Bei Nacht sind alle Katzen Rau

"Modernisierer", "Traditionalisten" und andere künstliche Gegensätze

Über das rechte Verständnis vom Links-Sein zu streiten, gehörte und gehört zu den spezifischen Arbeitsfeldern deutscher Sozialdemokraten. In den langen Jahren der Oppositionszeit nach 1982 kam dieser Tätigkeit sogar eine nahezu beschäftigungstherapeutische Bedeutung zu: Wer nichts zu sagen hat, spricht eben besonders gerne über sich selbst.


Die Gewohnheit zur Nabelschau und die Gewohnheit, diesen Nabel bisweilen für den Nabel der Welt zu halten, ist gewiss eine der größten Hypotheken der SPD als Regierungspartei. Hinzu kommt, dass zwischen dem Machtverlust 1982 und der gewonnenen Bundestagswahl 1998 nicht irgendwelche anderthalb Jahrzehnte, sondern Zeiten historischer Umbrüche liegen.


Dass die SPD mit der Herausforderung dieses doppelten Wandels - dem der eigenen Rolle und dem in der Welt - noch ihre Schwierigkeiten hat, zeigt sich nicht zuletzt in der Debatte über "Modernisierer" und "Traditionalisten": Wenn schon die Wirklichkeit komplexer ist, als man sie gerne hätte, dann - bitte schön - möge doch wenigstens innerhalb der SPD ein klares Weltbild herrschen: Da ist zum einen der wendige Modernisierer, der prinzipienlos die wirtschaftlichen Erfordernisse des Marktes in den Mittelpunkt stellt. Und da ist zum anderen der grundsatzfeste Traditionalist, die Armen im Blick, die Reichen im Griff.


Beide Bilder sind Zerrbilder. Das in ihnen Ausdruck findende Denken spiegelt nicht zuletzt die Sehnsucht nach einer Eindeutigkeit, die global mit dem Verschwinden von Bipolarität und Dualismus verloren gegangen ist.


Wissenschaftlich am deutlichsten hat wohl der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman gezeigt, dass die Modernisierung der Moderne den Verzicht auf den Traum von der Eindeutigkeit erfordert und stattdessen das Denken in Ambivalenzen und Balancen bedingt.


Mit anderen Worten: Es ist ein grundlegendes kulturelles Umdenken von den groben Gegensätzen zu den feinen Unterscheidungen erforderlich, auch wenn diese manchem noch wie Abstufungen von Grautönen statt des gewohnten Schwarz-Weiss erscheinen mögen. Tatsächlich bedeutet die "Verringerung der Kontraste" eine "Vergrößerung der Spielarten" (Norbert Elias), ein weites Farbenspektrum, viele Zwischentöne und ist ein Zeichen für Zivilisierungsprozesse.


Aber wo bleibt dann Politik als Kampf und Zuspitzung im grauen und rauhen Regierungs- und Parlamentsalltag? Was die differenziertere Politik kann, wird sehr schnell deutlich, wenn man den groben Polaritäten wirklich zu Leibe rückt, zum Beispiel: Links und Rechts, Globalisierung und Nationalstaat, Inländer und Ausländer, Innen- und Außenpolitik, Mehrheits- und Minderheitsthemen, Innovation und soziale Gerechtigkeit, "Modernisierer" und "Traditionalisten".


Ein Beispiel: Arbeitsmarktpolitik gilt als Mehrheitsthema, Migrationspolitik als Minderheitsthema, obschon beide Themen Wahlen entscheiden können. Die Niederlande, wiewohl eine viel kleinere Staatsgesellschaft als die deutsche, zeigen nicht achselzuckend auf den Prozess der Globalisierung, sondern setzen auf diesen beiden Feldern (wie auch bei der ökologischen Querschnittsplanung) soziale Innovationen für soziale Gerechtigkeit ins Werk, um so besser in der sich nach "außen" wie nach "innen" globalisierenden Welt bestehen zu
können, insbesondere hinsichtlich der Folgen für Bevölkerungszusammensetzung und Mentalitäten.


