So scheitert die Energiewende
Wenn es jemand schafft, dann Deutschland. Dieser Satz war in den vergangenen Monaten häufig zu hören. Wenn jemand die Energiewende schafft, dann sind es Deutschlands Politiker und Ingenieure. In dieser Aussage schwingen Skepsis und Bewunderung gleichermaßen mit. Skepsis über Deutschlands abrupten Kurswechsel nach der Atomkatastrophe von Fukushima, Bewunderung über das Know-how, vielleicht auch über die Entschlossenheit, mit der das Land ein neues Energiezeitalter einläuten will.
Doch schafft es Deutschland? Der Glaube an die Energiewende ist stark, und in wenigen politischen Fragen sind die Deutschen so gläubig wie beim Solar- und Atomstrom. Sie glauben zum Beispiel, dass Solarzellen einen Großteil des Strombedarfs decken können. Sie glauben, dass Atomkraftwerke gefährlich sind. Sie glauben, dass erneuerbare Energiequellen immer dezentral sind. Sie glauben, dass eine „Ethik-Kommission“ innerhalb eines Monat ausloten kann, wie sich ein knappes Drittel des Stroms binnen zehn Jahren klimafreundlich substituieren lässt. Sie glauben, dass allein ihr Land auf dem richtigen Weg ist.
Dass neben Ethik und Moral bei der Stromerzeugung auch noch Physik, das Wetter und die Netze einen Einfluss haben, dringe erst langsam in das Bewusstsein ein, höhnte unlängst Matthias Kurth, bis vor kurzem Chef der Bundesnetzagentur, in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Ein Jahr nach dem panischen Ausstieg aus der Atomkraft wirkt die deutsche Energiepolitik wenig durchdacht und strategisch, sondern vor allem: dilettantisch.
Ohne kluge Politik wird es nichts
Kann die Energiewende – deren wesentlicher Baustein eine noch immer übertriebene Förderung teuren Solarstroms ist – überhaupt gelingen? Das kommt auf den Zeithorizont an. Kurzfristig gesehen, also über das vergangene und aktuelle Jahr betrachtet, ist die Energiewende gescheitert. Langfristig, in einigen Jahrzehnten, kann sie sicher gelingen. Und mittelfristig? Das ist noch offen – und wird davon abhängen, wie klug die Politik agiert.
Doch erst einmal zeigt sich die Energiewende von ihrer schmutzigen Seite: Im Jahr 2011 wurden wegen der Abschaltung der acht alten Atommeiler gut drei Prozent mehr Braunkohle verfeuert als im Vorjahr. Der Anteil der besonders klimaschädlichen Braunkohle an der Stromversorgung stieg damit auf etwa ein Viertel, während der Anteil aller anderen fossilen Energieträger zurückging. Mit jeder Kilowattstunde Strom aus Braunkohle aber gelangen 1.000 bis 1.300 Gramm Kohlendioxid in die Atmosphäre, das ist ein Viertel mehr als bei Steinkohle und drei Mal so viel wie bei Gas. Was nach Schätzungen der Arbeitsgruppe Energiebilanzen, einer Einrichtung energiewirtschaftlicher Verbände und Forschungsinstitute, dazu führte, dass 2011 die Kohlendioxid-Emissionen um nur 3,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zurückgingen, während der Primärenergieverbrauch um 5,3 Prozent sank.
Die Genugtuung darüber, dass trotz der schnellen Atom-Abschaltung Blackouts ausblieben und Deutschland an einigen kalten Tagen sogar Strom in das Kernenergieland Frankreich ausführte, war groß. Was gerne übersehen wurde: In der Zeit von April bis Dezember 2011, also nach der ersten Ausstiegsstufe, importierte Deutschland mehr Strom aus Frankreich als es dorthin exportierte. Der Bedarf an französischen (Atom-)Strom bestand also durchaus. Auch kommt Deutschland nicht ohne das europäische Netz aus. Denn wenn hierzulande viel Windstrom produziert wird, muss dieser wegen der knappen Leitungskapazitäten von Nord nach Süd über Umwege in den Niederlanden, Polen oder Tschechien in den Süden geleitet werden. Ohne Europa können die Schwankungen, die wegen Deutschlands Ausstiegs heftiger geworden sind, nicht ausgeglichen werden.
Ein Jahr nach Fukushima deutet wenig darauf hin, dass die Politiker die Weichen richtig und konsequent gestellt hätten. Weder hält der Ausbau der Netze Schritt mit dem Ausbau der Erneuerbaren, noch entstehen ausreichend Ersatzkraftwerke und Speicheranlagen – obwohl bereits 2015 die nächsten Atomkraftwerke vom Netz gehen. Umwelt- und Wirtschaftsminister rangeln um Kompetenzen in Fragen der Solarförderung oder der Energieeffizienz. In dem Tohuwabohu wird der Ruf nach einem Projektmanager für die Energiewende oder gar einem Energieminister lauter. Doch ein neuer Posten allein wird die enormen Probleme nicht lösen, die der schnelle Atomausstieg und das Umsteuern auf erneuerbare Energien verursacht. Fünf große Baustellen haben sich aufgetan.
