Bildungschancen für alle
Jahrzehntelang herrschte bei der Reform der Schulstruktur Stillstand. Die SPD bekannte sich zwar zur gemeinsamen Schule für alle, doch dies blieb ein Lippenbekenntnis ohne Konsequenzen. Nach der massiven bildungspolitischen Konfrontation um die Gesamtschule war das Thema Schulstruktur lange Zeit sogar ein Tabu. Erst seit 2005 kommt wieder Bewegung in die Sache: Schleswig-Holstein löst die Hauptschule auf, Hamburg und Rheinland-Pfalz bereiten die gesetzlichen Regelungen dafür vor. Spätestens mit der Entscheidung des SPD-Parteivorstandes dürften die Weichen wohl endgültig gestellt sein, auch wenn das Ende der Hauptschule in einigen CDU-geführten Ländern wohl noch etwas auf sich warten lassen wird.
Wie genau die Hauptschule abzuschaffen ist, hat der Parteivorstand der SPD hingegen nicht beschlossen. Dabei entscheidet diese Frage nicht nur über das Ausmaß an Chancengleichheit in der Schule, sondern auch über den Erfolg der Strukturreform selbst. Eine Klärung im Parteivorstand ist umso dringender, als sich die befürworteten Strategien stark unterscheiden und die Differenzen teilweise mit Heftigkeit ausgetragen werden. Vor allem aber sind einige der vorgeschlagenen Strategien höchst gefährlich - sowohl für die Durchsetzbarkeit einer Schulreform, als auch für die Mehrheitsfähigkeit der SPD.
Als Lösungswege bieten sich zwei Grundrichtungen mit jeweils zwei Varianten an. Diese unterscheiden sich darin, wie sie mehr Chancengleichheit erreichen wollen, inwieweit sie politisch durchsetzbar sind und welche Chancen sie für eine künftige gemeinsame Schule für alle bieten.
Erstens könnten an die Stelle der Dreigliedrigkeit mit Hauptschule, Realschule und Gymnasium alle Schulen der Sekundarstufe I durch Gesamtschulen ersetzt werden. Dabei kann die Gesamtschule die Schüler weitgehend integriert (Lösungsweg 1) oder kooperativ, also mit einer auf unterschiedliche Abschlüsse bezogene Differenzierung unterrichten (Lösungsweg 2).
Zweitens könnten lediglich die Haupt- und Realschulen durch eine neue Schulform ersetzt werden. Das Gymnasium bliebe bestehen. So entstünde entweder die ungleiche Zweigliedrigkeit, deren nicht-gymnasiale Form grundsätzlich nur bis zum mittleren Abschluss führen würde und die ich im Folgenden Regionalschule nenne (Lösungsweg 3), oder es käme zur gleichberechtigten Zweigliedrigkeit, in der die nicht-gymnasiale Schulform eine eigene gymnasiale Oberstufe führen würde, die im folgenden als Gemeinschaftsschule bezeichnet wird (Lösungsweg 4).
* Lösungsweg 1: Integrierte Gesamtschule für alle. Die Forderung nach einer integrierten Gesamtschule ab dem fünften Schuljahr hat Anhänger in allen linken Parteien, in den Gewerkschaften, vor allem in der Lehrergewerkschaft GEW, sowie in der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule und in einer Vielzahl von Initiativen.
Die SPD hat die Forderung nach einer gemeinsamen Schule für alle weder auf Bundes- noch auf Landesebene in ein Regierungsprogramm aufgenommen. In Hamburg versuchte eine Volksinitiative "Hamburg braucht eine Schule für alle" im Jahr 2007 eine Volksabstimmung zur generellen Einführung der integrierten Gesamtschule herbeizuführen, die 2011 für alle Schüler der Klassenstufe 5 beginnen sollte. Die Initiative trugen neben der GEW auch andere Gewerkschafter sowie Mitglieder linker Parteien. Sie fand aber keine Unterstützung der SPD-Gremien, nach der Regierungsbildung auch nicht bei den Grünen und scheiterte überdies schon an der zweiten Hürde: der Einschreibung von 5 Prozent der Wahlberechtigten.
