Barrierefreiheit und vorsorgender Sozialstaat
Noch immer lassen Gesetzgeber und Verwaltungen in Gebäuden oder Verkehrsmitteln Barrieren bestehen – oder errichten sogar neue: So werden auch heute noch neue Schulen gebaut, die für Kinder mit Behinderungen nicht zugänglich sind; diese Kinder werden in Sonderschulen abgeschoben. Auch alten Menschen ist es häufig nicht möglich, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Anstelle gemeindenahen Wohnens und Lebens heißt die Endstation vielfach Altenheim.
In Deutschland leben rund 8,4 Millionen Menschen mit Behinderung. Das ist jeder zehnte Bundesbürger. Der Bremer Entwurf für das neue SPD-Grundsatzprogramm fordert die umfassende Teilhabe behinderter Menschen und benennt die entscheidende Prämisse: „Voraussetzung hierfür ist die Barrierefreiheit in allen Lebensfeldern, damit Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt leben können.“ Aus dem im Gleichbehandlungsgesetz von 2006 verbrieften Schutz vor Diskriminierung und jeder Art von Sonderlösungen ergibt sich das Leitbild der Barrierefreiheit. Dazu heißt es im Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen aus dem Jahr 2002: „Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände ... sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.“ Was bedeutet das konkret?
1. „Gestaltete Lebensbereiche“: Eine Felswand oder ein Sandstrand sind natürliche Lebensbereiche. Sobald jedoch Menschen dort etwas bauen, können sie für Barrierefreiheit sorgen. Die Seilbahn oder der Bootssteg können allen Menschen zugänglich sein – oder eben nicht. Nicht nur Gebäude und Wege, sondern auch Fahrkartenautomaten und Internetseiten müssen für alle erreich- und bedienbar sein. Eine weitere praktische Verwirklichung von Barrierefreiheit besteht in der Übertragung von Gesetzen, Verordnungen und Formularen in eine einfache, wenig komplexe Sprache.
2. „Zugänglich“: Das bedeutet mehr als erreichbar! So wichtig stufenlose Zugänge zu Gebäuden sind – die Kommunikation mit Ämtern, Verwaltungen und Gerichten muss auch für sinnesbehinderte Menschen möglich sein.
3. „In allgemein üblicher Weise“: Dabei geht es um eine sublime Ebene der Diskriminierung. Beispielsweise wurden Rollstuhlfahrer bei der Deutschen Bahn bis vor wenigen Jahren im Gepäckwagen befördert. Auch heute ist für viele Menschen mit Behinderungen der Eintritt in öffentliche Dienststellen, aber auch in Museen und Restaurants durch den Hintereingang eine gängige Praxis. Das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen sieht zwar barrierefreie Neubauten „des Bundes und seiner Anstalten, Körperschaften etc.“ vor. Der wichtige Bereich privater Gebäude muss jedoch ebenfalls beachtet werden.
4. „Ohne besondere Erschwernis“: Wenn der Besuch im Einwohnermeldeamt oder die Reise mit dem ICE eigens angemeldet werden muss, liegt eine besonders stigmatisierende Form der Einschränkung vor.
5. „Grundsätzlich ohne fremde Hilfe“: Wenn Reisende – nach vorheriger Anmeldung – von mehreren Helfern aus dem Rollstuhl in den Zug und dann wieder in den Rollstuhl gehoben werden müssen, ist dies demütigend, aber auch umständlich und unzuverlässig. Sind die Helfer im richtigen Moment am richtigen Ort? Gibt es genügend personelle Ressourcen für die Hilfeleistung, oder wird diese je nach Verfügbarkeit gewährt? Barrierefreiheit bedeutet die Benutzung von Gebäuden, Geräten oder auch Software aus eigenen Kräften; dann sind alle Menschen souverän Handelnde und nicht Objekte fürsorglicher Bemühungen. Barrierefreiheit kann auch bedeuten, die notwendigen Hilfsmittel oder Assistenzpersonen mitnehmen und einsetzen zu dürfen.
Eher unterschwellig als offenkundig geistert folgende Meinung durch die Debatten um die Barrierefreiheit: „Nur für eine kleine Randgruppe werden mit hohem Aufwand behindertengerechte Kindergärten, Finanzämter, Schwimmbäder und Kinos errichtet.“ Wer so denkt, ignoriert nicht nur den großen Anteil behinderter Menschen an der Gesamtbevölkerung, sondern hat obendrein auch eine verengte Vorstellung von Behinderung. Wie viele Menschen sind auf eine Arztpraxis angewiesen, die sich eben nicht in der fünften Etage eines aufzuglosen Altbaus befindet? Eine gut erreichbare, schwellenfrei zugängliche Praxis ist kein überflüssiger Luxus für Wenige, sondern sollte selbstverständliches Merkmal einer barrierefreien Lebenswelt sein. Denn sie dient zahlreichen Zielgruppen: alten Menschen, Bewegungseingeschränkten, Müttern mit Kinderwagen, der Schülerin mit gebrochenem Bein – und eines Tages wohl auch jenen, die die Notwendigkeit (oder besser: die Selbstverständlichkeit) barrierefreien Bauens ignorieren und mit dem Hinweis auf Kosten, Umstände, Denkmalschutz alles so belassen wollen, wie es ist.
Wichtig ist umfassende Barrierefreiheit. Leider gibt es noch immer viel zu viele so genannter Insellösungen. So ist Menschen mit eingeschränkter Mobilität nicht damit gedient, die S-Bahn nutzen zu können, wenn sie beim Umsteigen in die U-Bahn an einer Treppe scheitern. Die Verwirklichung ausnahmsloser „Schwellenfreiheit“ ist der einzig zielführende Weg zum vorsorgenden Sozialstaat, der gleichberechtigte Teilhabe als Startbedingung für alle gewährleisten soll.
Manche „Behinderung“ löst sich in Luft auf, wenn die betreffende Person nicht mehr davon abgehalten wird, einen normalen Alltag zu leben. Es muss gelingen, umfassende Barrierefreiheit zur Regel zu machen – in den Köpfen, in Gesetzen, beim politischen Handeln und auf der „Benutzer-oberfläche“ unserer Gesellschaft. Erst dann wird das sozialpolitische Leitbild des neuen Grundsatzprogramms gelebter Alltag.