Erstens das milliardenschwere Erbe einer stümperhaften Förderpolitik. Viel zu lange und viel zu massiv ist die Solarenergie gefördert worden – allein im Jahr 2011 sind 8,1 Milliarden Euro an Subventionen für Photovoltaik geflossen. Nach Schätzungen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung werden sich bis Ende 2012 die staatlichen Mittel für Photovoltaik auf annähernd 100 Milliarden Euro summiert haben. Dabei wird die Photovoltaik dann schätzungsweise vier Prozent zur Stromversorgung beitragen. Die Photovoltaik kassiert fast 60 Prozent aller Fördermittel, trägt aber nur mit 20 Prozent zu den Erneuerbaren bei. Solarstrom ist viermal so teuer wie Windstrom, der an Land erzeugt wurde. Zwar kürzte die Bundesregierung Anfang 2012 die Subventionen, ging jedoch so stümperhaft vor, dass sie damit noch eine Jahresendrallye provozierte: Allein die 2011 installierten Anlagen werden die Stromkunden in den kommenden Jahren 18 Milliarden Euro an Subventionen kosten.
Für neue Leitungen fehlt das Geld
Zweitens der schleppende Netzausbau. Im Energieleitungsausbaugesetz von 2009 sind 1.800 Kilometer neuer, besonders dringlicher Leitungen benannt, die bis 2015 hochgezogen werden müssten, vor allem um die Leistung der Windparks in Ost- und Nordsee aufzunehmen. Ökostrom ist eben nicht nur dezentral, sondern wird auch in großen Parks erzeugt. Bisher aber sind gerade einmal 200 Kilometer gebaut worden. Von den 24 Projekten verzögern sich nach Aussagen der Bundesnetzagentur zwölf, was an mangelndem Personal in den Genehmigungsbehörden liegt, am Widerstand der Bürger, an Engpässen in der Anlagentechnik. Nun verspricht die Bundesnetzagentur „Transparenz“ – wenn der Ausbau schon nicht klappt, soll zumindest jeder wissen, woran es liegt.
Dass der Netzausbau gründlich schief läuft, zeigt das Beispiel des niederländischen Netzbetreibers Tennet, der an der deutschen Küste dafür sorgen soll, dass die Windparks angeschlossen werden. Anfang des Jahres gab Tennet bekannt, er habe die veranschlagten 15 Milliarden Euro für die Anbindung der Offshore-Anlagen nicht. Damit verzögern sich mehrere Projekte – und der Plan, bis 2020 insgesamt 13 Gigawatt Windleistung vor den Küsten Deutschlands installiert zu haben, gerät in Gefahr. Tennet fordert nun, dass der Bund die Kosten auf die vier größten Netzbetreiber umlegen soll. Neben den Hochspannungsleitungen müssen aber auch Tausende Kilometer an gewöhnlichen Leitungen gebaut werden, um den grünen Strom, der fernab der Städte erzeugt wird, ins Netz einzuspeisen.
Die dritte Baustelle ist die mangelnde Kraftwerkskapazität. Ohne neue Kraftwerke wird die Energiewende nicht gelingen. Zum einen wird man Grundlastkraftwerke brauchen, um die wegfallenden Atommeiler zu ersetzen. Vor allem im Süden wird man Anlagen bauen müssen, um die Versorgung zu sichern und das Netz stabil zu halten. Man wird außerdem kleinere Gaskraftwerke brauchen, um die Schwankungen des Ökostroms auszugleichen. Doch derzeit mag niemand Gaskraftwerke bauen, denn ihr Betrieb rechnet sich wegen des hohen Gaspreises kaum und schon gar nicht dann, wenn sie nur als Reserve am Netz hängen. Die Regierung wird sich deshalb überlegen müssen, ob sie – wie in manchen anderen Ländern üblich – Prämien zahlt, um den Kraftwerksbetreibern Bau und Unterhalt der Reservemeiler schmackhaft zu machen.
Erneuerbare Energie ist launisch
Viertens werden sich die fehlenden Speicherkapazitäten mittelfristig auswirken, wenn noch mehr Ökostrom als bisher ins Netz fließt. Erneuerbare Quellen sind launisch, von der Biomasse abgesehen, aus der Strom rund um die Uhr hergestellt werden kann. Die Sonne scheint nur tagsüber und im Winter seltener als im Sommer, der Wind bläst mal schwach, mal kräftig. Ökostrom braucht daher Stromspeicher. Heute gibt es nur gut zwei Dutzend Pumpspeicherkraftwerke mit einer Kapazität von insgesamt 6,6 Gigawatt – das heißt, alle zusammen könnten im besten Fall die Leistung eines großen Windrades aufnehmen. Die Idee, auf Norwegen auszuweichen, ist zwar bestechend, funktioniert aber auch nur, wenn es ausreichend Hochspannungsleitungen durch die Nordsee gibt. Eine andere Möglichkeit besteht darin, Strom in Wasserstoff oder Methan umzuwandeln und in dieser Form zu speichern. Die Technik ist zwar in Laboren und Versuchsanlagen erprobt, nicht jedoch im großtechnischen Maßstab.