Schwächere fördern, Stärkere motivieren
Sicher ist die größtmögliche Chancengleichheit nur mit der integrierten Gesamtschule zu erreichen. Doch deren Verwirklichung könnte derzeit niemals erfolgreich sein - weder pädagogisch, noch gesellschaftlich, noch politisch. Pädagogisch würde sie an der Ablehnung - ja sogar am Widerstand - beachtlicher Teile der Gymnasial-, aber auch der Realschullehrschaft scheitern. Gesellschaftlich misslingt eine solche Radikalstrategie an den breiten Vorbehalten gegen die gemeinsame Erziehung für alle unter der Anhängerschaft von Realschulen und Gymnasien. Diese Gruppe verfügt über beachtliche Fähigkeiten, die Öffentlichkeit und die Medien zu mobilisieren, Parteien und Fraktionen zu beeinflussen sowie juristische Mittel auszuschöpfen.
Schließlich ist diese Fundamentalstrategie auch politisch eine Illusion. Denn die bürgerlichen Parteien werden eine solche Reform in absehbarer Zeit in keinem Fall mittragen, zumindest nicht, wenn sie an der Regierung sind. In der Opposition würden sie den gesellschaftlichen Widerstand aufgreifen, die bildungspolitische Konfrontation suchen und alle politischen und juristischen Mittel zur Verhinderung der Radikalstrategie nutzen. Schließlich lassen sich mit dem Kampfbegriff "Einheitsschule" weiterhin Mehrheiten gegen eine gemeinsame Schule für alle gewinnen. Nicht nur würde die Strukturreform scheitern, auch würde die SPD ihre Wahlchancen reduzieren.
* Lösungsweg 2: Integrierte wie kooperative Gesamtschule für alle. Der Landesparteitag der SPD in Nordrhein-Westfalen hat im Jahr 2007 beschlossen, die Hauptschule, die Realschule und das Gymnasium in eine gemeinsame Schule für alle umzuwandeln, wahlweise in integrierter oder in kooperativer Form.
Die kooperative Gesamtschule könnte gewiss mehr Bildungschancen verwirklichen als das traditionelle Schulsystem, aber mit der Aufteilung der Schüler auf abschlussbezogene Klassen wäre der Effekt nicht besonders groß. Zumindest fiele er geringer aus, als wenn neben dem Gymnasium Gemeinschaftsschulen errichtet würden. Die Hoffnung, dass sich kooperative Gesamtschulen nach einiger Zeit von sich aus in integrierte Gesamtschulen umwandeln oder zumindest umwandeln wollen, ist trügerisch, wie (nicht nur) das Beispiel Hessen zeigt. Außerdem wäre der gesellschaftliche und politische Widerstand gegen die Durchsetzung der kooperativen Gesamtschule kaum geringer als gegenüber der integrierten Gesamtschule, weil die Öffentlichkeit unterstellen würde, dass die Befürworter dieses Modells heimlich die Umwandlung der kooperativen in die integrierte Gesamtschule beabsichtigen.
* Lösungsweg 3: Ungleiche Zweigliedrigkeit - Gymnasium plus Regionalschule ohne Oberstufe. Mittlerweile ist die ungleiche Zweigliedrigkeit in allen neuen Bundesländern sowie im Saarland eingeführt worden. Zwar verbessert die Regionalschule die Bildungschancen bisheriger Hauptschüler auf einen mittleren Abschluss, nicht aber die Chance für Haupt- wie für Realschüler auf das Abitur.
