem heftigen Streit um den Haushaltsplan 2007 bis 2013 hatten die Länder zumindest zugestimmt, dass man über Reformen redet. Das Agrarbudget wurde einem „Gesundheitscheck“ unterzogen. Doch statt das marode System grundlegend zu therapieren, hat man nur ein bisschen an den Symptomen herumgedoktert: Die Subventionen für Großbetriebe wurden gekürzt, die Milchquote soll irgendwann verschwinden. Bei der Regionalförderung hat man sich einen besonders genialen Trick einfallen lassen: Die Mittel für bedürftige Regionen müssen in Zukunft „lissabonkonform“ sein. Das heißt, sie müssen die Lissabon-Ziele von mehr Wachstum und Beschäftigung erfüllen. Das aber sind derart vage Vorgaben, dass sich damit fast jede Subvention rechtfertigen lässt.
Wem gehört das Geld in der Brüsseler Kasse? Das ist letztlich die Grundsatzfrage. Es ist „unser“ Geld – davon sind zumindest die EU-Länder überzeugt und wollen deshalb bestimmen, wie die Mittel ausgegeben werden. Sie pochen auf das Subsidiaritätsprinzip, wonach im Zweifel die Mitgliedsstaaten verantwortlich sind, und sagen: Wir wissen besser, wo das Geld gebraucht wird.
Es ist europäisches Geld, ist die Kommission dagegen überzeugt. Sie würde gerne stärker kontrollieren, wohin die Mittel fließen und ob sie richtig ausgegeben werden. Die EU steckt in einem Dilemma, das sich kaum auflösen lässt. Solange die Mitgliedsstaaten auf ihre eigenen Interessen schielen, wird die EU selten an einem Strang ziehen. Große Ziele – wie ein europäisches Satellitennavigationssystem – sind nur mit einem gewissen Maß an Zentralismus zu schaffen. Die Schulpolitik im föderalen Deutschland ist ein gutes Beispiel dafür: Erst als die rot-grüne Regierung den Ländern ein Ganztagsschulprogramm verordnete und Geld dafür spendierte, wurden mehr Schulen mit Nachmittagsbetreuung gebaut.
Letztlich wird man wohl nicht darum herumkommen, die Finanzen der EU völlig neu zu organisieren. Es wäre schon ein großer Fortschritt, wenn mehr Geld in Form günstiger Kredite und weniger Subventionen fließen würden. Darlehen schonen die öffentlichen Finanzen und stärken das Verantwortungsgefühl: Ein Unternehmer, der sich das Geld leihen muss, statt es einfach geschenkt zu bekommen, wird sorgsamer damit umgehen und keine falschen Abrechnungen nach Brüssel schicken. Viele Projekte, die jetzt aus der Regionalförderung bezahlt werden, könnten von Beihilfen auf Kredite umgestellt werden. Zum Beispiel wird derzeit viel Geld für die Wärmedämmung von Häusern in die neuen Mitgliedsstaaten gepumpt. Diese riesigen Renovierungsprojekte ließen sich ohne Weiteres auf Darlehensbasis finanzieren.
Als der belgische Ökonom André Sapir 2003 im Auftrag der Kommission Reformvorschläge vorlegte, war die politische Kaste in Brüssel für ein paar Wochen elektrisiert: Regionalhilfe sollte es nur noch für ganz arme Länder geben und die übrigen Mitgliedsstaaten sollten sich wieder selbst um ihre Bauern kümmern. Brüssel sollte Geld vornehmlich in Bildung und Forschung stecken und große strategische Projekte wie das Satellitensystem Galileo finanzieren. Realpolitisch sind Sapirs Vorschläge wegen der großen Beharrungskräfte bisher nicht in die Tat umzusetzen. Doch vermutlich wird man einen solchen radikalen Schnitt brauchen, um aus dem Automatismus von purer Umverteilung auszubrechen. Finanzieren ließe sich die Regionalhilfe für bedürftige Mitgliedsstaaten über einen Netto-Fonds: Jedes EU-Land würde nur noch die Summe nach Brüssel überweisen, die der Differenz zwischen dem Beitrag und dem Rückfluss – dem Nettobetrag der EU-Mittel also – entspräche. Das wäre eine Art europäischer Länderfinanzausgleich.