Trotz Schwächen bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze konnten die Niederländer seit der Vereinbarung von Wassenaar durch Verringerung von Arbeitskosten und Arbeitszeit sowie massiv durchgesetzte Teilzeitarbeit einen Wirtschaftsboom und eine Arbeitslosenquote von unter fünf Prozent erreichen. Das war weder rechts noch links, aber gut für die, die keine Arbeit hatten und deren Investitionen in sich selbst ihnen und der ganzen Gesellschaft verloren zu gehen drohten.


Die verringerte Arbeitslosigkeit erhöht zugleich die Integrationschancen für Einwanderer, zumal der Umgang mit diesen von großem Pragmatismus gekennzeichnet ist: Die Tatsache stattfindender Einwanderung wird über die Parteigrenzen hinweg anerkannt. Sie wird weder dämonisiert noch idealisiert, was dazu geführt hat, dass man sich auf umfassende (und übrigens nicht ganz billige) Integrationsmaßnahmen zu einigen vermochte.


Von diesem Grad an Konsens ist die Bundesrepublik noch weit entfernt, weil wir gewohnt sind, nahezu jede Frage ideologisch zu befrachten und zur Glaubensfrage zu erheben. Arbeitsmarkt- und Migrationspolitik nach solchen Modellen waren nicht zufällig beide in Deutschland vor dem Regierungswechsel ganz, sind aber seitdem noch immer halb blockiert. Sie stehen beide für die neue, anti-polare Polarität, für eine Politik der Inklusion statt Exklusion. Diese generelle Strategie und die beiden hier exemplarisch verwendeten Themenfelder haben daher einen zentralen Stellenwert in einer radikal-demokratischen Politik des dritten Weges, wie sie Anthony Giddens skizziert hat.


Zwischen Globalisierung und Nationalstaat entwirft er ein ambivalentes Programm nationaler kosmopolitischer Identitäten. Deutschland sieht er als wichtigsten Testfall, "weil das Land seinen Multikulturalismus bisher immer offiziell abgestritten hat". Und er fährt fort: "Um Vorreiter einer kosmopolitischen Identität sein zu können, muss nicht nur das Staatsangehörigkeitsrecht verändert werden, sondern auch ein grundlegendes kulturelles Umdenken einsetzen". Der unbequemste und sensibelste Lackmustest dafür ist in der Tat der Umgang mit sogenannten Fremden. Der Test ist fast schon bestanden, wenn man versteht, dass es bei Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik um den Kern der eigenen politischen Kultur und nicht um ein Randthema geht. Um genauso viel wie bei Ein- oder Ausschluss auf dem Arbeitsmarkt.


Die SPD hat gegenwärtig die große Chance, einen Beitrag zur Entideologisierung der deutschen Politik zu leisten. Dafür muss sie zunächst einige Scheuklappen ablegen, um ihr Wahrnehmungsfeld zu vergrößern.


Das fängt damit an, der Diskussion über Mittel die Verständigung über Ziele voranzustellen: Kein Sozialdemokrat etwa muss beim Gedanken an eine Steuerreform, die zu einer Unternehmensentlastung führt, allergisch reagieren, wenn damit dem Ziel eines Beschäftigungszuwachses gedient wird.


Wie alte und gültige Ziele mit wirklichkeitstauglichen Mitteln erreicht werden können, diese Debatte wird die SPD führen und aushalten müssen. Am Ende dieses nicht einfachen, aber notwendigen Prozesses wird entweder eine gefestigte und mehrheitsfähige Partei stehen oder eine Partei, die sich strukturell dauerhaft in eine Oppositionsrolle begibt.
Der Verlauf des Bundesparteitages vom Dezember 1999 lässt darauf schließen, dass die SPD dabei ist, das zu begreifen. Sie muss nicht nur ihren vielfach noch oppositionellen Habitus ablegen, sondern auch ihre oft ideologisch geprägten Konzepte kritisch überprüfen.


Die Debatte über "Modernisierer" und "Traditionalisten" ist völlig überflüssig, weil sie eine Phantomdebatte ist. Letztlich, mal ehrlich, wollen doch alle sein wie Johannes Rau: Ein wenig predigerhaft, ziemlich pragmatisch - und sehr beliebt.

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