Auch lässt sich die ungleiche Zweigliedrigkeit in den alten Bundesländern kaum durchsetzen. Denn in den Realschulen verstehen die Lehrer und Eltern die Integration als Abstieg und befürchten, das bisherige Leistungsniveau in der Realschule könnte absinken. Sie würden gegen eine solche Reform gesellschaftlich und politisch zu mobilisieren versuchen. Ohne eine Große Koalition scheint ihre Verwirklichung aussichtslos.
Erosion der Regionalschule?
Außerdem würde der steigende Bildungswille der Eltern zu einer Erosion der Regionalschule führen - ein Trend, der sich in den Ländern zeigt, die das Modell eingeführt haben: Dort wird die Sekundarschule gegenüber dem Gymnasium diskriminiert. Die Regionalschule wird ihre Schüler auch nicht im nötigen Umfang fördern und ermutigen können, in die gymnasiale Oberstufe überzugehen, obwohl wir einen stetig steigenden Bedarf nach mehr Abiturienten und Hochschulabsolventen haben.
* Lösungsweg 4: Gleichberechtigte Zweigliedrigkeit. Derzeit führt Schleswig-Holstein die gleichberechtigte Zweigliedrigkeit ein. In Rheinland-Pfalz und Hamburg laufen entsprechende Gesetzgebungsverfahren, in Bremen hat die SPD einen Beschluss zu einer vergleichbaren Schulentwicklung gefasst und die Bürgerschaft einen Fachausschuss zur Schulentwicklung eingerichtet. In Berlin hat der Bildungssenator ebenfalls entsprechende Eckpunkte vorgelegt.
Bei der gleichberechtigten Zweigliedrigkeit fördert die Gemeinschaftsschule nicht nur die Schwächeren, sondern versucht - auch aus Interesse an einer eigenen Oberstufe - möglichst viele Schüler zu befähigen und zu motivieren, in die gymnasiale Oberstufe zu wechseln und die Hochschulreife zu erwerben.
Auch die Einführung der gleichberechtigten Zweigliedrigkeit kann bei der Gesetzgebung auf Widerstand stoßen, aber dieser ist überwindbar. Denn während die ungleiche Zweigliedrigkeit von der Realschul-Klientel als Abwertung und Erschwerung ihrer Arbeit gesehen wird, kann die gleichberechtigte Zweigliedrigkeit mit potenziell eigener Oberstufe als Aufwertung verstanden werden. So hat sich in Schleswig-Holstein der Landeselternbeirat der Realschulen schon im Gesetzgebungsverfahren für die Gemeinschaftsschule ausgesprochen. Das Aktionsbündnis des Realschul-Lehrerverbandes und der FDP, das einen Volksentscheid gegen das Schulgesetz überlegte, ist steckengeblieben. Die Anzahl der Gemeinschaftsschulen übertrifft bei Weitem die der Regionalschulen. Im nächsten Schuljahr wird es in Schleswig-Holstein mehr Gemeinschaftsschulen als Gymnasien geben. Die gleichberechtigte Zweigliedrigkeit ist also durchsetzbar und bringt mehr Chancengleichheit für bisherige Hauptschüler wie für Realschüler gleichermaßen.
Durch die gleichberechtigte Zweigliedrigkeit verbessern sich zudem die Chancen für eine gemeinsame Schule für alle. Allerdings entsteht diese nicht automatisch, sondern bedarf später einer erneuten politischen Entscheidung. Aber die bisherigen Vorurteile gegenüber allen Schulformen und Schülern jenseits des Gymnasiums würden abgebaut, wenn die Gemeinschaftsschule häufiger und regional ausgeglichener angeboten wird als das Gymnasium und sie möglichst viele Schüler erfolgreich zur Hochschulreife führt.
Mithin ist die einzig überzeugende Strategie zur Abschaffung der Hauptschule die Durchsetzung der gleichberechtigten Zweigliedrigkeit mit einer Gemeinschaftsschule, die möglichst ohne äußere Leistungsdifferenzierung auskommt, alle Abschlüsse anbietet und über eine eigene gymnasiale Oberstufe verfügt.