In der Hauptstadt der Lobbyisten
Viele Experten sind auch dafür, den EU-Haushalt ganz anders zu alimentieren. Eine eigene Steuer könnte die Kommission unabhängiger von den Mitgliedsstaaten machen. Die Abgabe, die entweder auf Tabak, Alkohol oder die eingenommene Mehrwertsteuer erhoben würde, flösse direkt in die Brüsseler Kasse. Bisher finanziert sich die EU aus einer komplizierten Mischung aus Zolleinnahmen sowie einer prozentualen Abgabe vom Bruttonationalprodukt und Mehrwertsteuern ihrer 27 Mitglieder. Diverse Ausnahmen wie der „Briten-Rabatt“ macht das System der Einnahmen nicht gerade übersichtlicher. Würde sich die EU dagegen einzig aus einer eigenen Steuer finanzieren, wären die Einnahmen transparent und jeder Steuerzahler wüsste, wie viel die EU ihn kostet. Der Druck, ordentlich zu wirtschaften wäre größer, denn die Öffentlichkeit würde sofort bemerken, wenn Regierungen, Kommission und Parlament die Steuer erhöhten.
Die EU-Politik ist so kompliziert geworden, dass viele Menschen sie nicht mehr durchschauen und – Grund Nummer drei für die Glaubwürdigkeitskrise – ihr prinzipiell misstrauen. In Brüssel regieren, anders als die Exekutive und Legislative eines Nationalstaates, Kommission und Parlament gemeinsam mit dem Rat der Regierungschefs. Das macht das Geflecht der Akteure und ihrer Interessen ungleich komplizierter, zumal inzwischen 27 Mitglieder mitreden. Es ist daher nicht überraschend, dass Brüssel als Hauptstadt der Lobbyisten gilt, schätzungsweise 15.000 Interessenvertreter tummeln sich dort. Lobbyismus gehört zur Politik, es ist selbstverständlich und bis zu einem gewissen Grad auch legitim, dass Unternehmen, Bürgerinitiativen oder Berufsverbände versuchen, Einfluss auf jene zu nehmen, die die Gesetze machen. Doch in Brüssel scheint der Lobbyismus der öffentlichen Kontrolle entglitten zu sein, zumal es keine europäischen Medien gibt, die der dortigen Polit-Kaste auf die Finger schaut. Die komplizierte EU-Politik ermöglicht es Lobbyisten zudem, vielfältig Einfluss zu nehmen: Sie können bei den Generaldirektionen der Kommission ansetzen, wo Gesetzentwürfe geschrieben werden. Sie können Parlamentarier vor einer Abstimmung beeinflussen. Schließlich bleibt ihnen noch der Weg über den Ministerrat, der das letzte Wort hat.
Die Kommission nutzt den Sachverstand von Lobbyisten gerne: Diese informieren die EU-Beamten direkt oder sitzen als Experten in den vielen tausend Komitees, die an der Ausarbeitung von Verordnungen beteiligt sind. Das Ungleichgewicht der Interessen ist frappierend: Industrie und Wirtschaft sind ungleich stärker vertreten als gesellschaftliche Gruppen, welche das Wohl von Umwelt und Verbrauchern verfolgen. Vor allem die Autoindustrie nutzt ihre Machtposition gnadenlos aus. Höchst diskret sorgte sie dafür, dass unsinnige Quoten für Biosprit beschlossen wurden, obwohl der alternative Treibstoff nur dazu diente, weiterhin Autos mit hohem Kohlendioxid-Ausstoß zu bauen. Und bevor das EU-Parlament im Herbst 2008 über strengere Kohlendioxid-Richtwerte abstimmte, sahen sich die Abgeordneten einem wahren Trommelfeuer der Auto-Lobbyisten ausgesetzt.
