Besorgnis ist angebracht
Es scheint, dass in Ungarn eine Schicksalswahl mit völlig veränderten Vorzeichen stattgefunden hat: Die seit acht Jahren regierenden Sozialisten haben mit ihren mageren 19,3 Prozent der Stimmen einen herben Schlag ins Kontor und vielleicht den endgültigen Glaubwürdigkeitsverlust erlebt. Für Fidesz und Jobbik hingegen ist die Wahl eine historische Bestätigung. Es ist offenkundig, dass die Sozialisten ihr Wahlergebnis selbst verschuldet haben. In einer internen Sitzung im Mai 2006 hatte der damalige sozialistische Ministerpräsident, Ferenc Gyurcsány, für einen neuen Kurs der Ehrlichkeit und des Sparens geworben. Dabei gab er auf vulgäre Weise zu: „Wir haben beschissen und gelogen, morgens, tagsüber und abends! Wir haben es versaut!“ Ja, das haben sie. Diese „Lügenrede“ wurde im Herbst desselben Jahres öffentlich bekannt. Sie führte zu von Hass und Aggressivität geprägten Massenprotesten und in der Folge zu einem dramatischen Ansehensverlust der Politiker in der Bevölkerung. Die von den konkurrierenden politischen Eliten inszenierte Zweiteilung des Landes entlang der politischen Links-Rechts-Achse, zwischen Sozialisten und Konservativen, war nun vollendet, der Grundstein für den Rechtsextremismus gelegt.
Diese neue Frontlinie hat der dramatische Rechtsruck dieser Wahl sogar noch verhärtet. Die mit einem eigenen paramilitärischen Arm ausgestattete Jobbik wird ihre Kräfte im demokratischen Umfeld des Parlaments neu sammeln. Indes hat sich die Fidesz den Status einer Volkspartei nun wohl endgültig gesichert. Sie wird versuchen, als Catch-all-Partei des rechten Lagers die Jobbik zu integrieren. Wahrscheinlich wird sie sich auch weiterhin nur sanft von den Neofaschisten distanzieren, anstatt sie harsch zu verurteilen, wie es für eine wehrhafte Demokratie notwendig wäre. Aber auf kommunaler Ebene koalierten Fidesz und Jobbik bereits miteinander, etwa von 2006 bis 2009 in der Stadt Székesfehérvár. Auch die Jobbik wird umgekehrt versuchen, der Fidesz Wähler wegzulocken. Fest steht: Eine neonationalsozialistische Kraft wie die Jobbik ist nicht einfach wegzufegen, besonders da sie mit Parolen wie „Versklavung der Nation“ und „Weg mit der Zigeunerkrimininalität“ beängstigenden Widerhall in der Bevölkerung erfährt. Die dramatische wirtschaftliche Situation mag lange Zeit über die konfliktbeladene innenpolitische Krise des Landes hinweggetäuscht haben. Spätestens jetzt müssten die Alarmglocken der demokratischen Kräfte schrillen.
Die Leute wollen den Hass nicht mehr
Große Teile der desillusionierten Bevölkerung sehnen sich nach einem Wechsel, nach einem Ende des hasserfüllten politischen Klimas und der unversöhnlichen Frontstellung, die als Nebenprodukt die Rechtsextremisten hervorgebracht hat. Das Land verlangt nach einer ehrlichen und verlässlichen politischen Führung, doch zugleich ist die ungarische Gesellschaft der Machtkämpfe der politischen Elite müde geworden und zeigt sich kraftlos – sogar beim Gang zur Wahlurne. Die vergangenen Jahre waren aufgrund der allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Situation des Landes von einer schweren seelischen Krise der Gesellschaft und einem allgemeinen Verlust von Vertrauen in politische Lösungskompetenz gekennzeichnet. Viele „flohen“ ins Ausland. Aufgabe der neuen Regierung muss es – auch im Sinne des eigenen Wahlprogramms „Politik der Nation“ – sein, den jungen, hoch qualifizierten Kosmopoliten eine Perspektive in der Heimat aufzuzeigen und auch die „Auswanderer“ aus den Arbeitermilieus zur Rückkehr anzuspornen.
Kann Orbán mehr als nur blockieren?
Fidesz steht vor der paradoxen Situation, bisher von ihr blockierte aber notwendige gesundheits-, bildungs- und sozialpolitische Reformen nun selbst in die Hand nehmen zu müssen. Gerade sie, die sich per Referendum zum Anwalt des Volkes machte, als die Sozialisten Gesundheitsreformen durchpeitschen wollten, wird nun an ihrem Handeln gemessen werden. Die politische Spitze muss sich endlich den Realitäten stellen. Kann die neue Regierung, die eine neue politische Ära, sogar ein neues Zeitalter mit Lösungen für alle innenpolitischen Probleme verspricht, dieser Verantwortung auch nur ansatzweise gerecht werden?
Viktor Orbán, fest in der Europäischen Volkspartei in Brüssel verankert, steht auch europapolitisch in der Verantwortung, zumal Ungarn zum 1. Januar 2011 die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen wird. Kann er es sich da leisten, als Ministerpräsident eine nationalistische Kampagne vom Zaun zu brechen wie 2001, als er eine doppelte Staatsbürgerschaft für die Auslandsungarn forderte? In der ersten Pressekonferenz nach dem Wahlsieg grüßte Orbán sowohl die Ungarn als auch die Auslandsungarn. Gerade dieses sensible, vom Ausland kaum verstandene Thema lenkt den Blick auf tiefe Wunden der Vergangenheit, die dem Rechtsextremismus einen solchen Zulauf verschaffen.
Die schnelle Konsolidierung der ungarischen Demokratie wird auf eine harte Probe gestellt. Das Problem der Roma-Minderheit, die sich dem Hass der Mehrheitsbevölkerung ausgesetzt sieht, scheint in absehbarer Zeit nicht lösbar zu sein. Im Gegenteil: Die Situation der Roma hat sich mit dem Zusammenbruch des Sozialismus noch verschlimmert. Die Roma-Hasser der Jobbik werden ab sofort auch im Parlament massiv gegen die ethnische Minderheit wirken und den ohnehin schon großen Gegensatz zwischen Mehrheitsbevölkerung und Roma verstärken. Und Fidesz muss sich den Vorwurf gefallen lassen, Vorurteilen gegenüber Roma und Juden zu wenig aufklärerisch entgegenzuwirken.
Besorgnis ist angebracht. Die bürgerkriegsähnlichen Zustände im Herbst 2006 nutzte Orbán allein für seine Zwecke, er delegitimierte das Parlament durch eigene Abwesenheit. Der neue, alte starke Mann Ungarns und besorgte Hüter seiner Autorität im rechten Parteienspektrum nimmt nun späte Rache an der ihm so verhassten Sozialistischen Partei, die ihn zuvor in zwei Wahlen überholt hatte. Die im Westen politisch wie wissenschaftlich sträflich inflationär gebrauchte Wendung von der gelungenen Transformation von der Diktatur zur liberalen Demokratie dürfte nach dieser Wahl im Falle Ungarns spürbar an Attraktivität verlieren. «