Die fünfte Baustelle der Energiewende ist die Energieeffizienz. Sparen ist die einfachste Möglichkeit, Ressourcen und das Klima zu schonen – daher hat die EU sich auch zum Ziel gesetzt, bis 2020 eine um 20 Prozent höhere Energieeffizienz zu erreichen. Doch in Deutschland streiten Umwelt- und Wirtschaftsminister über den Weg dorthin. Wenn Industrie und Bürger so halbherzig wie bisher zum Sparen angehalten werden, werde man nur zehn Prozent schaffen, warnte unlängst der deutsche EU-Energiekommissar. Günther Oettinger stellt Deutschland ein schlechtes Zeugnis aus. Nur mit Freiwilligkeit gehe es nicht, sagt Oettinger, den man nun wirklich nicht als Sozialisten bezeichnen kann. Wer ehrgeizige Ziele für die Umwelt erreichen wolle, könne nicht nur auf die reine Marktwirtschaft setzen. Zudem treibt der Trend zum Single-Haushalt, zu größeren Wohnungen und zur Unterhaltungselektronik den Stromverbrauch nach oben. Gleichzeitig sind die Anreize zu gering, Häuser energetisch zu sanieren oder Industrieanlagen bezüglich ihres Stromverbrauchs zu optimieren.
Der Wirtschaftsminister hat es nicht verstanden
Wer wie der Bundeswirtschaftsminister gegen vermeintlichen Dirigismus agitiert, hat die drei Ziele einer vernünftigen Energiepolitik nicht richtig verstanden. Strom und Wärme müssen bezahlbar sein, was übrigens nicht billig bedeutet. Sie sollten verlässlich zur Verfügung stehen und möglichst umweltfreundlich produziert werden. Weder die Energiesicherheit noch der Klimaschutz lassen sich mit rein marktwirtschaftlichen Instrumenten erreichen; eine erfolgreiche Energiewende muss die Gesetze der Marktwirtschaft teilweise außer Kraft setzen. Wichtig ist jedoch, dass die staatlichen Eingriffe so gering und kosteneffizient wie möglich sind. Die Solarförderung dagegen, mit der eine dezentrale Versorgung aufgebaut werden sollte, ist ein Beispiel dafür, wie Wunschdenken sich auswirkt, wenn es von der Wirklichkeit eingeholt wird.
Angesichts der vielen Baustellen und der vielen Widersprüchlichkeiten der deutschen Energiepolitik muss man bezweifeln, ob Deutschland als ein Vorbild für Europa taugt. Dass die Energiewende auch geräuschloser und billiger ablaufen kann, zeigt das Beispiel Dänemark. Sicher, das Land ist klein und überdies mit der relativ billigen Ökoquelle Wind gesegnet – da tut man sich leichter, bis 2050 die Energieversorgung auf Erneuerbare umzustellen. Aber die Regierung in Kopenhagen schafft es, die Bürger zum Energiesparen anzuhalten und fossile Quellen konsequent zu beschneiden. Zum Beispiel dürfen von 2013 an keine Öl- und Gasheizungen mehr in neue Gebäude eingebaut werden, wenn es wirtschaftlich vertretbare Alternativen gibt. Zudem wird die Subventionspolitik regelmäßig auch auf ihre Kosten überprüft und nachjustiert.
Bei der Energiewende stößt Deutschland zudem an seine nationalen Grenzen, wie das Beispiel des finanziell überforderten Netzbetreibers Tennet zeigt. Dabei müsste nicht jeder Nordseepark aufwändig mit dem Festland verbunden sein. Es wäre auch möglich, die Parks zu vernetzen und eine gemeinsame Leitung ans Festnetz zu legen. Doch die Energiepolitik ist – trotz des gemeinsamen Binnenmarktes für Strom und Gas – eine weitgehend nationale Angelegenheit geblieben. Dabei ist eine Ökostromförderung, die an den Landesgrenzen Halt macht, wenig sinnvoll: Statt Solarenergie in Deutschland zu fördern, sollte die Bundesregierung lieber griechische Solarparks oder solarthermische Kraftwerke auf Sizilien und in Nordafrika unterstützen. Doch selbst wenn Deutschland sich dazu durchringen kann, bilden die Netze den Flaschenhals. Der Stromaustausch zwischen Nord- und Südeuropa funktioniert nicht richtig, Europa wird von einem Flickenteppich regionaler Netze überzogen.
Kann die Energiewende dennoch gelingen? Ja, wenn Deutschland sich in Zukunft mehr von Pragmatismus als von Emotionen leiten lässt. Und wenn die drei Bedingungen einer guten Energiepolitik – Kosten, Umwelt- und Klimaschutz sowie Versorgungssicherheit – immer gemeinsam berücksichtigt werden. Es ist jedenfalls höchste Zeit, den Blick von den heimischen Solardächern zu lösen und die drängenden Probleme der Energiewende anzugehen. Sonst taugt Deutschland nicht zum Vorbild.