Nur sehr zögerlich schaffen die EU-Institutionen mehr Transparenz: Das Parlament hat schärfere Regeln für Lobbyisten beschlossen, und in Zukunft soll man zurückverfolgen können, wer in welchem Stadium eines Gesetzgebungsverfahrens Einfluss genommen hat. Doch es bleiben immer noch jede Menge Schlupflöcher: Anwaltskanzleien müssen die Namen ihrer Mandanten nicht offenlegen und können so verheimlichen, wessen Interessen sie im Parlament vertreten. Die Kommission hat ein neues Lobby-Register geschaffen, aber das ist freiwillig: Wer nicht mag, muss sich als Lobbyist nicht eintragen. Echte Transparenz sieht anders aus.
Familienmitglieder als Bürohilfen
Brüsseler Beamte sind mit Sicherheit nicht korrupter als die anderer Verwaltungen. Dennoch muss die Kommission besonders transparent wirtschaften, transparenter als Regierungen oder Behörden von Mitgliedsstaaten, damit sie das Vertrauen der Bürger zurückgewinnt. Die Art und Weise wie die Kommission mit ihren Kritikern wie dem niederländischen Abgeordneten Paul van Buitenen umgegangen ist, der die Korruptionsfälle der früheren Forschungskommissarin Edith Cresson mit aufdeckte, lässt jedenfalls nicht darauf schließen, dass ihr Offenheit besonders wichtig ist. Auch das Parlament brauchte lange, um offensichtliche Missstände zu beseitigen: Da wurden Familienmitglieder als Bürokräfte beschäftigt, Nebentätigkeiten nicht deklariert, Mitarbeiterpauschalen falsch verwendet, Reise- und Bürokosten flossen in private Kassen. Erst spät verschärften die Parlamentarier die Regeln, als sei es eine lästige Notwendigkeit, korrekt zu wirtschaften.
Korrupte Beamte und nachlässige Abgeordnete aufzuspüren, gehört zu den Aufgaben des Amtes für Betrugsbekämpfung OLAF. Dort gehen jedes Jahr mehr Hinweise auf Fehlverhalten und Misswirtschaft in den Institutionen und den Mitgliedsstaaten ein. Das muss nicht notwendigerweise heißen, dass Betrug in der EU zunimmt – es kann auch bedeuten, dass OLAFs Bekanntheit wächst oder dass das Bewusstsein steigt, dass Fehlverhalten der Europäischen Union schadet.
Noch bremsen die Mitgliedsstaaten die Kommission aus: Eigentlich sind sie nach den EU-Verträgen verpflichtet, die Mittel aus Brüssel ordentlich zu verwalten. Doch oft genug dulden sie Schlamperei, melden Betrugsfälle nicht fristgerecht oder gar nicht nach Brüssel und fordern die EU-Mittel nicht konsequent zurück: Wenn es um Geld aus der Gemeinschaftskasse geht, handeln die Nationalstaaten überraschend lax. Die Kommission, die dafür verantwortlich ist, dass der Haushalt korrekt ausgeführt und kontrolliert wird, hat ihrerseits gar nicht die Mittel und die Leute, um vor Ort zu prüfen. Sie muss sich auf die Kontrollen der Mitgliedsstaaten verlassen.
Die Anti-Betrugsbehörde OLAF, die eigentlich der Wachhund der Kommission sein soll, wird an der kurzen Leine gehalten. Das Amt ist nicht wirklich unabhängig, sondern der Kommission unterstellt, was die Verfolgung von Betrug innerhalb der Kommission zu einer delikaten Angelegenheit macht. OLAF darf auch keine strafrechtlich relevanten Ermittlungen führen, das dürfen nur nationale Behörden, solange es keine echte europäische Polizei gibt. OLAF kann also, wenn Betrug in mehreren Mitgliedsstaaten vorkommt, nur koordinieren und ist dabei auf das Wohlwollen der Behörden vor Ort angewiesen. Deshalb ist im Vertrag von Lissabon das Amt eines europäischen Staatsanwaltes vorgesehen, der sowohl den Betrug innerhalb der EU-Institutionen effektiver verfolgen als auch grenzüberschreitend Ermittlungen anordnen könnte.
Betrugsbekämpfung ist nicht ein Ziel an sich, sondern Mittel zum Zweck. Die EU muss Betrug effizient bekämpfen, damit möglichst wenig Geld aus dem gemeinsamen Haushalt verloren geht. Weitaus wichtiger ist jedoch das Signal an die Bürger, dass Europa gut regiert wird. Denn wenn die Menschen die EU für betrügerisch halten, dann besteht die Gefahr, dass sie den Glauben an die Union verlieren. Korruption gibt es zweifelsohne überall: Auch eine Stadtverwaltung ist dagegen nicht gefeit, Vorteilsnahme und Lobbyismus kommen in der Staatskanzlei eines Bundeslandes oder im Bundestag ebenfalls vor. Im Unterschied zur EU jedoch ist das Vertrauen in diese Institutionen gefestigt, es lässt sich nicht so leicht erschüttern. Von EU-Kommission und Europäischem Parlament dagegen wissen viele Menschen wenig, EU-Politik ist bisher eine große Unbekannte geblieben und Brüssel gilt als schwer durchschaubarer bürokratischer Dschungel.
Wie Europa aus der Krise kommt
Betrug zulasten der Europäischen Union liegt in der Natur der Gemeinschaft, so hat es der britische Politikwissenschaftler und Experte für organisiertes Verbrechen Bill Tupman einmal drastisch formuliert. Als Gründe für die systemische Schwäche wären zu nennen: eine höchst komplizierte, intransparente Politik von Einnahmen und Ausgaben sowie die Struktur der Union mit ihrer Verflechtung von Kompetenzen. Schlimmer noch: Es besteht ein regelrechter Interessenkonflikt zwischen Kommission und Mitgliedsstaaten. Die Kommission hat ein großes Interesse daran, dass Missbrauch von EU-Mitteln aufgedeckt wird, doch sie hat gar nicht die Möglichkeiten, den Betrug vor Ort aufzuspüren. Anders die Mitgliedsstaaten: Sie haben die Mittel, doch ihr Interesse ist gering. Es ist schon schizophren: EU-Gegner werfen der Gemeinschaft vor, Geld zu verschleudern und korrupt zu sein. Zugleich sind es oft sie selbst, die eine stärkere Integration – etwa in Form einer besseren Zusammenarbeit der Polizei und Justiz – verhindern. Fast könnte man meinen, dass den Euroskeptikern der Betrug willkommen ist – wie das Öl, das das Feuer der Kritik an der EU am Brennen hält.
Damit Europa aus der Krise kommt, braucht es erstens wieder glaubwürdige nationale Politiker. Politiker, die europäisch denken, statt nur in Brüssel den großen Europäer zu spielen und daheim auf die Eurokraten zu schimpfen. Zweitens müssen die Mitgliedsstaaten eine glaubwürdige Finanzpolitik betreiben. EU-Mittel mit der Gießkanne zu verteilen, nur damit man zuhause mit einer neuen Straße punkten kann, ist nicht im Interesse Europas. Im Grunde sollte die Union nur noch große, grenzüberschreitende Vorhaben finanzieren, die tatsächlich einen europäischen Mehrwert haben, nicht aber zahllose, nationale Projekte. Drittens muss Brüsseler Politik transparenter werden, mit sauberen Regeln für Lobbyisten, Kommissionsbeamte und Abgeordnete.